Ukraine-Krieg: Stunde der falschen Erzählungen

Ruinen des internationalen Flughafens Donezk Sergej Prokofjew, 24. Dezember 2014. Bild: Правда ДНР, CC BY 3.0

Kriegszeiten sind Zeiten der Demagogie. Das gilt auch für den russischen Krieg gegen die Ukraine. Und zwar für alle Seiten

Nicht ohne Grund lautet ein bekanntes Sprichwort: "Das erste Opfer in einem Krieg ist immer die Wahrheit!" Denn Kriegszeiten sind Zeiten der Desinformation, der falschen Erzählungen, der verdrehten Worte, aus denen sich propagandistisches und politisches Kapital schlagen lässt. Vulgo: Zeiten der Lüge. Und zwar auf allen Seiten.

"Genozid"

Kommen wir zunächst zur Seite des Aggressors. Hier fährt der russische Präsident Wladimir Putin die härtesten politischen Geschütze auf, die die russische Propaganda im Angebot hat. Im Donbass soll angeblich ein "Genozid" an der dortigen russischen oder mit Russland sympathisierenden Bevölkerung – ja, was eigentlich? – beendet oder wenigstens verhindert werden. Ziel des "Militäroperation" genannten russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist es, laut Putin, diese zu "entnazifizieren und entmilitarisieren".

An diesen Formulierungen stimmt am ehesten noch das letzte Wort. Ansonsten ist alles falsch.

Leider muss man dem russischen Präsidenten gegenüber fairerweise einräumen, dass zumindest der Missbrauch des Wortes "Genozid" nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Der Westen hat ihm auch hier – wie bei seiner gesamten "Regime Change-Operation" in der Ukraine – bereits vor Jahrzehnten eine Steilvorlage geliefert:

Im unsäglichen Auschwitzvergleich, mit dem der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer seiner Partei, Bündnis 90/ Die Grünen, im Frühjahr 1999 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien schmackhaft gemacht hatte.

Unternimmt man die etwas zynisch anmutende Gedankenoperation, die Begriffe "Kriegsopfer", "Massaker" und "Genozid" auf einer Ordinalskala mit fließenden Übergängen anzuordnen, so lässt sich folgendes konstatieren: In jedem Krieg kommen Menschen, in der überwiegenden Mehrzahl Zivilisten, ums Leben: Kriegsopfer, mal als sogenannte "Kollateralschäden" – ebenfalls eine originär westliche Wortkreation – billigend in Kauf genommen, mal als Terrorakte zur Einschüchterung der Bevölkerung von den Tätern bewusst intendiert.

"Massaker" sind Aktionen punktueller Massenmorde, wie sie etwa die Einsatzgruppen der SS 1942/43 im Rahmen des sogenannten "Antipartisanenkampfes" in hunderten weißrussischen Dörfern oder US-amerikanische GIs im vietnamesischen My Lai verübten. Selbst die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki könnten wohl noch unter diesem Begriff subsumiert werden.

Beim Begriff "Genozid" liegt die Messlatte allerdings sehr hoch. Immerhin geht es hier definitionsgemäß um die Ausrottung – oder jedenfalls deren Versuch – eines ganzen Volkes bzw. einer Volksgruppe oder, wie man heute eher sagen würde, einer gesamten Ethnie.

Hiervon könnten, sofern sie dazu noch in der Lage wären, etwa die US-amerikanischen Ureinwohner nahezu sämtlicher Stämme, die Hereros in Namibia, die Armenier im Osmanischen Reich und die europäischen Juden ein infernalisches Lied singen.

Bezogen auf den Donbass steht OSZE-Angaben zufolge fest, dass der Krieg, den die Kiewer Zentralmacht, Seit an Seit mit rechtsextremen Freikorpsverbänden, seit April 2014 (!) gegen die von Russland klandestin oder offen unterstützten Rebellenrepubliken Donezk und Luhansk führt, mittlerweile um die 14.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Die meisten von ihnen Zivilisten, und zwar in den Rebellengebieten.1 Auszuschließen ist, wie bei allen Kriegen, ebenfalls nicht, dass es hierbei auch zu lokalen Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen sein mag.

Ein schreckliches Massaker an der russischstämmigen ukrainischen Bevölkerung steht jedenfalls zweifelsfrei fest: Das Massaker in Odessa vom 2. Mai 2014, bei dem ‚prorussische Demonstranten‘ von militanten ‚pro Maidan-Demonstranten‘ in das dortige Gewerkschaftsgebäude getrieben wurden, das anschließend in Brand gesetzt wurde. Mindestens 50 ‚prorussische Demonstranten‘ kamen bei dieser "Aktion" ums Leben, die meisten verbrannten lebendigen Leibes oder erstickten, andere stürzten sich aus den Fenstern in den Tod, während Ukrainer draußen das Gebäude abriegelten.

Bis heute sind weder die näheren Umstände offiziell aufgeklärt, noch die Täter zur Rechenschaft gezogen. In der westlichen Berichterstattung war von diesem Massaker, wenn überhaupt, bestenfalls am Rande die Rede.

Lässt sich aus alledem folgern, im Donbass habe ein "Genozid" stattgefunden oder dieser habe zumindest für den Fall einer Rückeroberung durch die Kiewer Zentralgewalt gedroht?

Auch wenn im letzteren Falle schreckliche Massaker an der Zivilbevölkerung, nicht zuletzt durch ultranationalistische Paramilitärs, nicht auszuschließen gewesen wären, halte ich den Begriff "Genozid" hier für entschieden zu hoch gegriffen. (Einzuräumen ist allerdings, dass die etwas unscharfe völkerrechtliche Definition des Begriffes "Genozid" zum Missbrauch förmlich einlädt!)

Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass dieser Begriff von russischer Seite bereits im Sommer 2008 bemüht wurde, als georgische Truppen die abtrünnige Region Südossetien angegriffen hatten. Der georgische Angriff hatte damals 162 Menschen2 der südossetischen Bevölkerung das Leben gekostet, was aber bei allem Kriegsleid den Begriff "Genozid" keineswegs rechtfertigt.

Entnazifizieren

Neben einer "Entmilitarisierung" des Landes und der Beendigung bzw. Verhinderung eines angeblichen "Genozids", ist laut Putin das Ziel der russischen Aggression gegen die Ukraine, diese zu "entnazifizieren". Insbesondere die Regierung um den gegenwärtigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat er mehrfach als eine "Bande von Drogenabhängigen, Neonazis und Terroristen"4 bezeichnet. – Was ist von diesem Vorwurf zu halten?

Zweifellos spielten bei dem gewaltsamen Umsturz vom 22. Februar 2014 auf dem Kiewer Euromaidan bewaffnete ultranationalistische Gruppierungen aus der Westukraine eine entscheidende – möglicherweise die entscheidende – Rolle. Und in der postwendend verfassungswidrig installierten Umsturzregierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk – das von der Verfassung für die Absetzung eines Präsidenten vorgeschriebene Quorum wurde verfehlt und der auch nach westlichen Standards demokratisch gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch war unter dem Druck der Ereignisse geflohen – befanden sich drei Minister mit rechtsextremem Hintergrund.

Dennoch war die russische Bezeichnung der "Kiewer faschistischen Putsch-Junta" propagandistisch überzogen. (In Russland weiß man sehr genau, dass man die Legitimation der eigenen Bevölkerung für noch so fragwürdige Militäreinsätze am ehesten erhält, wenn diese sich gegen tatsächliche oder angebliche Faschisten richten.)

Der gegenwärtige ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj ist jedenfalls demokratisch gewählt und definitiv kein Nazi. Ihm die Legitimation abzusprechen, weil im Februar 2014 ein Putsch verübt wurde – er also ein indirekter Erbe dieses gewaltsamen Umsturzes ist –, wäre von derselben schrägen Logik, wie wenn man die Legitimität der Präsidentschaft Wladimir Putins ausgerechnet mit dem Argument infrage stellen würde, dass sein Vorgänger Boris Jelzin im Herbst 1993 ja das eigene Parlament beschossen habe!

Nach wie vor gibt es vor allem in der Westukraine, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Bandera-Tradition, ultrarechte Gruppierungen, die auch mit der Naziideologie sympathisieren. Analoge Gruppierungen gibt es allerdings auch in Russland. Aber eine externe Militäraggression wäre in beiden Fällen das denkbar ungeeigneteste Mittel, sie aus der Welt zu schaffen.