Ukraine-Krieg: Was hinter der Welle russischer Luftangriffe steckt
Seite 2: Strategische Luftkampagne Russlands
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Dagegen hat Russland offenbar die lang antizipierte strategische Luftkampagne gestartet, an vier aufeinanderfolgenden Tagen, vom 30. Dezember bis zum 2. Januar, gab es in der ganzen Ukraine schwere Luftangriffe mit Raketen und Drohnen.
Neben Odessa, Charkow, Lwiw wurde hauptsächlich Kiew getroffen. Kiew gilt als die Stadt mit der besten Luftverteidigung im "kollektiven Westen". Es sollen sich rund ein Viertel aller europäischen Luftabwehrkomplexe dort befinden – und trotzdem gelang es russischen Raketen, durch den Schutzschirm zu gelangen.
Die neue Angriffswelle galt hauptsächlich der ukrainischen Rüstungsindustrie und den Luftabwehrkomplexen. Mehrere Rüstungswerke in Kiew sollen getroffen worden sein.
Die Idee der ukrainischen Verteidiger war es, möglichst in Kiew eine Rüstungsproduktion neu aufzubauen, unter dem Schutzschirm der dort konzentrierten Luftabwehr. Anhand der vorliegenden Videos von Einschlägen russischer Wirkmittel lässt sich schließen, dass dieses Vorhaben nur zum Teil gelungen ist.
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Es sollen auch mindestens 10 Hyperschallraketen vom Typ Kinschal eingesetzt worden sein. Kiew gibt an, alle Kinschals abgeschossen zu haben. Die Angabe ist höchst zweifelhaft, auch weil mindestens ein Video einen Einschlag einer Kinschal zeigt, weitere Videos zeigen brennende Fabrikhallen.
Die Videos sind zum Beispiel abrufbar auf dem Youtube-Kanal Military Summary oder auf dem oben verlinkten Blog simplicius76.
Die russischen Streitkräfte setzen eine neue Methodik ein zur Bekämpfung der gewählten Ziele: Anders als in vorigen Luftkampagnen werden ausgesuchte Ziele mit mehreren Raketen beschossen, sodass sich die Wahrscheinlichkeit eines Treffers deutlich erhöht.
Die Luftangriffe mit Raketen und Drohnen wurden in der Nacht vom 3. auf den 4. Januar fortgesetzt. Am Donnerstag, den 4. Januar, gab es Hinweise, wonach erstmals nordkoreanische ballistische Raketen, wahrscheinlich des Typs KN-23, eingesetzt worden sind.
Die USA bestätigten die Angaben. Es ist nicht bekannt, wie viele Raketen Nordkorea geliefert hat, eine südkoreanische Quelle spricht von mehreren Dutzend. Nordkorea hat vermutlich um die 900 ballistische Kurz- und Mittelstreckenraketen.
Besonders im Bereich der Mehrfachraketenwerfer (MLRS) ist das Land eine Supermacht. Es wird von 5500 MLRS-Systemen in der Hand des nordkoreanischen Militärs ausgegangen (siehe Bericht des Council on Foreign Relations). Erst vor einer Woche wies der Oberste Führer Nordkoreas, Kim Jong-un, laut internationalen Berichten, die Rüstungsindustrie an, sich auf einen Krieg vorzubereiten.
Als Reaktion auf die neusten Luftschläge möchte die Nato tausend Patriot-Raketen neu produzieren, unter anderem auf einer neuen Produktionslinie in Bayern, die aber erst noch eingerichtet werden muss. Das dauert realistisch betrachtet Jahre.
Tausend Patriot-Raketen entsprechen zum heutigen Stand etwa zwei US-Jahresproduktionen. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Japan der USA einige Dutzend Patriots liefern wird, weil die USA dringend Flugabwehrraketen benötigt.
Seit dem Angriff Israels auf Palästina sind die US-Basen im Nahen Osten ständigen Drohnen-Angriffen ausgesetzt. Zudem würde eine mögliche militärische Konfrontation im Jemen den Bedarf an Flugabwehr wahrscheinlich weiter erhöhen.
Einschätzung
Von Interesse muss die Fähigkeit Russlands sein, vorhandene Rüstungsgüter inkrementell zu verbessern, und das in hoher Geschwindigkeit: Russland adaptiert sehr schnell die Rückmeldungen vom Gefechtsfeld, und das gilt ebenfalls für andere Rüstungssektoren.
Auch vom Volumen her muss der Dezember aufhorchen lassen, denn mit angeblich über 600 zum Einsatz gebrachten Geran-2 setzt Russland neue Maßstäbe. Wie hier bereits mehrfach berichtet, hat Russland seine Industrie erfolgreich auf eine stärkere Produktion von Waffen und Munition umgestellt, was augenscheinlich zu entsprechend hohen Ausstoßmengen geführt hat.
Die Ukraine, Erfinderin der militärisch revolutionären FPV-Drohnen, die Russland kopiert hat, versucht nun ihrerseits, die Erfolge der russischen Geran-2 und Lancet zu kopieren.
Bisher ist ihr das nicht gelungen. Die neuesten, massiven Luftschläge der russischen Armee zielen, neben Einrichtungen zur Luftverteidigung, insbesondere auf die verbliebenen militärischen Produktions-Restkapazitäten ab.
Diese sind aber nach fast zwei Jahren Krieg bereits substanziell ausgeschaltet worden. Möchte die ukrainische Rüstungsindustrie die dringend benötigten hohen Ausstoßzahlen erreichen, so braucht sie dafür entsprechende Fabrikationskapazitäten, also Bauvolumina, Produktionshallen.
Selbst bei einem Fokus auf Dezentralität: In einer Scheune kann man keine hohen Produktionsraten erreichen, hier braucht es große Hallen. Diese sind aber zum einen durch russische Ortskräfte und zum anderen durch die immer besser werdende, russische Luft- und Satellitenaufklärung einsehbar.
Jeden Tag, jede Stunde und jede Minute muss die Ukraine im Abnutzungskampf gegen Russland einen fortwährenden Substanzverlust hinnehmen, der weder vom US-dominierten Westen noch von der ukrainischen Industrie ersetzt werden kann.
Ob es der Ukraine gelingt, in der gebotenen Kürze und unter ständigen Luftangriffen eine Rüstungsindustrie aufzubauen, die ihren Namen verdient, kann bezweifelt werden – auch angesichts der neuen Zielsetzung der russischen Luftkampagne.
Eine weitere schwere Hiobsbotschaft für die Ukraine muss die Lieferung von nordkoreanischen ballistischen Raketen an Russland sein. Nordkorea hat zwar nur rund 26 Millionen Einwohner. Es ist aber ein klassischer Militärstaat mit einer großen Rüstungsindustrie und entsprechend großen Arsenalen.
Redaktionelle Anmerkungen: Der Begriff "Kriegswirtschaft" wurde ersetzt.