Umdenken? Nein danke!

Ein Jahr Tsunami-Katastrophe, der Wiederaufbau in den Krisenregionen und die blinden Flecken der Tourismusindustrie

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Genau vor einem Jahr fand eine Katastrophe im Indischen Ozean statt. Ein gewaltiger Tsunami suchte die Küsten von Ländern wie Indonesien, Thailand und Sri Lanka heim und ließ Verwüstungen von historischem Ausmaß zurück. Die „Wand aus Wasser“, wie die Flutwelle häufig beschrieben worden ist, hatte einen überwältigenden Effekt. Sie ließ die Welt verstummen, wirkte wie ein Einschnitt, eine Zäsur. Nichts sollte mehr so sein wie gestern. Doch bereits nach einigen Wochen kehrte die Welt zu alter Betriebsamkeit zurück. Deutschland stand an der Spitze der Spendencharts, die Medien hörten auf, nonstop von den Auswirkungen der „Sintflut“ (Die Zeit) zu berichten und wendeten sich neuen Themen zu. Doch das geschichtliche Denken, das mit der vermeintlichen Zäsur vom 26.12.2004 deaktiviert wurde – es blieb deaktiviert.

Bilder, die von Touristen aufgenommen wurden, zirkulierten fast schneller im Netz als die Bilder der Mainstreammedien

Der Tsunami wurde hier und da mit den Terrorattacken vom 11. September verglichen – in einer Hinsicht hatten die beiden Ereignisse etwas gemeinsam. Die Gegenmaßnahmen, die in Folge ergriffen wurden, waren blind gegenüber differenzierten Perspektiven und damit auch blind gegenüber Geschichte. Alles was zählte, war die Wiedererlangung des Status Quo. Alles musste wieder hergestellt werden. Im Indischen Ozean beschränkte sich dieses „Alles“ vor allem auf die Tourismusindustrie und ihre Infrastrukturen. Die Urlaubssiedlungen für die ausländischen Gäste, die weißen Strände und pittoresken Buchten mussten wieder aufgebaut werden. Unter Hochdruck wurde dieses Projekt in Angriff genommen und vom Westen unterstützt. Auch hierzulande wurde der Wiederaufbau der betroffenen Länder einhellig auf den Wiederaufbau des extrem ertragreichen Dienstleistungssektors reduziert.

Dass dabei Vieles auf der Strecke blieb, dürfte nicht überraschen. Die birmanischen Migranten, die etwa in Thailands Tourismusbranche tätig waren, wurden haufenweise abgeschoben, weil sie, so hieß es allenthalben, plündern würden. Gleichzeitig wurden alle, die nicht in der Tourismusindustrie zu Hause waren, vernachlässigt. Doch selbst dort wurden die feinen Unterschiede von gestern zu existentiellen Gräben. Bei den Rettungsarbeiten etwa, wurden Ausländer bevorzugt behandelt und Einheimische nur dann geborgen, wenn überlebende Touristen nicht mehr in Sicht waren. Später wurden Kleinunternehmer, deren Standort (Taucherschule, Hotel oder Restaurant) durch den Tsunami abhanden gekommen war, enteignet. Entweder hatten sie keine Papiere oder auch sie waren von der Flutwelle verschlungen worden. Die Ungerechtigkeiten, von denen hierzulande wenig zu hören war, waren nicht neu.

Interne Spaltungen und Spannungen charakterisieren die Strukturen der Tourismusindustrie in unseren Paradiesen. Aber wen hier im Westen interessiert es, dass die exotischen Ferienorte von mafiösen Machenschaften überschattet werden? Oder dass auf dem Markt die Bauern, Migranten und Kleinunternehmer gegen die Regierung, Mafia und Konzerne vor dem Hintergrund einer schwammigen Gesetzeslage antreten – etwa mit arbiträr auslegbaren Landrechten – und erstere nach der Flutkatastrophe beim Wiederaufbau noch schlechtere Ausgangschancen hatten als zuvor?

Während hier solche Zustände nicht zur Sprache gebracht werden, gelingt es den asiatischen Regierungen meistens, sie auszublenden. Durch Schönfärberei, Zensur und Unterdrückung. Was für die sozialen Probleme des Tourismus gilt, trifft auch für die ökologischen Probleme zu: Die Urbanisierung der Küsten hat unter anderem natürliche Pufferzonen verschwinden lassen (etwa Mangrovenwälder), die die Ausmaße der Katastrophe gelindert hätten.

Beide Prozesse – der auf der sozialen und der auf der ökologischen Ebene – schreiten seit zweihundert Jahren voran und haben in den letzten vier Jahrzehnten eine Intensivierung erfahren. Es ist klar, dass man eine solche Zeitspanne nicht in drei Absätzen wiedergeben kann. Die mit dem Tourismus verbundenen Probleme können an dieser Stelle deshalb nur angedeutet werden. Die Skizze wäre aber nicht vollständig, wenn der Westen unberücksichtigt bliebe. Seine Blindheit gegenüber den Problemen ist tiefverwurzelt. Er muss wegsehen, weil er an dem Elend selbst beteiligt ist: Er ist Kunde Nummer eins und prominenter Investor im Urlaubsland. Außerdem baut sein Paradiesbild darauf, dass die Schattenseiten systematisch ausgeblendet werden. Kurz, der reibungslose Wiederaufbau der Schönwetterzone wurde auch hierzulande zur höchsten Priorität erhoben. Als die Kosten dafür veranschlagt und die Pläne für die Bauarbeiten gemacht waren, konnte man auch hier wieder seinen nächsten Urlaub planen.

Nach einigen Wochen Dauerberichterstattung wurde der Tsunami von den Titelseiten verdrängt und für einige Tage von Moßhammers Tod abgelöst. Der 11. September hatte da vergleichsweise ein etwas größeres Presseecho. Aber auch die Debatten, die er im Feuilleton entfachte, waren kaum mit der Diskussion nach dem 11.9. zu vergleichen. Retrospektiv ist dies vielleicht noch das Bezeichnendste. Schnell war man mit der „Sintflut“ fertig, so schnell, dass nicht einmal Zeit blieb, die Ausmaße dieser Katastrophe für unsere Gesellschaft zu analysieren. Eine intellektuelle Debatte kam nicht in Gang. Die Katastrophe wurde als „Luxussorge“ abgetan, geradezu demonstrativ wurde Harz IV in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, so als wollte man zeigen, dass irgendein Krisenherd im „Orient“ keineswegs von den Problemen im eigenen Land ablenken könne.

Was auf den ersten Blick vielleicht schlau aussah, entpuppt sich spätestens aus der distanzierten Betrachtung als die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, sich mit der Welt da draußen in Bezug zu setzen. Sich als ein Knotenpunkt des globalen Netzwerks namens Weltgesellschaft zu denken. Solange das aber nicht geschieht, hinken wir der Globalisierung hinterher. Und damit auch den mit ihr verbundenen Chancen und Problemen.