Und aus Komplexität ward Klartext
Der Philosoph Norbert Bolz als Berater der Nachmoderne und als Theoriedesigner. Nach dem Sinn zu fragen, so Bolz in seinem neuen Buch "Die Sinngesellschaft", heißt, die postmoderne Gesellschaft nicht zu wollen.
Bolz hat bereits eine Theorie der Neuen Medien (1990) vorgelegt, auf das heranziehende Zeitalter der Digitalisierung mit einer Analyse des Endes der Gutenberggalaxis (1993) reagiert und den Herausforderungen der fraktalen Geometrie unserer "Medienwirklichkeit" mit einer Nautik zu bewältigen versucht, die durch Das kontrollierte Chaos (1994) zu steuern versprach. In jedem seiner Bücher hat sich Bolz als Kenner der theoretischen wie der medialen Landschaft unserer Zeit erwiesen, durch die er als Cicerone zu führen versteht. Dies gilt auch für sein jüngstes Buch.
Eines der vielen theoretischen Elemente, die Bolz hier aus den Denksystemen anderer herausbricht und als Fragment elegant reintegriert, ist der Begriff der Autologie. "Visionen wären Schlüsselideen, mit denen sich die Black Box der Zukunft öffnen läßt", erklärt er dem interessierten Manager. Und weil diese Definition sich "nicht ohne Theorie" verstehen ließe, erläutert Bolz: "Schlüsselidee ist ein autologischer Begriff, d.h. ein Begriff, der auf sich selbst angewendet weden kann und muß. Das heißt im Klartext, in dem Begriff Schlüsselidee steckt selbst eine Schlüsselidee: daß nämlich Ideen, Begriffe, Theorien als Schlüssel funktionieren."
An diesem kurzen wie beliebigen Beispiel läßt sich das Generationsprinzip von Bolz' Buch illustrieren. Zum Ersten verfolgt er das Ziel, unverständliche Theorie in "Klartext" zu überführen. Es geht um Übersetzungsarbeit von einer schwierigen Sprache, die kaum jemand beherrscht, in eine allgemeinverständliche. Zum Zweiten wird dieses Ziel im Text selbst "autologisch" umgesetzt, beide Prinzipien gehören also zusammen. Ist die Schlüsselidee ein autologischer Begriff, so bildet das Konzept der Autologie die Schlüsselidee des Textes. Denn "autologisch" bedeutet, so ist dem "Glossar" zu entnehmen, daß man etwas "sinnvoll auf sich selbst anwenden kann und muß". Wir werden uns - im Jargon der Heilpraktiker formuliert - zunächst der Diagnose widmen, zweitens nach der "Anwendung" Umschau halten, die zum Zuge kommt, um schließlich nach Beispielen der Selbstanwendung zu suchen.
Symptome und Diagnose
Das Wirkliche ist vernünftig, das Vernünftige ist wirklich, und wir leben in der besten aller möglichen Welten - das sind berühmte Formeln von Hegel und Leibniz, mit denen man die Hintergrundüberzeugung dieses Buches gut beschreiben könnte.
Norbert Bolz
Die Welt ist gut, wie sie ist. Dies ist die Lagebeschreibung von Norbert Bolz. Nachdem eine ganze Oberschule von Philosophen diese Sätze exorziert haben, wirkt eine solche Affirmation als Provokation. Der Patient ist also in Wahrheit gesund, er fühlt sich nur schlecht, aber wieso? Warum ist es "so unpopulär, unsere Welt als gelungen zu betrachten", fragt Bolz: "Meine Antwort ist: Es ist leichter, nein zu sagen, als die Weltgesellschaft in ihrer Komplexität zu verteidigen."
Die Lage der Welt läßt also zwei Beschreibungen zu. Eine bezieht ihre Beobachtungen auf die Komplexität der Weltgesellschaft, die andere dagegen isoliert Einzelbeobachtungen aus ihrem Kontext, um sie zu Symtpomen einer - meist letalen - Krankheit zu generalisieren. Während die coolen Beobachter sich der "Komplexität", der "Kontingenz" und der "Intransparenz des gesellschaftlichen Ganzen" zu stellen pflegen, um darin einen unvermeidlichen Aspekt der "Ausdifferenzierung" der Gesellschaft "in der modernen Welt" in "eine Vielzahl autonomer Wertsphären" zu sehen, vermögen die aufgeregten "Warner und Marner" nur den damit einhergehen Sinnverlust zu beklagen, der dann in "negative Prophezeiungen" übersetzt wird. Die Welt, wie sie ist, ist gut, aber komplex. Wer diese Komplexität nicht sieht, ist also nicht nur ein schlichter Geist, sondern immer auch noch uncool. "Pessimismus ist Denkfaulheit", lautet die Diagnose.
Die "sogenannte Sinnkrise" ist das Symptom unserer Lage. Die Diagnose lautet, daß das "Problem des Sinns" nur für jene besteht, die nicht zeitgemäß sind. "Die sogenannte Sinnkrise ist also zunächst einmal nur ein Hinweis darauf, daß wir unserer Gegenwart mit den alten Begriffen nicht mehr zureichend beschreiben können. Die uns vertraute Semantik, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, taugt nicht mehr zur Weltbeschreibung." Wer trotzdem leidet, hat selber schuld, denn er lebt noch in der Welt des 19. Jahrhunderts, wie etwa jene Anhänger der "sogenannten Kritischen Theorie", deren "Faszinosum" genau darin lag, "daß sie Leiderfahrung als Wahrheitsbedingung verkauft." Statt sich der Moderne - und das heißt: der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in autopoietische Funktionssysteme - zu stellen, faßte etwa Adorno die Komplexität der Welt in der Formel des "Verblendungszusammenhangs" zusammen. Die "Moderne" konnte so nur "als Hölle" erfahren werden, von der "Leiderfahrung" des "beschädigten Lebens" aus. An Adornos "Zauberformeln" glaubt heute niemand mehr - und wenn man die Welt nur anders beschreibt, besteht kein Grund mehr dazu, an ihr zu leiden.
Auch der "Kapitalismus" sei in der Lage, "diesen aus Leid und Zufall geborenen Fragen eine befriedigende Antwort, eine Antwort der Befriedigung zu geben." Der kapitalistische "Kult der Ware" stellt sich zwar ebenfalls nicht der Komplexität der Weltgesellschaft, doch macht seine Weise der "Wiederverzauberung" der entzauberten "modernen Welt" einfach mehr Spaß. Wer dies nicht glaubt, mag das selbst überprüfen: "Man kann diese starken Thesen mit einer sehr einfachen Probe belegen, indem man einmal Nike-Town in Chicago besucht - Sport als reiner Kult, Schuhe als Fetische, Basketball-Stars als Hohenpriester." Wer erstaunlicherweise in der nächsten Zeit nicht durch Chicago kommt, der möge seiner jugendlichen Tochter oder Nichte einen Einkaufstrip im nächsten H&M-Laden spendieren, um dort einen glücklichen "Adepten" am "Festtag des Warenfetichismus" zu beobachten.
Auch wenn die Frankfurter Schüler der 68er-Generation mit ihrem universalisierten Leid am unvermeidlichen "falschen Leben" genauso die "Kontingenz" der Weltgesellschaft "kompensieren" wie die konsumgeilen Gören im Shopping-Center, so liegt Bolz' Sympathie mit einigem Recht bei den "jungen Konsumentengruppen", die zwar auch nicht schlauer sind als die Protestgeneration vor ihnen, aber wenigstens besser aussehen. Gemeinsam ist den fröhlichen Konsumenten, den Marnern und Warnern, den Angststellvertretern und Moralaposteln, daß sie die Kompensation des vermeintlichen Sinnverlusts betreiben. Bolz diagnostiziert: "Die Suche nach dem verlorenen Sinn ist eigentlich eine Flucht aus der Komplexität. Und daraus folgt: Nach dem Sinn zu fragen heißt, die postmoderne Gesellschaft nicht zu wollen."
Anwendung
Dieses Buch versucht nicht etwa, eine Antwort auf die Sinnfrage zu geben. Vielmehr geht es mir darum, den Sinn dieser Frage zu erklären.
Norbert Bolz
Die Antwort auf diese Frage schlummert schon gleichsam autologisch in der Diagnose der Sinnfragen. Die Sinnfrage entsteht als Reaktion auf die postmoderne Diskrepanz von Form und Funktion, die "Krise der Identität" und die "hohe Komplexität der Gesellschaft" und hat den Sinn, die neuartige "Undurchschaubarkeit" der "Welt durch Sinnangebote [zu] versüßen und Sprachprothesen bereitzustellen", deren Bandbreite von den Überzeugungen der Kritischen Theorie über die Sinnangebote durch Sport, Medien und Ökologiebewegung bis zum Power-Shopping reicht. "Das ist rasch erklärt."
Es ist der Witz dieses autologischen Buches, daß diese Erklärung des Sinns der Sinnfrage selbst äußerst einfach gestrickt ist. Wo immer die Riege der "Mahner, Betreuer und Betroffenheitsagenten", der "Warner und Minderheitsrepräsentanten, der Randgruppenanwälte, Notstands-Stellvertreter und Bedenkenträger, der Dauerempörten und chronisch Gekränkten" an ihrem hysterischen Gemeinschaftwerk bauen, herrscht tatsächlich "Ignoranz". Die Krise ist allein "eine semantische Katastrophe", hinter der Bolz im Gegensatz zu den "Denkfaulen" nichts als "neue Stabilitätsbedingungen" sieht, deren Wirklichkeit vernünftig und deren Vernünftigkeit wirklich ist.
Die zweite Pointe der Autologie besteht in dem erklärten Pathos, daß die "ernstzunehmenden Wissenschaften", die allein "State of the Art" sind und die wahre Lage hinter der hysterischen Oberfläche zu beschreiben vermögen, daß diese Wissenschaften des Komplexen in einfache "Schlüsselideen" zu transformieren sind, die dann jeder versteht. Bolz macht aus Wissenschaft "Klartext" - diese Metapher aus der Welt der Dechiffrierung fällt hundert Mal. Bolz fordert von den "Wissenschaftlern", sie sollten "die graue Theorie" endlich "etwas bunter und damit genießbarer machen", wozu es das Genre der "Sachbücher" gebe: "Schreibt bessere Sachbücher; arbeitet an der Popularisierung eures Wissens; präpariert euch für Dreiminuten-Statements in Radio und Fernsehen! Popularisierung - das ist die dialektische Spitzenleistung der Wissenschaftselite."
Die Universitäten sollen entsprechend umstrukturiert werden in vier Ebenen: die der "Star-Akademiker als Forschungselite", die der "akademischen Impresarios, die deren Ergebnisse in den Aggregatzustand der Lehre überführen", die der "Medienberater, die für zeitgemäße Präsentationsformen verantwortlich zeichnen" und schließlich in die der "educational consultants" (Tutoren). Die Lehre der Forschungselite von der komplexen, kontingenten und intransparenten Gesellschaft wird so vom Medienberater zum "Formangebot für Sinnsuchende" trivialisiert. Unzufrieden, Zukunftsangst, Weltschmerz, oder nur kein Geld zum Konsum? Dont worry, be happy! Die Welt ist die beste aller Welten, wenn man nur ihre Komplexität erkennt.
Selbstanwendung
Bolz ist Inkonsequenz nicht vorzuwerfen, er beherzigt seine Lehren selbst. Wer seine Fernsehwerbung für den Information Superhighway-Bau der Deutschen Telekom kennt, der muß nicht lange über die Frage grübeln, als was Bolz sich in seiner Universität der Zukunft verstehen wird: ohne Zweifel als "Medienberater". Was seine Forderung nach Popularisierung an der Wissenschaft betrifft, nämlich in "Sachbüchern" schwierige Sachen "bunt" zu präsentieren, geht er mit gutem Beispiel voran. Dabei operiert Bolz auf allen drei Komplexitätsebenen der postmodernen Mediengesellschaft, als da wären: "die Welt des Chaos, die Welt mittlerer Komplexität, die Welt der Einfachheit".
In letzterer "herrschen Trends, die als Kurzzeitreligionen das Wertevakuum füllen" und vom "Ideenrecycling" leben. Die "User" dieser Welt erreicht Bolz im Werbespot der Telekom, aber auch durch das vorliegende Buch, das ganz ohne Fußnoten auskommt und dennoch so viel zitiert. "Das Level der mittleren Komplexität fordert Medienkompetenz", statt bloßes Konsumieren von Sinnangeboten. "Hier steht der Computer als Universalmaschine im Zentrum". Das "Stichwort: Hypertext" liefert die Metapher für die Weltbeschreibung auf dieser Ebene. "Dem dadurch ermöglichten Management von Komplexität habe ich in meinem Buch Das kontrollierte Chaos ein eigenes Kapitel gewidmet." Aber nur "Chaospiloten", die "den Mut zum Blindflug" aufweisen, "steuern in der Datenflut", deren technisches Äquivalent "die Welt der Netzwerke, der Cyberspace" darstellt. "Diese Welt kann man nicht lesen oder sonstwie linear erschließen - hier muß man surfen und navigieren."
Da dem geneigten Leser solcher Bücher wie über "Die Sinngesellschaft" weder die "Welt des Chaos" noch das "Level der mittleren Komplexität" zuzumuten ist, reduziert der Medienberater die "Komplexität" der postmodernen Welt auf einfache Faustformeln: "Ich gebe zunächst eine Ultrakurzcharakteristik dieser drei Welten"... Ein danach gibt es aber nicht. Wer jenseits der Gutenberggalaxis die Orientierung verloren hat, läßt sich kurzerhand von "Sachbüchern" die "Komplexität reduzieren". Bolz empfiehlt: "Wenn Sie über die Medienwirklichkeit Bescheid wissen wollen, müssen Sie nur regelmäßig die Bücher von Bolz lesen". So spenden auch die Bücher von Bolz dem verunsicherten Leser "den Trost der Überschaubarkeit", obschon die Message dieser Bücher gerade umgekehrt der Hinweis auf die Hyperkomplexität der modernen Gesellschaft ist. Aber nicht die Message macht das Medium, sondern das Medium ist die Message. "Ein Buch hat Anfang und Ende", und das hilft schon ein wenig im "Alltag der virtuellen Wirklichkeit".
Es ist eine rhetorische Meisterleistung des Buches, daß es am Anfang die "Sinnkrise" auf die Komplexität der Gesellschaft bezieht und damit strukturell unlösbar an die Moderne koppelt, um am Ende ausgerechnet "Design" als "Lösung" des "Sinnproblems" zu empfehlen. "Wenn es unserer Kultur überhaupt an etwas fehlt, dann [...] an Design." Denn nur "Design verschafft und ist selbst Orientierung. Deshalb hat das Design niemals ein Sinnproblem, sondern ist seine Lösung." Was man unter Design zu verstehen hat, mag die Arbeitsbeschreibung des Geisteswissenschaftlers der Zukunft verdeutlichen: "Die Zukunft des Philosophen auf dem Arbeitsmarkt der Begriffe liegt im Theoriedesign. An Stelle ewiger Wahrheiten kalkuliert er die Halbwertzeit und das Verfallsdatum von Theorien."
"Was wir brauchen", so die Lösung, "ist nicht ein Mehr an Wissen", nicht noch "mehr an Daten und Informationen", sondern mehr an "Orientierung": "Ich nenne das Wissensdesign". Dem - wir erinnern uns - über die "Komplexität", die "Kontingenz" und die "Intransparenz" der Gesellschaft beunruhigten Leser wird nun der "Königsweg zu Macht und Erfolg" gewiesen, der in den Schlüsselbegriffen "Navigation und Infomapping" begründet liege. Wer hier einen Widerspruch sehen will, dem ist zu widersprechen. Denn Bolz' autologisches Konzept hat dies vorhergesehen und eingebaut: "Gurus, die sich auch gerne Trendscouts, Zukunftsforscher oder Unternehmensberater nennen, treten oft mit dem Pathos des Namengebers auf, der die Schlüsselbegriffe des 21. Jahrhunderts prägt. Doch was so entsteht, sind Placebos, nicht neue Denkfiguren." Genau so ist es.
Norbert Bolz: "Die Sinngesellschaft", Econ Verlag, Düsseldorf 1997, 256 Seiten, 58,- DM.