Ungarn und Polen: Knackpunkt Putin

Polen und Ungarn. Willem Baur, 1590. Bild: Wikimedia/gemeinfrei

Ukrainekrieg: Die "Cousins" mit einer langen gemeinsamen Geschichte gehen getrennte Wege

Vor allem sollten zwei Lehren aus der ungarischen Wahl gezogen werden. Die erste: Hände weg vom Verhältniswahlrecht. Denn nur dank dem Mehrheitswahlrecht konnte Fidesz Zweidrittel der Parlamentssitze für sich erlangen. Auch die polnische rechtskonservative Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) liebäugelte mit einer entsprechenden Verfassungsänderung. Die zweite Lehre: Das Gebot, gemeinsame Oppositionskandidaten aufzustellen.

In beiden Ländern war die Opposition zerstritten und die einzelnen Akteure verfolgten viel mehr ihre politischen Interessen als sich hinter eine gemeinsame Idee zu vereinen. Die Parteien der polnischen Opposition hatten diese Warnung in den Wind geschlagen und verloren bei den Parlamentswahlen vom Oktober 2019 zum zweiten Mal in Folge gegen die PiS.

Am Wahlsystem, das Orbán an seine Erfordernisse angepasst hatte, konnte die ungarische Opposition nicht rütteln, doch zumindest im zweiten Punkt zog sie ihre Lehren für sich und schloss sich für die Parlamentswahl vom 3. April 2022 zum Wahlbündnis "Ungarn in Einheit" zusammen. Spitzenkandidat Péter Márki-Zay konnte sich gegen die regierende Fidesz dennoch nicht durchsetzen und das Parteibündnis verlor mit 35 zu 53 Prozent der Stimmen. So kann Viktor Orbán nun seine vierte Amtszeit antreten.

Brüder im Unglück

Trotz Unterschieden in Sprache und Kultur verbindet Polen und Ungarn eine lang zurückreichende Geschichte der Völkerfreundschaft. Mit Stephan Báthory wurde im 16. Jahrhundert ein Ungar zum polnischen König gekrönt und in der Ostblock-Phase herrschte ein reger Austausch zwischen den beiden Ländern. Eine gängige polnische und ungarische Redewendung spricht von Polen und Ungarn als zwei "wehrhaften und trinkfesten Cousins bzw. Freunden".

Polen und Ungarn hatten Ende der 1980-er Jahre als erste Staaten des ehemaligen Ostblocks den Systemwandel in Osteuropa eingeleitet und sich dem wirtschaftlichen Neoliberalismus voll und ganz verschrieben. So mag es kein Zufall gewesen sein, dass gerade sie es waren, die ein Vierteljahrhundert später mit der Kür rechtskonservativer Traditionalisten eine Art Avantgarde bildeten beim Ad-acta-Legen des neoliberalen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Experiments.

Während die Polen angesichts der desaströsen Wirtschaftslage in den 1980-er Jahren das kommunistische Regime auf der Straße bekämpften und es 1989 am Runden Tisch zur Machtaufgabe zwangen, arrangierten sich die Ungarn mit ihrem bescheidenen Wohlstand des "Gulaschkommunismus". In Budapest erkannten pragmatische Kommunisten die Zeichen der Zeit und gaben ihre Macht freiwillig ab.

Bald nach der Wende stieg Ungarn zum neoliberalen Musterschüler auf, während Polen zunächst mit ungleich größeren Strukturproblemen, Massenarbeitslosigkeit und massiven sozialen Verwerfungen zu kämpfen hatte. Als sich mit der Zeit in beiden Ländern eine wohlhabende Mittelschicht ausbildete, verharrten dennoch Millionen weiterhin in Armut. Diese Wendeverlierer wurden lange Zeit vom politischen und medialen Mainstream an den Rand und in die Bedeutungslosigkeit gedrängt und verhöhnt und wurden so zu einer leichten Beute für Populisten.

PiS-Vorsitzender Jarosław Kaczyński erklärte in der Vergangenheit immer wieder, dass Ungarns Ministerpräsident für ihn und für seine Vision für Polen ein großes Vorbild darstelle. Er unterstützte Orbán in dessen früheren Wahlkämpfen persönlich und vor Ort. "Ich bin ganz davon überzeugt, dass wir eines Tages in Warschau Budapest haben werden", sagte Kaczyński, als er noch in Opposition war. Dieses Ziel hat er 2015 schließlich erreicht.

Krzysztof Varga, polnischer Kolumnist mit einem ungarischen Vater, sprach 2018 in diesem Zusammenhang mehr von einem Mythos als einer echten Völkernähe. In seinem Interview für den Deutschlandfunk sagte er:

Das Fundament der nationalen Identität in diesem Teil Europas heißt Unglück. Sowohl Polen als auch Ungarn schwelgen gern im Martyrium, beide sind Brüder im Unglück, gequält von Repressionen, stecken fest in der Geschichte. Die Zukunft scheint für sie weniger interessant zu sein als die Vergangenheit.

Krzysztof Varga

Die demonstrative Völkerfreundschaft trage heute, so Varga, nur noch die politische Rechte weiter. Selbst die Visegrád-Idee sei zu einer Worthülse verkommen. Die einzige Frage, die die Visegrád-Staaten verband, war jene der Verteilungsquote für Flüchtlinge. In anderen Belangen, etwa beim Verhältnis gegenüber Russland, verfolgte jedes Land seine eigenen Interessen.

Orbán: Treues Verhältnis zu Putin

Während die polnische Regierung seit ihrem Amtsantritt praktisch alle diplomatischen und kulturellen Verbindungen mit Russland auf ein Minimum niederfahren ließ, pflegte Orbán wie kein anderer Regierungschef Europas ein sehr enges und treues Verhältnis zum russischen Präsident Wladimir Putin. Seit 2009 trafen sich die beiden Staatschefs nahezu jährlich, zuletzt Anfang Februar 2022, nur wenige Wochen vor der russischen Invasion in der Ukraine.

Von seiner offiziell als "Friedensmission" bezeichneten Reise nach Moskau kehrte der ungarische Ministerpräsident mit einem neuen Gasliefervertrag und Garantien für Gasimporte weit unter dem marktüblichen Preis nach Budapest zurück. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz betonte Orbán die Nutzlosigkeit der EU-Sanktionen gegen Russland und lobte die gute ungarisch-russische Kooperation als beispielsgebend für andere EU-Staaten.

Auch 2014, kurz vor der Krim-Annexion, war Orbán auf Staatsbesuch in Russland, wo er Kooperationsverträge unterzeichnete, darunter über den Bau eines russischen Atomkraftwerks in Ungarn. Der Vertrag und die Finanzierung des Projektes gelten als Staatsgeheimnis. Orbán hatte sich daraufhin zunehmend dem Westen, der seiner Ansicht nach dekadent geworden sei, abgewandt. Fortan sah er die Zukunft seines Landes besser im Verbund mit Russland und China aufgehoben.

Die Erlöser

Wirtschaftsliberale Politiker der Nachwendezeit waren von einer tiefen ideellen Blockade geprägt – etwa der junge Viktor Orbán in Ungarn oder der Vater der polnischen "Schock-Therapie" Leszek Balcerowicz, aber auch Donald Tusk. Sie alle waren von neoliberalen Vordenkern des 20. Jahrhunderts, die sie aus der Oppositionsliteratur kannten, stark beeinflusst. Diese lieferten ihnen die "Roadmaps", die ihre Staaten in Richtung einer erfolgreichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation leiten sollten.

Die gesellschaftliche Entwicklung hielt mit der raschen wirtschaftlichen und der Werte- Liberalisierung nicht Schritt. Diese wurde ohnehin zumeist von urbanen Eliten und an sie gerichteten Massenmedien vorangetrieben. Die Gesellschaften Polens und Ungarns blieben noch über Jahre nach der politischen Wende demoralisiert, desorientiert und mit ihren existenziellen Sorgen in einer neuen Wirklichkeit des liberalen Kapitalismus zurück. Debatten über Gender, Homoehe, aber auch Umwelt- und Tierschutz waren für die meisten abseits der urbanen Intellektuellen-Blasen abstrakte Themen.

Sowohl Viktor Orbáns Fidesz als auch die PiS wurden auf der Welle der Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsteile mit den negativen Folgen des Transformationsprozesses an die Macht gespült. Beide traten mit dem Versprechen an, den Wendeverlierern unter die Arme greifen zu wollen, ihnen Stolz und Achtung zurückzugeben, ihre Nationen "von den Knien zu heben".

PiS und Fidesz bedienten gezielt Frustrationen der Zukurzgekommenen und sprachen Probleme, die den Menschen am Herzen lagen, besser an als es ihre wirtschaftsliberalen Vorgänger vermochten. Mit "500 plus", dem Kindergeldprogramm der PiS, wurden mit einem Schlag die gröbsten Sorgen kinderreicher Familien, welchen das Geld oft nicht mal für den Schulbedarf reichte, gelöst.

Ein großangelegtes Sozialwohnbauprogramm, Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung einer Reichensteuer sollten ebenfalls der Armutsbekämpfung dienen. In Polen war es vor allem die erfolgreiche Sozialpolitik, die der PiS den Machterhalt sicherte, während hingegen der ideologische Überbau Kaczyńskis einen überschaubaren, eisernen Teil des PiS- Elektorats interessierte.

Orbáns Modell der "illiberalen Demokratie" stützte sich hingegen auf eine breite Unterstützung im ungarischen Volk. Ausländische Beobachter orteten bei der Mehrheit der Ungarn ein Bedürfnis nach rechten Ideologien. Dies hängt mit der Vorgeschichte zusammen. Als Orbán 2010 die Sozialisten unter Ferenc Gyurcsány als Premierminister beerbte, taumelte sein Land am Rande des Staatsbankrotts.

Die Empörung in Ungarn war groß, als Gyurcsány in einer parteiinternen Rede, die nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt war, das Versagen des Staates und jahrelanges Belügen der Öffentlichkeit zugab. Hinzu kamen schwere Korruptionsvorwürfe gegen den Premierminister. Massendemonstrationen, die von brutaler Polizeigewalt begleitet waren, beschleunigten seinen politischen Abgang.

Nach dem Wahlsieg der Fidesz unter Viktor Orbán galt es zunächst, den Staatshaushalt zu stabilisieren. Hierzu wurde auf Staatsinterventionismus gesetzt. Die Steuern auf Einkommen wurden auf 16 Prozent und für kleine und mittlere Unternehmen auf 10 Prozent gesenkt. Auf der anderen Seite wurde mit einer Bankenabgabe Geld ins Budget gespült.

Einige der ungarischen Lösungen, wie etwa eine Steuer auf großflächige Supermärkte, wurden später auch in Polen implementiert. Doch Orbáns Wirtschafts- und Sozialpolitik ging wesentlich weiter. Wie Dorottya Szikra und Mitchell A. Orenstein vom Project Syndicate darlegen (Warum Orbán wieder gewonnen hat) ließ Fidesz den Mindestlohn kontinuierlich, zuletzt um 20 Prozent anheben, Familien erhalten nunmehr großzügige Förderungen für Wohnraumbeschaffung oder beim Kauf eines Pkws und ab diesem Jahr auch die Rückerstattung der Einkommenssteuer.

Kinderreiche Familien wurden von letzterer sogar weitgehend befreit. Die wirtschaftliche Erholung war Orbán gelungen. Die Arbeitslosigkeit lag nicht zuletzt dank eines groß angelegten öffentlichen Arbeitsprogramms für Menschen in ärmeren ländlichen Gebieten sowie dank Steueranreizen für Großunternehmen vor der Corona-Pandemie auf einem historischen Tief. Freilich spielten auch die EU-Transfers, die bis zu 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, eine bedeutende Rolle.

Die meisten Ungarn spürten seit dem Machtantritt der Fidesz eine deutliche Besserung ihres Lebensstandards. Dieses Jahr kamen noch weitere, wohl mehr den aktuellen Ereignissen geschuldete Maßnahmen hinzu; Orbán konnte dank seines Vertrages mit Gazprom die Gas- und Spritpreise stabil halten und er ließ Preise auf einige Grundnahrungsmittel einfrieren – so hat er es geschafft, die Inflation niedrig zu halten.

Die Gründe für die meisten Ungarn Fidesz zu wählen, waren also jenen der polnischen PiS-Wähler durchaus ähnlich, es ging in beiden Fällen um das finanziell-materielle Wohlergehen breiter Bevölkerungsschichten. Die liberale Opposition in beiden Ländern hatte bis dahin dieser Politik nicht viel entgegenzusetzen, ganz im Gegenteil – im ungarischen Wahlkampf verhöhnte sie Orbáns Sozialpolitik.

Zeitgleich mit den populären Sozial- und Arbeitsmarktreformen wurde, wie später in Polen, auch in Ungarn der Spielraum des Verfassungsgerichts beschnitten, hauptsächlich bei sozialen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen.

Von Anfang an vertrat Orbán neben einer pro-familiären- auch eine pro-kirchliche Linie. In die neu ausgearbeitete Verfassung wurden Begriffe wie Ehre, Familie, Christentum und Nationalstolz aufgenommen, die Kirche erhielt von der öffentlichen Hand reichlich Zuwendungen. Die katholische Kirche hatte in Ungarn dennoch bei Weitem nicht jenen Einfluss auf die Tagespolitik, wie es in Polen der Fall ist.

Auch in Polen spielte die sogenannte Abhöraffäre für die Abwahl der liberalkonservativen Platforma Obywatelska (Bürgerplattform, kurz PO) von Donald Tusk eine wesentliche Rolle. Dennoch, mit der Wahl von Andrzej Duda zum Staatspräsident und dem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 übernahm PiS das Steuer in einem wirtschaftlich äußerst erfolgreichen Land, mit einer historisch niedrigen Arbeitslosigkeit, einer moderaten Staatsverschuldung und einer stabilen Budgetlage.

Die Staatskasse war gut gefüllt, wodurch es PiS möglich war, das großzügige Sozialprogramm zu finanzieren.