"Unser Geldsystem als ein kolossales Betrugs- und Irrtumssystem"

Der Schweizer Journalist und Verleger Christoph Pfluger über den systemischen Wahnsinn des Geldsystems

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Mit legalen und demokratischen Methoden sei das globale Finanzsystem nicht mehr zu retten. Zu diesem Schluss kommt Christoph Pfluger in seinem soeben erschienenen Buch "Das nächste Geld - die zehn Fallgruben des Geldsystems und wie wir sie überwinden". Die primäre Ursache ortet der Autor, der seit mehr als 25 Jahren über Geldfragen schreibt, in der Geldschöpfung durch die privaten Banken. Wenn sie einen Kredit verleihen, entsteht neben einem gleich bleibenden Guthaben nämlich auch eine Forderung, die mit dem Zins über die Zeit wächst.

Diese seit Jahrhunderten wirkende Asymmetrie ist die Ursache einer ganzen Reihe unerwünschter Entwicklungen mit Umverteilungen und Konflikten, die das globale Finanzsystem heute an die Grenze der Belastbarkeit gebracht haben. Sie ist auch der Grund, warum die weltweiten Geldschulden rund viermal größer sind als die kumulierte Geldmenge aller Volkswirtschaften.

Nach Ansicht des Autors befindet sich die Welt bereits in einem Zustand der Konkursverschleppung, in dem Vermögenswerte beschleunigt und unter Umgehung legaler und demokratischer Wege verschoben werden, und deren Fortentwicklung die Bürger inzwischen mit der Entscheidung konfrontiere: Diktatur oder Neubeginn.

Herr Pfluger, in Ihrer Streitschrift "Das nächste Geld" skizzieren Sie unser Geldsystem als ein kolossales Betrugs- und Irrtumssystem. Verstehe ich recht: Ursache der Finanz- und sozialen Krisen der letzten Jahre sind für Sie weniger "die Banken" oder "das Finanzkapital", sondern ist das Geldsystem an sich?
Christoph Pfluger: Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass nicht menschliche Mängel die primäre Ursache der Finanzkrise sind, sondern systemische Fehler. Den Vorwurf, den wir uns allerdings machen können, ist, die Augen vor diesen Fehlern zu verschließen.
Woran machen Sie diese Analyse denn fest? Im Buch nennen Sie ja "zehn Fallgruben des Geldsystems", die wohl als Hauptargumente Ihrer Kritik anzusehen sind…
Christoph Pfluger: Die primäre Ursache ist ein Mechanismus, dessen Gefährlichkeit schon die alten Römer kannten und der bis heute so perfektioniert wurde, dass ihn die meisten Menschen trotz seiner Einfachheit nicht mehr erkennen: die Geldschöpfung.
Die römischen Banken durften Depositen nicht verleihen - das Geld gehörte ja den Sparern. Genau dies aber machen die Banken seit dem ausgehenden Mittelalter. Eine Sache, zwei Besitzer - das hat nicht nur ein unlösbares juristisches Problem zur Folge, sondern auch eine ganze Reihe von anderen Schwierigkeiten.
Um welche Fallgruben und Schwierigkeiten handelt es sich denn?
Christoph Pfluger: Um sie zu erkennen, muss man den Geldschöpfungsmechanismus verstehen, und der läuft heute so ab: Die Banken schöpfen neues Geld, jedes Mal, wenn sie einen Kredit verleihen. Dabei entsteht auf dem Konto des Kreditnehmers ein Guthaben, das es vorher nicht gegeben hat. Dieses geht in Zirkulation.
Gleichzeitig entsteht aber auch eine Forderung - Rückzahlung und Zinsen -, die mit der Zeit wächst. Es gibt also im Geldsystem zu jeder Zeit mehr Forderungen als konkrete Mittel, sie zu begleichen - eine Asymmetrie mit verheerender Wirkung.
Die Konsequenz daraus sind zehn Problembereiche, die sich wie folgt skizzieren lassen:
1. Rechtsunsicherheit: Obwohl Teil der meisten Verträge und Gesetze gibt es keine juristisch klaren Definitionen von Geld. Die gebräuchlichste Form, das Giraldgeld, ist nicht einmal gesetzliches Zahlungsmittel, sondern nur eine Forderung darauf.
2. Mangelnde Kontrolle: Die Geldschöpfung durch die privaten Banken wird faktisch nicht kontrolliert. Die Banken melden post factum die neu geschöpften Gelder der Zentralbank und beschaffen sich, falls überhaupt nötig, die erforderliche Mindestreserve von 2.5 Prozent bzw. in der Eurozone 1 Prozent.
3. Positive Rückkopplung: Die Geldschöpfung durch die privaten Banken wirkt prozyklisch anstatt antizyklisch. In Boomphasen wird die Geldschöpfung beschleunigt, in Krisenzeiten gebremst.
4. Benachteiligung der Nachhaltigkeit: Durch den Zins hängt der Geldwert von der Zeit ab. Unser Geld bevorzugt den schnellen Profit gegenüber dem nachhaltigen Nutzen. Langfristige ökologische Investitionen werden benachteiligt.
5. Wachstumszwang: Weil mit jedem Geldschöpfungsakt - also jeder Kreditvergabe - nicht nur eine bestimmte Menge neuen Geldes entsteht, sondern auch eine mit der Zeit größer werdende Forderung, muss die Finanzwirtschaft die entstehende Lücke nach dem Schneeballprinzip mit immer neuen Krediten schließen. Dies erzeugt einen Wachstumszwang, der bei Nichterfüllung schließlich zum Zusammenbruch des Geldsystems führt. Denn ein Geld aus Schulden, die nicht bezahlt werden, verliert jede ökonomische und juristische Grundlage.
6. Bevorteilung der Finanzwirtschaft: Weil Wachstum in der Realwirtschaft begrenzt ist, fließt der überwiegende Teil der neu geschöpften Gelder in die Finanzwirtschaft, wo jedoch keine Werte geschaffen, sondern nur für eine Erhöhung der Preise für Anlagegüter und Wertpapiere gesorgt wird.
7. Inflation: Weil das Wachstum der Kreditgeldmenge der Produktion der Realwirtschaft und der nominalen Wertsteigerungen in der Finanzwirtschaft immer vorauseilt, entsteht systemische Inflation. Die Profiteure dieser Entwicklung sind dabei die Erstbezüger der neuen Gelder, also die Kreditwürdigen, die noch zu den alten Preisen einkaufen können.
8. Zunehmender Wettbewerb: Weil aus systemischen Gründen immer zu wenig Geld da ist, um alle Forderungen zu begleichen und sich die Lücke fortwährend vergrößert, verschärft sich auch der Konkurrenzkampf um das ständig zu knappe Tauschmittel laufend. Er hat inzwischen die Kinderkrippen erreicht.
9. Umverteilung: Weil der Zins infolge der privaten Geldschöpfung gewissermaßen in unser Geld eingebaut ist, zahlen wir mit jeder Transaktion auch verborgenen Zins, im Durchschnitt rund 30 Prozent. Diese Umverteilung fließt von den Arbeitenden zu den Vermögenden, welche über die für die Geldschöpfung notwendige Kreditwürdigkeit verfügen.
10. Verschiebung der Risiken: Die unvermeidlichen systemischen Risiken der zinsbasierten Geldschöpfung durch die privaten Banken werden durch die Zentralbanken, die Politik und globale Finanzinstitutionen so lange verschleiert, bis sie zu groß sind, um mit legalen Mitteln entschärft werden zu können. Anstatt die Probleme jetzt zu lösen, verschiebt sie unser Geldsystem in die Zukunft.

"Wann immer wir zahlen, zahlen wir Zins"

Wie meinen Sie das genau, das Geld sei sozusagen aus systemischen Gründen ein "Konkurrenzbeschleuniger" und seine Wirkung hätte inzwischen die Kinderkrippen erreicht? Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun?
Christoph Pfluger: Weil es immer zu wenig Geld im System hat, versucht man, es sich bei den anderen Akteuren zu holen. Und weil die Forderungen exponentiell wachsen - Zins und Zinseszins! - wird dieser Konkurrenzkampf immer schärfer. Seit ein paar Jahrzehnten hat er eine Intensität erreicht, dass wir mit Recht von einer Wettbewerbsgesellschaft sprechen. Und heute werden schon Kleinkinder über die Frühförderung auf den globalen Wettbewerb am Arbeitsmarkt vorbereitet.
Wettbewerb in einem gewissen Maß ist zwar durchaus gesund. Aber die gesamte menschliche Gesellschaft darauf auszurichten, widerspricht den Gesetzen der Evolution, in der die Kooperation eine viel größere Rolle spielt. Der Mensch wird erst in liebevoller Gemeinschaft zum Menschen. Von Menschen, die wir fürchten oder hassen, lernen wir nur Zerstörung.
Während der Liberalismus noch ein einigermaßen durchdachtes Konzept der menschlichen Freiheit und ihrer zwingenden Begrenzung war, ist der Neoliberalismus nur noch eine oberflächliche Rechtfertigung, Begrenzungen niederzureißen und damit auch die menschliche wie soziale Freiheit zu zerstören. Bei Lichte besehen geht es im Neoliberalismus bloß um die Freiheit des nimmersatten Kapitals, nicht um jene des Menschen. Die Konsequenzen sind menschenverachtend.
Wenn man ihrer Analyse folgt, trägt das Geldsystem an sich bereits einen "Umverteilungseffekt" in sich. Das bedeutet: Das Geld allein sorgt dafür, dass die einen immer reicher und die anderen immer elender werden, verstehe ich recht? Die übliche Forderung nach "Umverteilung" löste dieses Dilemma, das ja ebenfalls auf menschenverachtende Verhältnisse hinausläuft, dabei ja keineswegs…
Christoph Pfluger: Weil das Geld als zinstragender, privater Kredit geschöpft wird, ist der Zins in allen Preisen enthalten, im Durchschnitt 30 bis 40 Prozent. Wann immer wir zahlen, zahlen wir Zins. Um festzustellen, ob wir auf der Gewinner- oder Verliererseite stehen, brauchen wir am Ende des Jahres nur die Bankauszüge und Versicherungsausweise anzuschauen: Wenn die Zinseinnahmen kleiner sind als ein Drittel unserer Haushaltsausgaben, gehören wir zu der Gruppe der Nettozahler von rund 85 Prozent der Bevölkerung.
Natürlich wird ein Teil dieses Kapitalstroms von unten nach oben durch Sozialleistungen aller Art gemildert. Es bleibt aber, wie Piketty im langjährigen Vergleich festgestellt hat, bei einem Kapitalgewinn von knapp 30 Prozent des jährlichen Volkseinkommens aufs Seiten der Vermögenden. Das ist nicht durchzuhalten, ohne einen breiten Teil der Bevölkerung in die Verarmung zu treiben - wenn sie nicht vorher revoltiert.

Neustart durch umfassenden Schuldenerlass ist notwedig

Das ist dann wohl auch der Grund, warum Sie in Ihrem Buch schreiben, es ginge aktuell um die Frage von "Diktatur oder Neustart". Was wird geschehen, wenn alles so bleibt, wie es ist? Warum ist ein grundlegender "Neustart" aus Ihrer Sicht so wichtig im Moment?
Christoph Pfluger: Es ist im Grunde ganze einfach: Weil das Geldsystem eine wachsende und prinzipiell grenzenlose Umverteilung erfordert, muss diese früher oder später mit Zwang durchgesetzt werden. Die Menschen geben ja nicht freiwillig ihre Lebensgrundlagen her. Dieser Zwang ist mindestens seit der Schuldenkrise der Drittweltländer in den 1980er Jahren offensichtlich.
Seit der Finanzkrise hat er nun definitiv auch Europa erreicht. Das Problem ist nur, dass die meisten Menschen die Zusammenhänge nicht erkennen. Dieser Zwang wird sich unter dem Motto "there is no alternative" zu einer ausgewachsenen Diktatur entwickeln. Weil die Schuldenmenge so viel größer ist als die Geldmenge, kann nur ein umfassender Schuldenerlass die Welt wieder ins Gleichgewicht bringen. Das läuft auf einen grundlegenden Neustart hinaus.
Wenn das aber so ist: Wieso ist derlei "grundlegende" Kritik dann so wenig verbreitet, wieso spricht nur hier und da mal irgendein Linker von dieser oder jener "Reform"?
Christoph Pfluger: Die Kritik nimmt ja glücklicherweise zu und erreicht langsam auch die Wissenschaft und die großen Medien, ist aber gemessen an der Bedeutung des Problems immer noch absolut ungenügend.
Über die Ursachen dieses Unverständnisses kann man nur spekulieren. Die Banken betreiben ihr Geschäft in Verschwiegenheit, seit es sie gibt. Wenn wir wüssten, dass sie ständig mit Forderungen herumjonglieren, die sie in globo gar nicht erfüllen können, wären sie ja schon vom ersten Tag an offiziell pleite.
Ein möglicher Grund liegt aber auch darin, dass der Geldschöpfungsprozess so einfach ist, "dass sich der Verstand dagegen wehrt", wie der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith es einmal treffend geschrieben hat. Ein weiterer Grund dürfte darin liegen, dass wir im reichen Westen ja davon zu profitieren scheinen, indem wir etwas erhalten, das es gar nicht gibt. Wie gibt man armen Menschen das Gefühl von Reichtum? Man gibt ihnen Kredit! Und so beschleunigt sich das Problem in einem fort.
Und wie sähe der alternative Plan, sähe ein solcher "Neustart" für Sie aus? Was müsste getan werde, geschehen?
Christoph Pfluger: Ein System für den wirtschaftlichen Austausch aufzubauen, ist relativ einfach. Es gibt Zehntausende von Systemen weltweit, die allerdings daran kranken, dass sie fast alle zu klein sind, um ihre Wirkung zu entfalten. Die Monopolwährungen sind einfach noch zu stark und zum Teil werden die Alternativen aktiv behindert.
Die Umstellung kann relativ schnell gehen. Drei Monate nach dem Staatsbankrott von Argentinien Ende 2001 bestand bereits einer Drittel der umlaufenden Geldmenge aus Komplementärwährungen. Leider ging das etwas konzeptlos, Inflation war die Folge. Aber grundsätzlich geht die Umstellung einfach und schnell. Die kleine Tiroler Gemeinde Wörgl konnte 1933 mit einer eigenen Währung die Arbeitslosigkeit innerhalb von wenigen Monaten radikal reduzieren. Als dann Dutzende von Gemeinden nachziehen wollten, hat die österreichische Nationalbank das Experiment kurzerhand verboten.
Noch ein letztes Wort?
Christoph Pfluger: Ja. Über 2000 Jahre Geldgeschichte zeigen, dass die Machthaber von ein paar lokalen und zeitlich begrenzten Ausnahmen abgesehen, noch nie ein gerechtes Geldsystem aufgebaut haben. Wir dürfen deshalb auch jetzt von der Politik und den grauen Herren an den Schalthebeln des Geldes keine echten Lösungen erwarten, sondern bestenfalls Verschlimmbesserungen. Echte Fortschritte in diesem zentralen Bereich des menschlichen Zusammenlebens wird es nur geben, wenn viele Bürger die grundlegenden Mechanismen des Geldes verstehen und einen demokratischen Aufbruch an die Hand nehmen. Dazu will mein Buch einen Beitrag leisten.
Es geht dabei nicht bloß darum, die Diktatur des Geldes zu brechen, sondern auch um die Wahrnehmung einer epochalen Chance. Ein gerechtes Geld wird es uns ermöglichen, mit einem Drittel des Aufwandes den heutigen Lebensstandard zu realisieren. Ein Drittel geht auf Kosten der versteckten Umverteilung über den Zins und rund ein Drittel geht auf Kosten des Irrsinns und der Verschwendung, die dieses System erzwingt: Kriege, Krankheit, Zerstörung, sinnlose Produkte und dergleichen mehr. Das Potenzial ist in der Tat so groß, dass man es fast nicht glauben mag. Dazu muss man schon ein Buch lesen, ein Interview wie dieses reicht nicht.

Christoph Pfluger (*1954) befasst sich seit über 25 Jahren als Journalist und als Verleger der Zeitschrift "Zeitpunkt" mit Fragen des Geldsystems. "Das nächste Geld" ist sein erstes Buch.