Ukraine: Wie der EU-Kriegsdiplomat Josep Borrell um westliche Werte kämpft

Seite 2: Die größeren Ideale des Westens und ihre Kriegs- und Hungerpolitik

Als der Westen die Sanktionen verhängte, dachte man ausschließlich an die eigenen nationalen Interessen, die sich in einer Fehleinschätzung darauf konzentrieren, Russland zu besiegen. Die Menschen weder in Sri Lanka, Somalia oder dem Libanon noch – offen gesagt – in der Ukraine sind für die Entscheidung des Westens von signifikanter Bedeutung.

Borrell, dessen Beruf als Diplomat nahelegt, dass er an Diplomatie zur Lösung von Konflikten interessiert sein sollte, hat wiederholt dazu aufgerufen, den Krieg gegen Russland auszuweiten. Er besteht darauf, dass der Krieg nur "auf dem Schlachtfeld" gewonnen werden kann. Solche Äußerungen werden mit Blick auf westliche Interessen gemacht, trotz der offensichtlichen verheerenden Folgen, die Borrells "Schlachtfeld" für den Rest der Welt haben wird.

Gleichzeitig tadelt Borrell auf dreiste Weise die G20-Mitglieder für ihr Verhalten, das seiner Meinung nach nur auf deren nationale Interessen ausgerichtet sei.

Die harte Wahrheit ist, dass nationale Interessen oft schwerer wiegen als allgemeine Verpflichtungen gegenüber größeren Idealen,

schreibt er. Wenn es für die "größeren Ideale" Borrells und der EU von zentraler Bedeutung ist, Russland zu besiegen, warum sollte dann der Rest der Welt, vor allem im globalen Süden, diese eigennützigen Prioritäten des Westens übernehmen?

Borrell muss auch daran erinnert werden, dass der "globale Kampf der Narrative" des Westens schon lange vor dem 24. Februar diesen Jahres verloren wurde. Ein Großteil des globalen Südens sieht die Interessen des Westens zu Recht in Widerspruch zu den eigenen. Die vermeintlich zynische Sichtweise ist das Ergebnis jahrzehntelanger – eigentlich jahrhundertelanger – realer Erfahrungen, die mit dem Kolonialismus begannen und gegenwärtig mit den ständigen militärischen und politischen Interventionen weitergeführt werden.

Borrell spricht von "größeren Idealen", als sei der Westen die einzige moralisch reife Instanz, die in der Lage ist, selbstlos und unabhängig über Recht und Unrecht zu reflektieren. Abgesehen davon, dass die Geschichte Borrells Behauptung nicht belegen kann, verhindert die herablassende, von kultureller Arroganz geprägte Sprache, dass sich nicht-westliche Länder mit der politischen Moral des Westens überhaupt auseinandersetzen.

Der EU-Diplomat wirft Russland beispielsweise vor, dass es "absichtlich versucht, Nahrungsmittel als Waffe gegen die schwächsten Länder der Welt, insbesondere in Afrika, einzusetzen". Selbst wenn wir diese problematische Prämisse als von Moral bestimmten Standpunkt akzeptieren, wie kann Borrell die Sanktionen des Westens dann rechtfertigen, die viele Menschen in "geschwächten Ländern" auf der ganzen Welt tatsächlich ausgehungert haben?

Vielleicht sind die Afghanen heute die am meisten gefährdeten Menschen der Welt, dank eines 20-jährigen verheerenden US-Nato-Krieges, in dem Zehntausende getötet und verstümmelt wurden. Obwohl die USA und ihre westlichen Verbündeten im August letzten Jahres gezwungen waren aus Afghanistan abzuziehen, sind viele Milliarden Dollar von dort illegal auf westlichen Bankkonten eingefroren, wodurch die Bevölkerung an den Rand des Hungertodes gebracht wird. Warum kann Borrell in diesem speziellen Szenario nicht seine "größeren Ideale" anwenden und die sofortige Freigabe der afghanischen Gelder fordern?

In Wahrheit verlieren Borrell, die EU, die Nato und der Westen nicht nur im Moment die globale Schlacht der Narrative. Sie haben sie tatsächlich nie gewonnen. Ob sie die Schlacht für sich entscheiden können oder verlieren, ist den westlichen Regierungen in der Vergangenheit immer egal gewesen. So wurde der Globale Süden mit seinen Interessen nie berücksichtigt, als der Westen aus eigennützigen Motiven über Kriege, militärische Invasionen oder Wirtschaftssanktionen entschied.

Der Globale Süden ist jetzt wichtig, weil der Westen nicht mehr alle politischen Resultate kontrollieren kann, wie es sonst der Fall gewesen ist. Russland, China, Indien und andere müssen ernster genommen werden, weil sie gemeinsam eine Weltordnung ausbalancieren können, die viel zu lange von Borrell und seinesgleichen dominiert wurde.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit US-amerikanischen Website Znet.

Dr. Ramzy Baroud ist Journalist und Herausgeber der Palästina-Chronik. Er ist der Autor von sechs Büchern. Sein neuestes Buch, das er gemeinsam mit Ilan Pappé herausgegeben hat, ist "Our Vision for Liberation: Engagierte palästinensische Führungspersönlichkeiten und Intellektuelle kommen zu Wort". Baroud ist ein Non-Resident Senior Research Fellow am Zentrum für Islam und Globale Angelegenheiten (CIGA). Seine Website lautet: www.ramzybaroud.net.