Ukraine: "Wir werden diesen Krieg endgültig verlieren"
Russland vor einem hässlichen Sieg: US-Politologe John Mearsheimer prophezeit kein gutes Ende des Krieges für die Ukraine – damit steht er nicht alleine. Kommentar.
In der internationalen Politik sind Überraschungen nichts Ungewöhnliches.
John Mearsheimer
"Wir verlieren Territorien, wir verlieren die besten Leute. Wenn keine Schlussfolgerungen gezogen werden, keine Aufarbeitung der Fehler erfolgen, werden wir diesen Krieg endgültig verlieren" – es klingt ein bisschen wie Panik und könnte sich auch nur um eine bewusst eingesetzten hysterischen Tonlage handeln. Vielleicht ist es aber auch einfach eine sehr realistische Einschätzung der Kriegslage.
So oder so aber gehen die Äußerungen des ukrainischen Militärs Dmitri Kuchartschuk "gerade viral", so die Berliner Zeitung in ihrem aktuellen Bericht über die Innenansichten des Bataillonskommandeurs der ukrainischen Armee.
Demnach stehe "die kritischste Phase des Krieges" unmittelbar bevor. Entgegen dem im Westen vorherrschenden Eindruck herrsche in der ukrainischen Gesellschaft keineswegs Einigkeit über das weitere Vorgehen gegen die militärisch überlegenen russischen Streitkräfte
"Wir denken, dass es möglich sein wird, einen Vertreter Russlands einzuladen"
Auch vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass es Signale gibt, wonach sich Kiew ganz sachte dem westlichen Druck für diplomatische Initiativen öffnet, Gespräche mit Russland nicht mehr kategorisch ausschließt, sondern Kreml-Vertreter in zukünftige Verhandlungen einbeziehen will.
Der Leiter des Präsidialamts in der Ukraine und Selenskyj-Berater, Andrij Jermak – laut Berliner Zeitung eine Art graue Eminenz in Kiew – sagte jetzt, die Ukraine wolle für eine breitere Unterstützung auch Russland miteinbeziehen: "Wir denken, dass es möglich sein wird, einen Vertreter Russlands einzuladen", wird Jermak zitiert.
Damit bestätigen sich jene Einschätzungen, die erst vor wenigen Tagen vom renommierten US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer zu lesen waren.
Vorwurf Putin-Versteherei: Will man Argumente hören?
Mearsheimer gilt als "umstritten". Und er wird im Gegensatz zu vielen seiner US-amerikanischen Fachkollegen von den westlichen Medien nicht hofiert – im Gegenteil: John Mearsheimer, den man vor zwei Jahren, ein paar Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges, noch in Berlin auch in inneren Polit-Zirkeln, etwa des liberaleren Flügels der CDU begegnen konnte, wird heute in Europa geschnitten.
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Er gilt als "Putin-Versteher" und "Querdenker", als ob derlei Etiketten, das Denken gegen den Strom und das Verstehen außenpolitischer Akteure nicht Komplimente für einen Politikwissenschaftler wären. Er ist kein Dauergast bei "Markus Lanz" oder "Sandra Maischberger", obwohl er doch dem Gleichklang von linken Grünen bis rechten CDU-lern, von Hofreiter bis Kiesewetter ein bisschen widersprechen könnte, und das auch noch mit Argumenten.
Aber offenbar sind Argumente, die gegen eine Unterstützung der Ukraine und gegen eine einseitige Schuldzuschreibung an die bösen Russen sprechen, genau das, was man im Fall der Ukraine nicht hören möchte.
Bis etwa Mitte 2022 waren solche Debatten noch möglich. Da hörte man auch den Politologen Johannes Varwick noch gelegentlich im Deutschlandfunk wo er für diplomatische Lösungen plädierte und gegen "die Eskalationsspirale" plädierte.
Dann wurden die Reihen der westlichen Pro-Ukraine-Front fest geschlossen.
Eine auffallende Ausnahme ist die Berliner Zeitung, die sich ganz grundsätzlich in den letzten Monaten außenpolitisch profiliert – als einzige Stimme einer nicht neo-idealistischen Außenpolitik und einer geopolitischen Offenheit für die Frage, was denn tatsächliche Interessen von Staaten sind und welche tieferliegenden Kräfte politisches Handeln leiten?
"Die Vereinigten Staaten haben kaum etwas getan, den Krieg zu verhindern"
Im Gespräch mit der Berliner Zeitung gab Mearsheimer am Wochenende einen Überblick über seine Einschätzung der globalen Krisenherde.
In der Ukraine rechnet Mearsheimer mit einem "hässlichen Sieg" der Russen. Ohne konstruktiven Frieden werde der Konflikt nur "eingefroren", und Russland werde "einen guten Teil des ukrainischen Territoriums" annektieren.
Des Weiteren wiederholte Mearsheimer im Gespräch eine seiner Hauptthesen, wonach die westliche, von den USA vorangetriebene Politik die Hauptverantwortung für den Ukrainekrieg trägt:
Die Nato-Erweiterung und insbesondere der Wunsch, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, waren die Hauptursache. Was die Ukraine betrifft, ist Joe Biden ein Super-Falke. (...)
Unter Biden wurde die Ukraine schnell zu einem De-facto-Mitglied der Nato. Die Russen machten schon 2021 deutlich, dass dies für sie inakzeptabel war. Sie suchten eine Verhandlungslösung, aber die Biden-Regierung hat sich darauf nicht eingelassen. (...) Der Westen und insbesondere die Vereinigten Staaten haben kaum etwas getan, den Krieg zu verhindern.
John Mearsheimer, Berliner Zeitung
Illusionen und ideologische Konstrukte zum Ukraine-Krieg
Bemerkenswert ist Mearsheimers Kommentar zu seiner Position innerhalb der US-Politikwissenschaft. Kaum einer im außenpolitischen Establishment der USA akzeptiere seine Analyse des Konflikts:
Fast der gesamte westliche Mainstream ist überzeugt, dass Putin den Krieg begonnen hat, weil er ein Imperialist ist, dass er darauf aus ist, die ganze Ukraine zu erobern, sie einem "Großrussland" einzuverleiben und dann andere Länder in Osteuropa zu erobern.
Putin wird vom außenpolitischen Establishment und natürlich von den Mainstream-Medien als äußerst aggressiv angesehen. Darüber hinaus glaubte fast jeder, dass die Ukraine letztlich triumphieren könnte.
John Mearsheimer, Berliner Zeitung
Für Mearsheimer sind das Illusionen und ideologische Konstrukte, die den klaren Blick vernebeln. Der Politikwissenschaftler glaubt nicht daran, dass sich die Aussichten für die Ukraine in Zukunft verbessern werden. "In einer hoffnungslosen Lage" werde das Land den Krieg verlieren.
Neo-Idealismus gegen Realismus
Das Fazit von Mearsheimers Überlegungen ist die Einsicht, das nach der unipolaren Zwischenphase nach Ende des Kalten Kriegs derzeit die klassische multipolare Großmachtpolitik eine klare Wiederkehr erlebt.
Der sich lange pazifistisch gebende Westen, der der Ansicht war, dass der globale Siegeszug der Demokratie nur eine Frage der Zeit sei, reagiert auf diese neue Weltordnung wie ein störrisches Kind, dem man die Süßigkeiten verweigert hat.
Er reagiert mit einem bis an die Zähne bewaffneten Neo-Idealismus, der zudem einem Primat der Innenpolitik, also den medialen Beifallsdynamiken der wohlfahrtsstaatlichen Demokratien untergeordnet ist.
Die Frage ist nur, ob sich die Weltgeschichte nach den Denkschulen westlicher Hauptstädte auch dann richtet, wenn sie längerfristige geopolitische Interessen ignorieren.
Solche Interessen sind es aber, die nach Mearsheimer und der bis in die 1970er-Jahre tonangebenden Denkschule des "Realismus" in der Theorie der internationalen Beziehungen weiterhin über außenpolitisches Handeln entscheiden.