Ukraine-Krieg: Wie lautet die Friedensformel?

Seite 2: Kissinger: Russland einbeziehen

Für den Politiker, der auf lange Jahre der Erfahrung in politischen Ämtern, etwa als US-Außenminister, und als Berater und politischer "Weltordnungstheoretiker" zurückblickt, ist es keine Frage, dass Russland in Gespräche über eine neue Sicherheitsarchitektur einbezogen werden sollte.

Das Ziel eines Friedensprozesses wäre ein zweifaches: die Freiheit der Ukraine zu bestätigen und eine neue internationale Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa, zu definieren. Letztendlich sollte Russland einen Platz in einer solchen Ordnung finden.

Manche bevorzugen ein Russland, das durch den Krieg ohnmächtig geworden ist. Dem stimme ich nicht zu. Trotz seiner Neigung zur Gewalt hat Russland über ein halbes Jahrtausend lang entscheidende Beiträge zum globalen Gleichgewicht und zur Machtbalance geleistet. Seine historische Rolle sollte nicht herabgewürdigt werden.

Henry Kissinger

Nun könnte man dies als einen etwas abgerückten, altersmilden, von keiner aktuellen und konkreten Kriegszumutung belästigten Rückblick eines fast hundertjährigen Politikers sehen, der in seiner Karriere auch eine Neigung zur Politik mit Gewalt hatte, aber es damit abzutun, wäre zu einfach. Kissinger hat auch Argumente. In die "russophil voreingenommene" Ecke passt er mit seinem Vorschlag nicht.

Kissinger plädiert dafür, dass die Ukraine nicht neutral wird. Die Alternative der Neutralität sei nach dem Nato-Beitritt Finnlands und Schweden "nicht mehr sinnvoll".

Er spricht sich für eine Waffenstillstandslinie aus – "entlang der bestehenden Grenzen, an denen der Krieg am 24. Februar begann" –, dafür, dass Russland seine Eroberungen, die es mit seiner militärischen Invasion gemacht hat, aufgibt. Aber, so Kissinger, "nicht aber das Gebiet, das es vor fast einem Jahrzehnt besetzt hatte, einschließlich der Krim".

Anschließend an einen Waffenstillstand müsse es Verhandlungen über genau dieses Gebiet geben:

Wenn die Vorkriegsgrenze zwischen der Ukraine und Russland weder durch Kampfhandlungen noch durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte der Rückgriff auf den Grundsatz der Selbstbestimmung erwogen werden.

International überwachte Volksabstimmungen über die Selbstbestimmung könnten auf besonders geteilte Gebiete angewandt werden, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer gewechselt haben.

Henry Kissinger

Sollten die Streitpunkte nicht über solche Verhandlungen gelöst werden und stattdessen eine militärische Lösung angestrebt werden, die das vorrangige Ziel hat, Russland militärisch möglichst stark zu schwächen, so droht nach Ansicht des früheren US-Außenpolitikers ein neues großes Konfliktgelände – entweder durch eine nukleare Eskalation oder durch eine Auflösung der russischen Föderation:

Russlands militärische Rückschläge haben seine globale nukleare Reichweite nicht beseitigt, die es ihm ermöglicht, mit einer Eskalation in der Ukraine zu drohen. Selbst wenn diese Fähigkeit verringert wird, könnte die Auflösung Russlands oder die Zerstörung seiner Fähigkeit zu strategischer Politik sein 11 Zeitzonen umfassendes Territorium in ein umkämpftes Vakuum verwandeln.

Seine konkurrierenden Gesellschaften könnten beschließen, ihre Streitigkeiten mit Gewalt beizulegen. Andere Länder könnten versuchen, ihre Ansprüche mit Gewalt auszuweiten. All diese Gefahren würden durch das Vorhandensein von Tausenden von Atomwaffen, die Russland zu einer der beiden größten Atommächte der Welt machen, noch verstärkt werden.

Henry Kissinger

Zuletzt kommt Kissinger noch auf eine weitere Eskalationsmöglichkeit zu sprechen, die deutliche Spuren seiner Beschäftigung in den vergangenen Jahren mit KI zeigt:

Während sich die Staats- und Regierungschefs der Welt bemühen, den Krieg zu beenden, in dem zwei Atommächte gegen ein konventionell bewaffnetes Land antreten, sollten sie auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen die aufkommende Hochtechnologie und künstliche Intelligenz auf diesen Konflikt und auf die langfristige Strategie haben.

Es gibt bereits autonome Waffen, die in der Lage sind, ihre eigenen wahrgenommenen Bedrohungen zu definieren, zu bewerten und ins Visier zu nehmen, und die somit in der Lage sind, ihren eigenen Krieg zu beginnen.

Henry Kissinger

Das macht nun tatsächlich den Anschein eines etwas abgehobenen Panorama-Blick eines Politikers im Alterssitz, aber eine Eigendynamik des Konflikts, die vorderhand nichts mit KI-Steuerung zu tun hat, ist ein wichtiges Thema beim Ukraine-Krieg: Der Showdown der Waffensysteme, die Geschäfte der Waffenhersteller und die vielen, unaufhörlichen Bestellungen. Was für eine Bescherung.