Ungarn und Polen: Knackpunkt Putin
Seite 3: "Hör zu Viktor, weißt du eigentlich was in Mariupol los ist?"
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- Zwei Flüchtlingskrisen, zwei Wege
- "Hör zu Viktor, weißt du eigentlich was in Mariupol los ist?"
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Diese Frage stellte Wolodymyr Selenskyj dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán bei einer Live-Schaltung anlässlich des EU-Gipfels am 24. März 2022:
"In Mariupol geschieht ein Massenmord und wenn du in deine eigene Geschichte zurückblickst, dann weißt du gut, wie so etwas ausgeht."
Einige Tage später, bereits nach seinem Wahlsieg, reihte Orbán den ukrainischen Staatschef Selenskyj neben "Linken im In- und Ausland, Brüsseler Bürokraten, Geldern und Organisationen von George Soros und internationalen Mainstream-Medien" in die Riege seiner "zahlreichen Gegner".
Fidesz und ihrer Propagandamaschine ist es seit 2014 gelungen, in Ungarn, das durch traumatische historische Erfahrungen mit der Sowjetdominanz gezeichnet, tendenziell antirussisch war, eine Russland-freundliche Atmosphäre aufzubauen. Gleichzeitig wurde in den Staatsmedien massiv gegen die Ukraine Stimmung gemacht, mit der Botschaft einer vermeintlichen Hetze gegen die ungarische Minderheit in der Ukraine.
Für den ungarischen Durchschnittswähler ist Wojciech Przybylski zufolge gar nicht klar, wer im Krieg in der Ukraine der Aggressor ist. Dieser denkt, dass beide Seiten im gleichen Maße am Konflikt Schuld tragen und dass Russland sich gegen Provokationen der Ukrainer zu Wehr setzt. Deswegen blieb die Botschaft der Opposition, der Urnengang wäre eine Wahl zwischen dem Westen und Russland, für die meisten Ungarn unverständlich.
Bruch unter Freunden
Bis zum Ausbruch des Kriegs in der Ukraine verblieb Orbán nur noch ein einziger treuer Verbündeter in der EU – das von PiS regierte Polen. Doch damit ist nun Schluss. PiS hatte bislang stets eine Delegation zu den Feierlichkeiten anlässlich des ungarischen Nationalfeiertags entsandt, doch dieses Jahr kam es anders.
Ein polnischer Honorarkonsul trat aus Protest zurück und die vereinte ungarische Opposition lud stattdessen Donald Tusk, den Orbán als "einen schwarzen Kater, der Unglück bringe" bezeichnete, zur Staatsfeier ein.
Selbst Politiker des polnischen Regierungslagers kritisieren mittlerweile Orbán scharf. So erklärte der polnische Präsident Duda am Tag nach dem Besuch des US-Präsidenten Biden in Warschau, dass es ihm zunehmend schwerfalle, Orbáns Russland-Politik zu verstehen. Orbán hätte Ungarn von russischer Energie abhängig gemacht und diese Politik werde für das Land sehr kostspielig werden.
Jarosław Kaczyński distanzierte sich nach dem Massaker von Butscha noch schärfer von Orbán: "Wir können nicht mehr wie bisher kooperieren", sagte er gegenüber dem polnischen Radio Plus und weiter:
"Ich verheimliche es nicht, dass es alles sehr traurig ist. Mein Urteil ist eindeutig negativ. Wenn Premierminister Orbán sagt, dass er nicht sehe, was in Butscha passiert ist, dann muss man ihm raten, einen Augenarzt aufzusuchen."
Wojciech Przybylski spricht in Zusammenhang mit Viktor Orbáns Wahlerfolg von einem Pyrrhussieg. Indem dieser die Außenpolitik seines Landes den russischen Interessen untergeordnet hat, hat er den Vertrauensverlust seiner polnischen Verbündeten riskiert.
Das werde für die Zukunft massive Konsequenzen nach sich ziehen, etwa beim gemeinsamen Kampf gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU oder beim Hochziehen einer Koalition rechtsnationaler Parteien, zusammen mit Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Matteo Salvini und Marine Le Pen im EU-Parlament. Orbán habe sich selbst von der politischen Bühne weggeschossen und werde nun isoliert. Es werde für ihn auch immer schwerer, die EU-Fonds anzuzapfen, da er für die EU zu einem restlos unglaubwürdigen Partner geworden wäre.
Ungarns Szenario für Polen?
Bis vor wenigen Monaten dominierte die PiS in sämtlichen Meinungsumfragen. Die Aushebelung des Verfassungsgerichts, die Gleichschaltung öffentlich-rechtlicher Medien, katastrophale Personalentscheidungen, wie etwa im Falle des Verteidigungs- oder Außenministers, Gewalt gegen protestierende Frauen, ein Dauerkampf gegen unabhängige Medien, all das vermochte nicht, den Erfolg der PiS im sozialen Bereich zu überschatten.
Seit Beginn dieses Jahres äußern jedoch immer weniger Menschen bei der Sonntagsfrage die Absicht, der PiS ihre Stimme zu schenken. Die Unterstützung für Kaczyńskis Partei hat sich auch angesichts des Krieges im Nachbarland und eines kurzwirkenden nationalen Schulterschlusses bei 30 Prozent, 13 Prozentpunkte unter jener bei der letzten Parlamentswahl eingependelt.
Am 21. März 2022 lud Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Führer der Oppositionsparteien in sein Büro ein, um sich angesichts des Ukraine-Krieges gemeinsam zu beraten. Der Regierungschef und der für die nationale Sicherheit zuständige Vize-Premierminister Jarosław Kaczyński trafen sich erstmals nach vielen Jahren mit Donald Tusk, dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei Platforma Obywatelska.
Seit Monaten wird über einen möglichen Bruch innerhalb der rechten Koalition aus PiS und dem Juniorpartner "Solidarisches Polen" des ultrarechten Justizministers Zbigniew Ziobro spekuliert. Auch Donald Tusk gewann nach dem Treffen im Amt des Premierministers den Eindruck, dass PiS mit vorgezogenen Wahlen noch im kommenden Sommer rechne.
Vordergründig könnte Kaczyński die Notwendigkeit vorgezogener Neuwahlen als Resultat des innerkoalitionären Streits um die Justizreformen erklären; Ziobro blockiert jeden Kompromiss mit der EU und damit auch die Freigabe an Polen der insgesamt 58 Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds. Ziobro stellt sich aber auch dem Kompromissvorschlag des Staatspräsidenten Andrzej Duda in den Weg.
Der Rausschmiss Ziobros aus der Koalition könnte so Neuwahlen notwendig machen, außer, eine Partei aus der Opposition erklärt sich bereit, gemeinsam das PiS-"Reformwerk" fortzuführen – ein eher unwahrscheinliches Szenario.
Kaczyński könnte Neuwahlen als ein notwendiges Übel verkünden, um in Wahrheit dadurch bloß die Flucht nach vorne zu ergreifen und die für seine Partei günstige Stimmung zu nutzen. Ihm ist bewusst, dass sich Polens wirtschaftliche Lage im Herbst verschlechtern werde. Die hohe Inflation, eine unweigerliche Erhöhung der Kreditraten und zunehmende Probleme mit Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine, die in Polen Zuflucht fanden, könnten die Stimmung bis dahin kippen.
Für die Verkürzung der Legislaturperiode des Sejm, des polnischen Parlaments, und damit auch für vorgezogene Wahlen bedarf es der Zweidrittelmehrheit, also auch der Zustimmung der Opposition. Diese wäre laut Klubchef der Bürgerplattform Borys Budka für Neuwahlen jederzeit bereit.
Doch die Opposition stellt eine Vorbedingung: Wechsel an der Spitze des Staatsrundfunks TVP. Dieser wäre unter dem Intendant Jacek Kurski zu einer Propagandatube der Regierungspartei verkommen und würde der Opposition, ähnlich wie in Ungarn, keinen fairen Zugang garantieren.
Die Opposition bringt sich jedenfalls in Stellung. Donald Tusk versucht bereits ein Wahlbündnis aller Oppositionsparteien zu schmieden. Er hofft, dass vorgezogene Wahlen deren Chefs zur Zusammenarbeit motivieren würden. Ohne das gemeinsame Vorgehen abzuwarten, hat Tusk den Wahlkampf bereits jetzt schon eröffnet: er verspricht, nach seinem Sieg die Löhne im öffentlichen Sektor um 20 Prozent anzuheben.