Ukraine-Krieg: Wie baltische Staaten auf den totalen Sieg über Russland setzen

Die Außenminister von Estland, Marcus Tsahkna (l), von Lettland, Krišjānis Kariņš (m), und von Litauen, Gabrielius Landsbergis (r), bei einem Treffen im Hudson Institute in Washington D.C., am 25. März 2024. Bild: Hudson Institute, X

"Wir gewinnen, sie verlieren": Balten plädieren für maximale Kriegsziele. Sie wollen auch einen Nato-Beitritt der Ukraine. Was motiviert die Forderungen? Gastbeitrag.

Bei einem Treffen der drei baltischen Außenminister letzte Woche plädierte man dafür, die maximalistischen Kriegsziele der Ukraine zu unterstützen und eine totale Niederlage gegen Russland anzustreben.

Alex Little arbeitet beim Quincy Institute und war zuvor am Cato Institute beschäftigt.

Nato soll ausgeweitet werden

"Die Ukraine kämpft nicht für ihre eigene Freiheit, sondern an unserer Stelle", erklärte der estnische Außenminister Margus Tsahkna, als er sich mit den Außenministern Lettlands und Litauens in der Hardliner-Denkfabrik Hudson Institute in Washington D.C. traf, um Ansichten zu Sicherheitsfragen in Nordeuropa auszutauschen.

Die baltischen Vertreter sprachen sich auch für eine kontinuierliche Erweiterung der Nato aus, um Wladimir Putin abzuschrecken – einschließlich einer eventuellen Aufnahme der Ukraine in das Bündnis – sowie für die Notwendigkeit einer "amerikanischen Führung" in der Nato.

Viele dieser Argumente haben jedoch nichts mit der Realität vor Ort in der Ukraine zu tun und werden den Kreislauf der Gewalt in Osteuropa nur fortsetzen.

Vollständiger Sieg in der Ukraine notwendig

Die drei baltischen Außenminister erklärten, dass der vollständige Sieg der Ukraine für den Frieden in Europa und die Sicherheit der Nato unerlässlich sei.

Der Acht-Punkte-Plan von Außenminister Tsahkna für einen ukrainischen Sieg setzt sich ein für weitere Sanktionen gegen Russland, die Verwendung eingefrorener russischer Guthaben für den Wiederaufbau der Ukraine, die Aufnahme der Ukraine in die EU und die Nato und für den Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als einzige Möglichkeit, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu wahren.

Die Minister waren sich auch darin einig, dass ein Friedensplan ohne eine vollständige Niederlage Russlands unvermeidlich weitere Invasionen aus Russland in der Zukunft nur verzögern würde.

"Für Autokraten ist es von großem Vorteil, wenn eine Vereinbarung getroffen wird", sagte der lettische Außenminister Krišjānis Kariņš, während er darauf hinwies, dass die Welt den Krieg in der Ukraine aktiv beobachte. In den Augen der baltischen Außenminister kann nur eine "Containment"-Strategie mit harter Hand die imperialen Ambitionen von Wladimir Putin aufhalten.

Nato-Widerstand gegen Russland die nächsten zwanzig Jahre

"Wir werden noch lange Zeit mit dem Russland-Problem bzw. der Herausforderung umgehen müssen. Die Nato muss sich darauf konzentrieren, wie man die Russen in den nächsten zwanzig Jahren durch Festigkeit und Widerstandskraft eindämmen kann", so Kariņš weiter. Der Frieden in Europa hänge einzig von der Androhung von Gewalt ab.

Die Aussichten der Ukraine auf eine vollständige Niederlage Russlands sind jedoch gleich null. Kiew hat massive Verluste erlitten, denn die Einnahme von Awdijiwka durch Russland im vergangenen Monat war Russlands größter territorialer Vorstoß seit seinem Sieg in Bachmut im Mai 2023.

Außerdem gehen der Ukraine die Truppen aus. Das ukrainische Militär ist mit einem durchschnittlichen Personalmangel von 25 Prozent in seinen Brigaden konfrontiert und wird wahrscheinlich nicht die erforderliche Anzahl von Männern mobilisieren können, um mit Russlands Vorsprung bei der Soldatenstärke mitzuhalten. In der gesamten Ukraine hat sich die Wehrdienstverweigerung verstärkt, und Tausende sind aus dem Land geflohen.

Infolgedessen steht die Ukraine am Rande einer demografischen Katastrophe, die die Zukunft des Landes nach Beendigung des Krieges gefährden würde.

Europäische Sicherheit ohne Ukraine nicht möglich

Darüber hinaus sei Putin nach Ansicht der baltischen Außenminister das beste Verkaufsargument für die Nato-Erweiterung, während sowohl Finnland als auch Schweden ihre jahrzehntelange Neutralität aufgegeben haben und dem Bündnis beigetreten sind.

"Russland hat die Idee einer neutralen Zone ausradiert. Man schließt sich entweder Europa und der Nato oder Russland an", sagte Kariņš. Neutralität sei daher keine Option für eine Nachkriegs-Ukraine, da Neutralität für Putin ein "grünes Licht" für eine Invasion darstelle, wie er es 2008 in Georgien getan habe.

Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis ging sogar so weit zu sagen, dass "die europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Ukraine weder vollständig noch sicher sein wird". Ohne eine harte Abschreckungsmacht werden Länder, die neutral geblieben sind, wie Georgien und Moldawien, Putins Aggression zum Opfer fallen.

Die Außenminister der baltischen Staaten wiesen zwar mehrfach auf Putins imperialistische Tendenzen hin, ließen aber die Möglichkeit unberücksichtigt, dass die Nato-Erweiterung den russischen Nationalismus und die russische Expansion anheizt.

Führungsrolle der USA

Wie Joshua Shifrinson herausstellt, "haben sich der russische Nationalismus und Imperialismus nicht in einem Vakuum entwickelt". Vielmehr gab die Nato-Erweiterung den russischen Nationalisten einen Grund, sich hinter ihnen zu versammeln, da sie ihre Überzeugung bestärkte, dass die nationalen Interessen Moskaus auf dem Spiel stehen.

Die baltischen Ministerpräsidenten betonten außerdem, dass die Führungsrolle der USA nicht ersetzt werden könne. "Ich glaube nicht, dass es ohne die Führung der USA ein Happy End geben wird", erklärte Landsbergis.

Während die baltischen Länder mitmachen würden, indem sie die Zwei-Prozent-Marke bei Militärausgaben übertreffen, müssten die Vereinigten Staaten das "regelbasierte System" verteidigen, das von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde.

Russland stelle aktiv eine "direkte Herausforderung für die Macht und Autorität der USA" dar, wie Außenminister Kariņš es ausdrückte. Der Krieg in der Ukraine sei also nicht nur ein regionales, sondern ein globales Problem. Weiterhin würde auch die Lebensweise in den Nato-Staaten, einschließlich der baltischen Staaten, unmittelbar bedroht.

Keine roten Linien für Nato

Trotz der technologischen und militärischen Überlegenheit der Nato gegenüber Russland befürchten die baltischen Außenminister, dass Putin erwarte, dass der Westen politisch unvorbereitet ist. Russlands Wirtschaft ist auf Krieg ausgerichtet, denn fast 40 Prozent seines Haushalts werden für die Verteidigung ausgegeben.

Auch die reguläre russische Armee wird vergrößert, was ein Zeichen dafür sei, dass Russland nicht daran denkt, die Kämpfe zu beenden, und man die Fähigkeit besitze, das Nato-Bündnis herauszufordern. Daher muss die Nato ihre Bemühungen verstärken und sich gegen die russische Bedrohung zusammenschließen.

Schließlich schlug der litauische Außenminister vor, dass sich die Nato-Mitglieder in Bezug auf die russische Rakete, die vor einiger Zeit kurz in den polnischen Luftraum eindrang, zurückhalten sollten. "Ich bin ein Befürworter davon, keine roten Linien für uns zu ziehen. Wenn wir ausdrücklich sagen, dass wir A, B und C nicht tun werden, und eine ganze Liste von Dingen aufstellen, die wir nicht machen wollen, klingt das wie eine Einladung an Putin, es zu versuchen", sagte Landsbergis.

Die Annahme einer aggressiven Strategie ist jedoch nicht der beste Weg für die Nato. Eine Ausweitung der Mitgliedsstaaten wird die Sicherheit der Mitglieder nicht erhöhen.

Ist aggressives Auftreten wirklich hilfreich?

Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato beendete die jahrzehntelange Neutralität, in deren Rahmen sich beide Länder zu wohlhabenden Demokratien entwickelten. Außerdem verlängerte sich dadurch die Grenze der Nato zu Russland um über 1.300 Kilometer. Die Aufnahme weiterer Staaten in das Bündnis, einschließlich der Ukraine, wird eher eine Belastung als ein Vorteil sein.

Ferner ist ein aggressives Auftreten der Nato unter Führung der Vereinigten Staaten nicht notwendig, um eine Eindämmungsstrategie gegenüber Russland zu verfolgen. Trotz der Fähigkeit, sich während des gesamten Krieges anzupassen, hat Russland sein maximalistisches Ziel, die Ukraine als Vasallenstaat zu unterwerfen, bei Weitem nicht erreicht.

Die Strategie der USA in Europa ist historisch gesehen gegen hegemoniale Bestrebungen gerichtet. Die gegenwärtigen Realitäten legen nahe, dass sich kein europäischer Staat als regionaler Hegemon etablieren kann. Daher hat Russland wenig bis gar keine Chance, die Nato mit konventionellen Mitteln zu besiegen.

Alternativen

Es gibt eine alternative Möglichkeit. Washington und Kiew sollten einen diplomatischen Weg einschlagen, um die Souveränität der Ukraine zu wahren und gleichzeitig einen Konflikt zwischen der Nato und Russland zu vermeiden.

Für Russland gibt es nach wie vor Gründe, an den Verhandlungstisch zu treten, da Moskau eine "entmilitarisierte Zone" einrichten möchte. Man will zugleich, dass der Westen die russische Kontrolle über die Krim und den Donbass de facto anerkennt und Moskau eine legitime Rolle in der europäischen Sicherheitsordnung spielen kann.

Kiew und seine Verbündeten sollten diesen Weg dringend einschlagen, da der Einfluss der Ukraine mit der Zeit unweigerlich abnehmen wird.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.