Ungleichbehandlung ohne Grund?
Seit gestern verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Fünfprozenthürde bei Europawahlen
Gestern fand beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die erste mündliche Verhandlung zur Zulässigkeit der Fünfprozenthürde bei Europawahlen zu. Geklagt hat unter anderem der bekannte Verfassungsrechtler und Parteienkritiker Hans-Herbert von Arnim, dem auffiel, dass das für die Sperrklausel vorgebrachte Argument, sie sei für stabile Mehrheiten notwendig, auf Europaebene schon alleine deshalb gar nicht greifen kann, weil dort das Parlament gar keine Regierung wählt. Hinzu kommt, dass das zwischen Straßburg und Brüssel hin- und herreisende Gremium durch die insgesamt 162 dort vertretenen Parteien aus vielen verschiedenen Ländern, in denen es häufig keine entsprechenden Einzugsschwellen gibt, ohnehin zersplittert ist.
Und obwohl die Begründung für sie auf Europaebene gar nicht greift, verzerrt die Hürde das Ergebnis der Wahl erheblich: Beim letzten Mal fielen – wie Arnim vor Gericht ausführte - die Stimmen von etwa 2,8 Millionen Bundesbürgern, die kleinere Parteien gewählt hatten, nicht nur unter den Tisch, sondern wurden indirekt etablierten Parteien zugeschlagen, wodurch CDU, SPD und Grüne jeweils zwei und FDP und CSU jeweils einen Abgeordneten mehr in das Europaparlament entsenden konnten. Aus diesem Grund ist es auch wenig verwunderlich, dass die im Bundestag vertretenen Gruppierungen bisher keinerlei Anstalten machten, § 2 Absatz 7 des deutschen Europawahlgesetzes anzupassen und auf diese Weise ihr Oligopol zu gefährden.
Dieses Oligopol ist bei Europawahlen unter anderem deshalb besonders gefährdet, weil sie sich gut als Experimentierfeld eignen: Da der Entscheidungsspielraum des Gremiums sehr begrenzt ist, die Wahlbeteiligung traditionell niedrig liegt, und die etablierten Parteien sich in ihren Positionen zu europapolitischen Fragen noch weniger unterscheiden als sonst, ist die Motivation, etwas Neues zu wagen, für viele Bürger höher als bei nationalen Wahlen.
In anderen Ländern als Deutschland ist das Parteienoligopol bei Europawahlen schon deutlich aufgeweicht: In Großbritannien erreiche die (bei nationalen Parlamentswahlen relativ unbedeutende) UK Independence Party 2009 etwa so viele Stimmen wie die damals regierende Labour Party und in Österreich steigerte die korruptionskritische Liste Hans-Peter Martin ihr 2004 vielerorts als Ausnahmeerscheinung gewertetes Ergebnis von 14 Prozent vor zwei Jahren auf fast 18.
Darauf, dass Arnims Vorstoß keineswegs chancenlos ist, deutet das Schicksal der Fünfprozenthürde im Kommunalwahlrecht hin: 2008 erklärte sie das Bundesverfassungsgericht in Schleswig-Holstein für grundgesetzwidrig, nachdem dort die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten eingeführt worden und die Begründung für die Klausel damit Makulatur geworden war. In vielen deutschen Bundesländern müssen sich die Wähler auch nicht mit starren Parteilisten abfinden, sondern können ihre Stimmen (teilweise auch zwischen verschiedenen Parteien) auf einzelne Kandidaten verteilen. Dieses Kumulieren und Panaschieren will Arnim auch bei Europawahlen erlaubt sehen.
In ihrer vor drei Jahren gefällten Entscheidung zum Bundeswahlgesetz, das wegen der Überhangmandatsregelung gegen das Grundgesetz verstößt, setzten die Richter der Regierung eine Frist bis zum 30. Juni 2011, um das Wahlgesetz entsprechend zu ändern. Da der Vertrag von Lissabon für das Europaparlament aber ohnehin eine Neuzusammensetzung während der laufenden Legislaturperiode vorsieht, könnte das Bundesverfassungsgericht in dem nun verhandelten Fall aber auch zu dem Ergebnis kommen, dass nur bedingt Bestandsschutz besteht und es den Betrieb nicht unverhältnismäßig stört, wenn Abgeordnete der etablierten Parteien ihr Mandat aufgeben und Kandidaten kleinerer Parteien zur Verfügung stellen müssen.
Profitieren würden von solch einer Regelung die Freien Wähler, die zwei Abgeordnete in das Europaparlament entsenden könnten, sowie die Piraten, die ÖDP, die Tierschutzpartei, die Republikaner die Rentnerpartei und die Familienpartei, die jeweils einen Mandatsträger unterbrächten.
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