Ukraine-Krieg: Warum wir einen "Aufstand für den Frieden" brauchen

Seite 2: Was wären die Folgen eines möglichen begrenzten Atomkriegs?

Die IPPNW hat kürzlich einen 27-seitigen Bericht mit vielen eindrucksvollen Abbildungen und instruktiven Tabellen mit dem Titel "Nukleare Hungersnot" veröffentlicht.

Seit Anfang der 1980er-Jahre ist bekannt, dass ein großer umfassender Atomkrieg zwischen den beiden atomaren Großmächten die moderne Zivilisation zerstören, einen "Nuklearen Winter" auslösen und wahrscheinlich den größten Teil aller Menschen oder die gesamte Menschheit auslöschen könnte.

Aber was ist mit einem "begrenzten" Atomkrieg, der nur in einer Region der Erde wie z. B. in der Ukraine oder Asien stattfindet oder bei dem bloß ein kleiner Teil des weltweiten Arsenals zum Einsatz kommt?

Der neue IPPNW-Bericht fasst die jüngsten wissenschaftlichen Studien zusammen, die zeigen, dass sich ein sogenannter "begrenzter" oder "regionaler" Atomkrieg weder begrenzt noch sich nur regional auswirken würde. Ganz im Gegenteil, er hätte Auswirkungen auf den gesamten Planeten.

Die beiden Atom-Großmächte verfügen, wie zuvor erwähnt, jeweils über circa 6.000 Atomsprengköpfe. Von denen sind ca. 1.000 ständig "on alert", d. h. im Alarmzustand und könnten kurzzeitig zum Einsatz kommen.

Auch wenn bei einem Krieg nur drei Prozent, d. h., weniger als ein Zwanzigstel der weltweiten Atomwaffen, detonieren würde, kämen das Klima, die globalen Nahrungsmittelketten und wahrscheinlich die öffentliche Ordnung zum Erliegen. Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen, kämen in der Folge durch Hungersnöte und Unruhen ums Leben.

Denn in einem Atomkrieg käme es durch auf Städte und Industriegebiete abgeworfene Bomben zu Feuerstürmen, und das würde riesige Mengen an Ruß in die Atmosphäre befördern, die sich dann rasch verbreiten und den Planeten abkühlen würden, heißt es in dem IPPNW-Bericht.

"Manifest für den Frieden"

Auch wenn es zu einigen Fragen im Kontext des Ukraine-Krieges unterschiedliche Meinungen in der IPPNW geben mag, so ist mein Eindruck aufgrund meiner Kontakte und der Teilnahme an zwei zentralen Online-Veranstaltungen unserer Organisation, dass die große Mehrzahl der IPPNW-Mitglieder dafür eintritt, dass dieser Krieg so schnell wie möglich durch eine Verhandlungslösung zwischen den Beteiligten, und das sind Russland, die Ukraine und die USA, beendet werden muss, und dass weitere Waffenlieferungen das Sterben und die Zerstörungen in der Ukraine nur verlängern können.

Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass bei dem im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichten "Manifest für den Frieden" von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht neben vielen prominenten VertreterInnen aus Kultur und Wissenschaft wie der evangelischen Theologin Margot Käßmann auch Angelika Claußen, IPPNW-Vizepräsidentin Europa, zum Kreis der Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner gehört hat.

Das "Manifest für den Frieden" mit inzwischen etwa 850.000 Unterschriften (Juni 2023) hat der bisher schweigende Hälfte der Bevölkerung eine Stimme gegeben, denn die Mehrheit unserer Bevölkerung fürchtet laut einer neueren Umfrage von Infratest dimap vom März 2023 eine Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem dritten Weltkrieg, ja sogar zum Atomkrieg.

Schlussbemerkungen

Die Tatsache, dass das oben genannte "Manifest für den Frieden" eine so breite Unterstützung erhalten hat, ist ermutigend und könnte bedeuten, dass trotz der herrschenden allseitigen Kriegspropaganda in unseren Leitmedien ein Umdenken in größeren Teilen unserer Bevölkerung begonnen hat. Das wäre eine Voraussetzung dafür, dass es erneut, wie damals in den 1980er-Jahren, auch in unserem Land zu einem "Aufstand für den Frieden" kommen könnte.

Ich habe in der letzten Zeit eine Reihe von Artikeln über die Auswirkungen eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen im Ukraine-Krieg veröffentlicht. Zu den dort beschriebenen Szenarien, die zur Auslösung eines Atomkriegs führen könnten, gehört aber auch, dass nicht nur absichtlich, sondern jederzeit durch einen Zufall, z. B. einen Computerfehler oder einen Unfall, ein Atomkrieg ausgelöst werden könnte.

Dabei handelt es sich um die sogenannten "atomaren Beinahe-Unfälle" (English: nuclear close calls). Die im Internet veröffentlichte Liste dieser Beinahe-Unfälle zeigt, dass seit den 1950er-Jahren bis Anfang der 1990er-Jahre insgesamt mindestens 16 Vorfälle dieser Art registriert worden sind, die einen Atomkrieg hätten auslösen können.

Im Mittelpunkt des wohl bekanntesten dieser atomaren Beinahe-Unfälle steht Stanislaw Petrow. Am 26. September 1983 stufte er als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom Überwachungssystem gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR nicht als einen Alarm ein, wie das System es anzeigte und die Auslösung eines schnellen Gegenschlags erforderlich gemacht hätte, sondern wertete ihn als Fehlalarm.

Später ergab sich, dass es sich tatsächlich um einen Fehlalarm gehandelt hatte, der durch einen Satelliten des sowjetischen Frühwarnsystems ausgelöst worden war. Eine fehlerhafte Software hatte einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstarts in den USA interpretiert.

Durch sein Eingreifen verhinderte Petrow damals wahrscheinlich das Auslösen eines umfassenden Atomkriegs mit strategischen Nuklearwaffen zwischen den USA und der Sowjetunion. Deshalb gibt es Bemühungen, den 26. September im Andenken an diesen "Weltretter", der 2017 in Moskau verstorben ist, in jedem Jahr als "Petrow-Tag" zu begehen.

Was kann man als Einzelner gegen die wachsende atomare Bedrohung tun? Natürlich nicht viel, aber ich habe die Hoffnung, dass die Aufklärung über die Folgen eines möglichen Atomkriegs zur Einsicht beitragen kann, dass es niemals zu dieser ultimativen Katastrophe kommen darf.

Hier sei mir noch der Hinweis gestattet, dass es viele wertvolle Materialien gibt, die bei dieser Aufklärungsarbeit nützliche Werkzeuge sein können. Einige Beispiele möchte ich noch anführen.

Dazu gehört die im Sommer 2022 von der IPPNW herausgegebene Broschüre mit dem Titel "Nukleare Hungersnot", über deren Inhalt ich schon kurz berichtet habe.

Weiterhin ist hier der eindrucksvolle britische Zeichentrickfilm "Wenn der Wind weht" aus dem Jahre 1986 zu nennen, der von einem alten Ehepaar auf dem Lande handelt, das einem Atomangriff ausgesetzt ist. Es ist ein sehr berührender Film über den Schrecken der Atombombe, aber auch über die Tatsache, dass es nach einem Atomkrieg für die betroffene Bevölkerung keine Hilfe gibt.

Da seit Beginn des Ukraine-Krieges der Einsatz von Atomwaffen in Europa wieder möglich ist, müsste es eigentlich die vordringlichste Aufgabe unserer Leitmedien sein, darüber die Bevölkerung sachgemäß zu unterrichten, wie das nach meiner Erinnerung Anfang der 1980er-Jahre wenigstens teilweise auch der Fall gewesen ist.

Das war ein wichtiger Grund dafür, dass damals ein Bewusstsein für die Gefahren eines Atomkriegs in der Öffentlichkeit geherrscht hat und Hunderttausende auf die Straße gegangen sind und gegen die Aufstellung der atomaren Mittelstrecken-Raketen in Deutschland protestiert haben.

Im Gegensatz dazu wird dieses Thema aber heute von den Leitmedien gemieden und mit wenigen Ausnahmen totgeschwiegen. Die Atomkriegsgefahren sind deshalb in der Öffentlichkeit nicht präsent und werden sogar von einigen Politikern, wenn sie darauf angesprochen werden, bagatellisiert und kleingeredet.

Deshalb war ich sehr gespannt auf den neuen Hollywood-Film "Oppenheimer". Dieser so groß angekündigte Blockbuster (Spieldauer von drei Stunden) über das Leben von Robert Oppenheimer und der Wissenschaftler, die in Los Alamos die Atombombe gebaut haben, hat in mich jedoch leider sehr enttäuscht.

In dem Film wird den Zuschauern keine Vorstellung vom Grauen des Einsatzes von Atombomben und der Schrecken eines Atomkriegs vermittelt, was ja bei dem Thema nahe gelegen hätte.

Mir scheint, dass dieser Aspekt auch sorgsam ausgespart worden ist, obwohl dessen Vermittlung angesichts der heutigen realen Atomkriegsgefahren notwendiger denn je wäre. Stattdessen ist "Oppenheimer" ein reiner Unterhaltungsfilm geworden.

Das war in den 1980er-Jahren ebenfalls anders. Ich denke da an den US-amerikanischen Film "The Day After" über die Auswirkungen eines Atomkriegs auf die USA, der damals in allen Kinos dort und auch bei uns gelaufen ist und der mit dazu beigetragen haben soll, dass der sog. INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) 1987 zwischen Reagan und Gorbatschow abgeschlossen worden ist.

Durch diesen Abrüstungsvertrag wurden in den Folgejahren etwa 80 Prozent aller Atomwaffen und Trägersysteme des USA und der Sowjetunion verschrottet. Leider ist dieser wichtigste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte 2019 von den USA ebenso gekündigt worden wie schon 2001 der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile Treaty) und auch weitere Abrüstungsverträge.

Auch diese Tatsachen weisen noch einmal nachdrücklich darauf hin, dass der Ukraine-Krieg für uns alle eine langfristige große Gefahr ist. Das hat Mearsheimer in seinem jüngsten Interview vom August 2023, das auch in deutscher Sprache vorliegt, noch einmal eindringlich zum Ausdruck gebracht.1

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein Zitat von Caitlin Johnstone, einer Australischen Journalistin, vorstellen, die die mutmaßliche geopolitische Situation, in der wir alle heute leben, gut auf den Punkt bringt:

Für jüngere Menschen ist es schwer zu verstehen, dass das gleiche nukleare Armageddon-Szenario, über das sich ihre Eltern und Großeltern früher Sorgen gemacht haben, immer noch existiert.

Wenn jedoch eine kritische Masse der Bevölkerung wirklich verstehen würde, dass ihr Leben aus keinem anderen Grund als der Bereitschaft des US-Imperiums, alles zu riskieren, um seine Hegemonie, d. h. seine weltweite Vorherrschaft auf dem Planeten, zu sichern, durch einen Atomkrieg bedroht ist, würde es für die Machthaber sofort schwieriger werden, mit ihr so umzugehen, wie sie es wollen.

Über den Autor: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de