Ukraine-Krieg: Wie real ist die Gefahr einer taktischen Atombombe?
Kreml-Chef Putin versuchte zuletzt in Bezug auf Atomwaffeneinsätze zu beschwichtigen. Experten halten dies für unwahrscheinlich, sehen aber die Gefahr im Fall einer wirklichen militärischen Niederlage.
In einer seiner jüngsten Reden vor dem Waldaj-Club hat Russlands Präsident Wladimir Putin versucht, die weit verbreitete Sorge vor einem Atomwaffeneinsatz im Zuge des Ukraine-Krieges zu zerstreuen: "Es macht keinen Sinn, dass Russland Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzt", meinte er zum Plenum. "Russland hat nie direkt über die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen gesprochen, sondern nur auf die Angriffe seiner Gegner hingewiesen", fügte er hinzu.
Die Kunst der Andeutung
Direkt darüber gesprochen hat der starke Mann im Kreml selbst tatsächlich nicht. Eher Andeutungen gesetzt, von denen ihm bewusst war, dass sie beim strategischen Gegner, dem Westen, Unruhe hervorrufen würden. So meinte er bei einer Rede im September anlässlich der Mobilmachung in Russland.
Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir mit Sicherheit alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu schützen. Das ist kein Bluff! (…) Und diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass sich der Wind auch in ihre Richtung drehen kann!.
Wladimir Putin am 21. September 2022
Was wichtig ist: Gleichzeitig erfolgte die russische Annexion von ukrainischen Gebieten, bei deren Rückeroberung die Kiewer Armee zu dieser Zeit erfolgreich war. Das ließe sich natürlich nach russischem Recht auch als "Bedrohung der territorialen Integrität" interpretieren – mit der Annexion gelten die ukrainischen Gebiete ja nach russischem Recht als Teile der Russischen Föderation. Putin spielte hier nicht nur aus Versehen mit der Angst vor einem Atomwaffeneinsatz, indem er beide Themen im Moment der Annexion im gleichen Abschnitt seiner Rede verknüpfte.
Kurz darauf forderte der russische Territorialchef und jetzt auch Generalstabsoffizier Ramsan Kadyrow ganz offen den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine.
Sein Einfluss auf Führungsentscheidungen im Kreml sollte nicht überschätzt werden. Doch mit Duldung von oben stößt er Drohungen aus in einer internationalen Lage, die der Moskauer Geopolitik-Fachmann Andrej Kortunow gegenüber dem Wochenmagazin Der Freitag für explosiver hält, als die Kubakrise vor 60 Jahren.
Kortunow gehört in Russland zu denjenigen, die vor einer Eskalation, wie sie seit Februar geschieht, in Moskau im Vorfeld immer gewarnt haben. Obwohl er als Generaldirektor des Russischen Rates für auswärtige Beziehungen einer der wichtigsten Berater des Außenministeriums war, wurde sein Ratschlag mit dem offenen Angriff auf die Ukraine in den Wind geschlagen.
Der Westen trägt zur Übermacht russischer Hardliner bei
Wer in Moskau in Bezug auf Atomdrohungen wie Kortunow mäßigend argumentiert, wird von den nun übermächtigen Hardlinern darauf verwiesen, dass auch die Nato ihren Teil dazu beitrage, dass das Klima hier so angespannt ist. Dabei ist nicht nur von der immer wieder zitierten Nato-Osterweiterung bis an Russlands Grenze in früheren Jahrzehnten die Rede, sondern auch von ganz aktuellen Vorgängen.
Die USA modernisieren gerade laut einem Bericht im Magazin Politico ihr Atomarsenal in Europa; und das im beschleunigten Tempo – von einem Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg kann man ausgehen. Angesichts des bevorstehenden Nato-Beitritts von Finnland fürchtet die regierungsnahe russische Zeitung Nesawisimaja Gaseta die Stationierung von US-Atomwaffen nahe Sankt Petersburg an der finnischen Ostgrenze.
Eine solche Stationierung ist aktuell nicht geplant, doch das beruhigt russische Experten kaum. Die Zeitung zitiert hier den Militärfachmann Wladimir Batjuk von der Russischen Akademie der Wissenschaften der meint, Atomwaffen könnten in Finnland und Schweden ebenso auftauchen, wie sie aktuell schon in Deutschland stationiert sind. Immerhin seien all diese Staaten nun Vollmitglieder der Nato. Dass der russische Ukraine-Krieg Finnland erst in die Arme der Nato getrieben hat, wird in der innerrussischen Darstellung ausgeblendet.
Mögliche Eskalation durch falsche Einschätzungen
Die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation besteht bei einer gegenseitigen Hochrüstung immer, gerade bei Missverständnissen und Falscheinschätzungen in gegenseitiger Feindschaft. Der frühere russische Diplomat Boris Bondarew meint in der Fachzeitschrift Foreign Affairs, dass etwa das russische Außenministerium seiner Aufgabe, die internationale Lage dem Kreml korrekt zu erläutern, nur unzureichend nachkomme. Man begrabe unbequeme Tatsachen in Bergen von Propaganda, sodass in Moskau ein falsches Lagebild entstehe.
Genau durch solche geschönten Lageeinschätzungen sei es nach seiner Meinung bereits zur russischen Invasion auf die Ukraine gekommen. Die Macht des Gegners werde kleingeschrieben, die der eigenen Seite erhöht. Das sei auch fatal in Bezug auf den Westen und eine mögliche atomare Eskalation, wie Bondarew meint. Man negiere den Willen der USA zu einer realen Antwort auf russische Offensivschläge.
Bondarews Beobachtung gilt nicht nur für Russland im Bezug auf den Westen, sondern auch in umgekehrter Richtung. Genau diese Unterschätzung der Militärmacht findet ja auch in westlichen Medien und von russlandkritischen Experten in Bezug auf den Moskauer Feind statt.
Das Bild der russischen Armee gleicht dort schon seit Monaten einem militärischen Gegenstück zu einem klapprigen Lada, obwohl der Ukraine-Krieg von einer militärischen Entscheidung noch weit entfernt und die Macht der zahlreicher werdenden russischen Truppen nicht gebrochen ist.
Auch die viel beschworene ukrainische Offensive ist im Laufe des Oktober ins Stocken geraten. Eine falsche Lageeinschätzung bestärkt beide Seiten darin, die Risiken einer weiteren Eskalation kleinzureden und diese Eskalation damit selbst voranzutreiben.
Kein militärischer Nutzen durch taktische Atomwaffen
Einen tatsächlichen militärischen Nutzen brächte Russland ein Einsatz taktischer Atomwaffen in der Ukraine nicht, so Maksim Starchak, ein Experte für russische Nuklearpolitik aus Kanada.
Taktische Atomwaffen werden Moskau bei der Verteidigung der besetzten Gebiete nicht helfen. Sie haben keine abschreckende Wirkung auf die Ukraine. Der Einsatz ist nicht effizient in der zerstörten Umgebung des laufenden Krieges. Psychologisch dürfte er eher auf die NATO wirken als auf die Ukraine. Deshalb ist die Möglichkeit eines solchen Einsatzes vorhanden, aber klein.
Maksim Starchak am 26. September 2022 gegenüber der Online-Zeitung Meduza
Im Fall eines solchen Einsatzes rechnet Starchak mit einem direkten Eingreifen der Nato und die Gesamtlage Russlands würde sich weiter verschlimmern. Auch könnten sich Nato und Ukraine auf einen solchen Einsatz real vorbereiten. Taktische Atomwaffen sind nicht an der Front stationiert und ihr Hervorholen aus weit entfernten und per Satellit gut überwachten Arsenalen würde nicht unbemerkt bleiben.
So wäre ein solcher Einsatz kontraproduktiv, vor allem so lange für Russland der Ukraine-Krieg noch konventionell zu gewinnen oder ein gesichtswahrender Kompromiss möglich ist. Ein Restrisiko bleibt dennoch, denn auch der gesamte Ukraine-Krieg ist für Russlands Sicherheit kontraproduktiv und wurde dennoch von der Kremlspitze in Gang gesetzt.
Boris Bondarew sieht die Möglichkeit eines solchen Einsatzes deshalb im Fall einer wirklichen militärischen Niederlage. Schon die jüngste, noch rhetorische Atomeskalation der russischen Seite geschah nicht zufällig dann, als die russischen Truppen vor Ort massiv Gebiete aufgeben mussten.
Das sollte westlichen Hardlinern zu denken geben, die genau eine solche totale Niederlage Moskaus jedem Verhandlungsfrieden vorziehen und offen anstreben. Ein Kampf der Ukraine bis zum totalen Endsieg auf der Krim steigert automatisch die atomare Gefahr.