Ukrainische Flüchtlinge in Russland: "Schulen sind momentan ein Ort der Propaganda"
In Russland leben knapp drei Millionen Geflohene aus der Ukraine. Viele konnten sich die Fluchtrichtung aus dem Kampfgebiet nicht aussuchen. Ein Gespräch mit der Moskauer Flüchtlingshelferin Lida Moniawa.
Nach UN-Angaben sind seit der russischen Invasion knapp drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland gelandet – den allermeisten von ihnen blieb nur diese Fluchtrichtung aus dem Kriegsgebiet heraus.
Nun helfen ihnen Organisationen wie der Leuchtturm-Wohltätigkeitsfonds, der zudem seit Jahren ein Hospiz für schwerkranke Kinder betreibt. Telepolis sprach mit Lida Moniawa, der Leiterin des Hospizes, die zudem Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt.
Ihr Hospiz leistet vor allem Palliativversorgung, unter anderem für schwerstkranke Kinder. Hat sich auch diese Arbeit seit dem Kriegsbeginn vor einem Jahr verändert? Sind Sie von westlichen Sanktionen betroffen?
Lida Moniawa: Westliche Sanktionen haben den Betrieb unseres Hospizes noch nicht gefährdet. Allerdings gibt es Probleme. Ein dänisches Unternehmen, das Rollstühle hergestellt hat, hat die Lieferungen nach Russland eingestellt. Und jetzt haben wir Schwierigkeiten beim Ersatz. Es gibt daneben logistische Probleme mit Lieferanten und der Bezahlung für Medikamente, Verbrauchsmaterial und medizinischen Geräten.
Wir mussten auch Kosten senken. So haben wir einen Teil unseres Betreuungsangebots gestrichen, das wir für die Familien vor dem Kriegsbeginn hatten. Wir haben eines unserer Büros geschlossen, sparen an allem wie dem Papier. Wir drucken nur noch nötige Verträge.
Und die allgemeine Finanzierung des Hospiz?
Lida Moniawa: Wir haben natürlich all unsere Wohltäter aus dem Ausland verloren. Einfach aus technischen Gründen können sie jetzt keine caritative Stiftung in Russland mehr unterstützen.
Letztes Jahr waren Sie Mitbegründerin einer Einrichtung für Ukrainische Flüchtlinge im Besitz Ihrer Stiftung. Woher kommen die Leute? Wer sind sie?
Lida Moniawa: Es sind ganz normale Menschen, die ein ganz normales Leben hatten. Ein Zuhause, Familie und Arbeit. Nach Kriegsausbruch landeten sie in ihren Kellern, viele verloren unter Beschuss Nachbarn und Angehörige. Sie kommen aus den Regionen, wo gekämpft wird. Zuerst viele aus Sewerodonezk, dann aus Mariupol. Jetzt kommen viele aus Swatowo, Bachmut und Donezk.
Die meisten von ihnen hatten vorher schon Verbindungen nach Russland. Der eine hat hier studiert, der andere gearbeitet. Weiterhin haben die Menschen hier wenig Erfahrung mit Auslandsreisen und keine Fremdsprachenkenntnisse. Deswegen bleiben sie hier in Russland, anstatt in ein Land mit einer anderen Sprache zu gehen.
Welche Art von Hilfe suchen sie bei Ihnen?
Lida Moniawa: Ihnen fehlt es am Nötigsten, etwa an Bekleidung. Sie schlafen ohne Decken und Bettwäsche, manche sogar auf dem Boden. Viele brauchen auch etwas zu essen. Um vom russischen Staat Geld zu bekommen, müssen sie Dokumente aus dem Ukrainischen ins Russische übersetzen lassen und das auch selbst finanzieren.
Bis die Anträge bewilligt werden, haben sie keinen Anspruch auf eine medizinische Versorgung. Es gibt auch Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, die auf Medikamente angewiesen sind.
"Russische Schulen sind momentan ein Ort der Propaganda"
Erzählen Sie uns bitte von den ukrainischen Kindern, die jetzt auf russische Schulen gewechselt sind. Welche Probleme haben sie?
Lida Moniawa: Russische Schulen sind momentan ein Ort der Propaganda. Wenn die Kinder im Unterricht Panzer malen, müssen es russische Panzer sein. Beispielsweise kam ein Mädchen am Schuljahresbeginn zur Schule und fing an zu weinen, als sie die Russische Hymne gehört hat.
Sie verband sie mit Angst, Krieg und Gewalt. Auch die Medienpropaganda, dass es in der Ukraine "nur Nazis gibt" führt zu Schikanen der Kinder durch Gleichaltrige. Ein Junge wurde erst im Schulhof geschlagen, da er Ukrainer ist.
Haben Sie eine Vorstellung, wie viele ukrainische Flüchtlinge jetzt hier in Moskau sind?
Lida Moniawa: Ich kann nur für unsere Stiftung sprechen. Wir betreuten hier 12.000 Flüchtlinge, die sich in Moskau und dem Umland aufgehalten haben.
Welche Leistungen gibt es für die Flüchtlinge vom russischen Staat? Was wird für sie getan und was nicht?
Lida Moniawa: Als der Krieg begann, geschahen zunächst zwei Dinge. Erstmal ein Anspruch von 10.000 Rubel pro Monat (Anm.: rund 120 Euro) pro Person. Aber das bekamen die Leute nicht sofort. Die eine Bearbeitung dauerte sechs Monate, die andere acht. Zum zweiten eine Unterbringung der Flüchtlinge in großen Gebäuden möglichst weit außerhalb.
Dort leben sie isoliert von der Gesellschaft und arbeiten nicht. Im zweiten Halbjahr 2022 begann der Staat, den Flüchtlingen im größeren Umfang Leistungen zu zahlen, wenn sie sich dafür russische Dokumente holten. Dazu ist nicht jeder bereit und viele wollen wieder nach Hause. Bis heute sind die meisten anderen Zahlungen gestoppt.
"Manche ziehen es in der Tat vor, das Land zu verlassen"
Wie hat sich unter diesen Eindrücken Ihr eigenes Verhältnis zu Ihrer Regierung geändert? Ihr Hospiz wird ja vom Staat mitfinanziert. Auf der anderen Seite sehen Sie auch die Auswirkungen der Zerstörungen in der Ukraine?
Lida Moniawa: Unsere Beziehungen zu den Offiziellen haben sich praktisch nicht geändert. Wir sind eine gemeinnützige Organisation, sowohl das Hospiz als auch die Flüchtlingsstiftung. Der Staat ist nicht mein Arbeitgeber, das verschafft Freiheiten. Der Staat hat beispielsweise ein Gebäude für unser Hospiz zur Verfügung gestellt. Vielleicht hätten sie es auch gerne abgelehnt, aber was passiert dann?
Dann würden die Kinder sterben, die Palliativversorgung brauchen, wären ohne Hilfe. Manche ziehen es in der Tat vor, das Land zu verlassen und alle Brücken abzubrechen. Aber dann müssten wir die Schwachen und Ungeschützten zurücklassen. Kranke Kinder und Flüchtlinge. Sie brauchen aber Hilfe.
Da ich also bleibe, sehe ich auch keinen Sinn darin, staatliche Unterstützung abzulehnen. Die Grenze zur Komplizenschaft verläuft für mich in der Propaganda. Solange ich mir dafür kein "Z" (Anm.: Zeichen der Kriegsunterstützer) an die Fassade unseres Hauses hängen oder im Fernsehen über die Aggression sprechen muss, sehe ich keinen Grund, staatliche Hilfen abzulehnen.
Was können Sie aus Ihren Erfahrungen über die Flüchtlinge aus den von Russland annektierten Gebieten berichten? Gibt es dort einen Wiederaufbau? Kehren Geflüchtete etwa nach Mariupol zurück?
Lida Moniawa: Darüber können Freiwillige, die dort arbeiten, besser berichten. Ich kann nur Schlüsse aus dem ziehen, was Flüchtlinge erzählen, die von dort kommen oder was deren zurückgebliebenen Angehörigen erzählen. Da weiß man aber nie, was stimmt. Sie meinen, dort würde gebaut, aber es gäbe kein fließend Wasser, keinen Strom, keine Heizung und natürlich keine Arbeit. Daher verstehen viele Menschen, die eigentlich zurück wollen, dass sie dort nicht leben können.
Wollen sie trotzdem weiter zurück?
Lida Moniawa: Die meisten wollen nach Hause zurück. Vor allem ältere Leute, die hier kein neues Leben beginnen können. Es gibt Jüngere, die den russischen Papierkrieg in Angriff nehmen, um in Russland zu bleiben. Aber Heimweh haben sie trotzdem. Aber das ist ohne Wasser, Strom und Arbeit vor Ort nur ein Gefühl.
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