Ungarn und Polen: Knackpunkt Putin

Seite 2: Zwei Flüchtlingskrisen, zwei Wege

Ein wesentlicher Katalysator der Wahlerfolge Orbáns und Kaczyńskis war die Flüchtlingskrise von 2015. Beide konnten aus ihr reichlich politisches Kapital schlagen, obwohl Polen die ungarische Erfahrung, als Hunderttausende Flüchtlinge auf ihrem Weg Richtung Westen durch das Land zogen, erspart blieb.

PiS und Fidesz hatten die Flüchtlingskrise zum Hochstilisieren eines äußeren Feindes genutzt. Seitdem spielen beide Parteien mit diffusen Ängsten ihrer Bevölkerungen. Über die staatlich kontrollierten Medien verbreiten sie eine harsche antiislamische Propaganda und erzeugten so bei einem beträchtlichen Teil ihrer Gesellschaften eine Stimmung der Angst vor außereuropäischen Migranten. Seitdem lassen sie sich als Garanten einer sicheren und terrorfreien Zone, als Schutzschirm gegen Fremde und als Verteidiger "christlicher Werte" feiern.

Die Nachrichten der Staatssender beider Länder verbreiten plumpe Propaganda, wobei im russischfreundlichen Ungarn, im Unterschied zu Polen, die Positionen des Kremls nahezu 1:1 übernommen werden. Zudem hatte sich Viktor Orbán einen weiteren Feind vorgeknöpft: George Soros.

Dem ungarnstämmigen 87-jährigen Holocaust-Überlebenden und Förderer liberaler Institutionen und Bildungsanstalten in Osteuropa wurde unterstellt, er wolle mit seinem Geld Millionen von Moslems nach Europa schleusen, um die Europäer ihrer christlichen und nationalen Identität zu berauben.

Die von Soros 1991 mitgegründete Zentraleuropäische Universität, die in Budapest angesiedelt war und zum Ziel hatte, offene Gesellschaften in Ost- und Mitteleuropa zu fördern, musste auf Druck der Orbán-Regierung Ungarn verlassen und nach Wien zwangsumsiedeln.

Orbán hatte alle bedeutsamen Zeitungen und TV-Stationen unter seine Kontrolle gebracht und gleichgeschaltet. Kritische Printmedien – etwa 500 Titel und Radio- und TV-Sender – wurden von regierungsnahen Geschäftsleuten aufgekauft und auf Linie gebracht bzw. geschlossen.

Die so gleichgeschalteten Zeitungen wiederholten die gleichen Schlagzeilen, Bilder und politische Inhalte. Auch die Werbebranche wird von regierungsnahen Unternehmen dominiert, sodass bis zu 90 Prozent der Werbeflächen für Regierungsbotschaften genutzt werden. Hinzu kommt ein groß angelegtes Mikrotargeting durch soziale Medien.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz OSZE, sprach in diesem Zusammenhang von Unredlichkeit und ließ demokratische Standards bei den Wahlen vermissen. Wojciech Przybylski, Chefredakteur von Visegrad Insight und Mitautor des 2017 erschienenen Buches "Understanding Central Europe" bezeichnet die Wahlen als frei, aber dennoch unfair.

Mehr als unfair war auch der Medienzugang der Opposition während des jüngsten Wahlkampfs. Ihr Spitzenkandidat Péter Márki-Zay hatte für seinen Fernsehauftritt gerade mal fünf Minuten zugesichert bekommen, bis Mitte März wurden Vertreter der Opposition nur acht Mal ins Fernsehstudio eingeladen. Damit hatten sie auch kaum Chancen, ihr programmatisches Wahlangebot zu präsentieren. Auch NGOs wurden in Orbáns Ungarn bei ihrer Arbeit massiv gehindert und mit hohen Steuern belegt.

In Polen ist die Medienvielfalt größtenteils erhalten geblieben, trotz mehrerer Versuche der Einschüchterung und Kontrollübernahme durch die PiS. Inzwischen erreichen kommerzielle regierungskritische Sender eine höhere Reichweite als die staatlichen Kanäle. Laut Internetportal wirtualnemedia.pl ziehen die Hauptnachrichtensendungen der Sender TVN und Polsat jeweils mehr Zuseher an als jene des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Die zweite große Flüchtlingskrise, diesmal infolge der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, verdeutlichte die Unterschiede in der Haltung beider Staaten gegenüber Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin.

Während Polens Regierung sich von Tag eins an klar auf Seite der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland schlug und ihr Land in einen gigantischen Hub für den militärischen und wirtschaftlichen Nachschub für die ukrainischen Streitkräfte und für notleidende, vor dem Krieg geflüchtete Ukrainer verwandeln ließ, unter Einbezug sowohl offizieller Stellen als auch der Zivilgesellschaft, hatte Orbáns Ungarn gänzlich andere Signale ausgesendet.

Das Land hat sich geweigert, Waffenlieferungen des Westens für die Ukraine über sein Gebiet zuzulassen. Orbán begründete diese Entscheidung damit, dass er die Sicherheit der in der Westukraine lebenden 100.000 ethnischen Ungarn nicht gefährden wolle. Zwar hatte der ungarische Premierminister die erste Welle der EU-Sanktionen gegen Russland mitgetragen, doch die Verurteilung des russischen Angriffskriegs erfolgte spät und sie klang aus seinem Mund mutlos und halbherzig.

"Wir verurteilen den Krieg, vor allem, dass er hier in unserem Nachbarland stattfindet. Wir sagen Nein zur Gewalt und wir stehen zu unseren Verbündeten. Doch das Allerwichtigste ist, dass Ungarn sich aus diesem Kriegskonflikt heraushält", sagte Orbán bei einem Treffen mit Bauernvertretern.

Der ungarische Finanzminister Mihaly Varga sagte in einem Facebook-Video, dass seine Regierung keine Sanktionen auf russische Energieträger unterstützen werde. Als Grund nannte er den angeblich negativen Einfluss solcher Maßnahmen auf den ungarischen Forint: "Die ungarische Währung ist Opfer der Brüsseler Sanktionen, die der ungarischen Wirtschaft einen schwerwiegenden Schaden zugefügt haben." Orbán wiederum forderte bei einer Wahlkampfrede:

"Die ungarischen Familien sollen nicht mit höheren Energiepreisen den Preis für den Krieg im Nachbarland bezahlen."

Beobachtern zufolge wurde in Ungarn die Hilfsbereitschaft für die vor dem Krieg fliehenden Ukrainer in erster Linie von Privatpersonen getragen. Es war die Zivilgesellschaft, die die Koordination der Hilfsmaßnahmen übernahm, während die Regierung auf den Ansturm völlig unvorbereitet war und auch nur zögerlich reagierte.