Unter der Fahne vereint

Israels Militär ist in den Gazastreifen einmarschiert und mobilisiert Zehntausende Reservisten. Anders als die Luftangriffe wird die Bodenoffensive nur von wenigen Israelis unterstützt

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Der Einmarsch begann kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Direkt nach dem Beginn der Bodenoffensive waren auf der israelischen Seite der Grenze Schüsse zu hören; Soldaten und Kämpfer der Hamas hätten sich ein schweres Gefecht geliefert, berichteten israelische Fernsehsender. Damit geht Operation "Gegossenes Blei" in ihre zweite Woche. Die Zahl der Toten und Verletzten im Gazastreifen steigt ebenso unaufhörlich, wie die Zahl der zerstörten Ziele in dem dicht bevölkerten Landstrich, in dem es so gut wie unmöglich ist, Einrichtungen der radikalislamischen Hamas zu zerstören, ohne dabei auch Zivilisten zu treffen. Und so geht die UNWRA, die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge, davon aus, dass bis zu ein Drittel der Opfer zivil sind. Auf der israelischen Seite hingegen ist die Zahl der Opfer bislang gering geblieben. Allerdings werden auch weiterhin Raketen vom Gazastreifen aus in Richtung Israel abgeschossen, die immer öfter auch Großstädte wie Aschdod, Aschkelon und die viertgrößte israelische Stadt Beer Schewa treffen und damit hierzulande der Angst Nahrung geben, dass es sehr bald schon auch die Metropole Tel Aviv treffen könnte - mit einer Vielzahl von Opfern.

Und so unterstützt eine Mehrheit der jüdischen Israelis im Wahlalter eine Fortsetzung der Luftangriffe, von denen man sich eine dauerhafte Lösung des Raketen-Problems erhofft. Einer Bodenoffensive allerdings steht man kritisch gegenüber: Nur ein Fünftel der Wähler sind für einen Einmarsch in den Gazastreifen. Der allerdings ist, wie es im Moment scheint, kaum noch zu vermeiden: Die Ziele für weitere Luftangriffe sind nahezu ausgeschöpft, und das ohne dass die Zahl der Raketen, die in Israel einschlagen, nennenswert zurück gegangen wäre.

Einen Waffenstillstand, selbst einen ganz kurzen, lehnt Israels Regierung trotz der massiven Kritik aus dem Ausland ab - und mit ihr die Bevölkerung: Nur 20 Prozent sind dafür. Eine Waffenruhe würde Israel Legitimität geben, sagte Außernministerin Zippi Livni am Donnerstag. Man müsse die Sache nun zu Ende bringen, wenn man endlich dauerhaft Ruhe haben wolle, gab Generalstabschef Gabriel Aschkenasi zu Protokoll. Aber das berge große Risiken, sagen die ersten Kritiker, die sich zu Wort melden: Je länger Operation "Gegossenes Blei" dauere, desto größer werde die Gefahr, dass die Dinge schief laufen, dass hohe Verluste zu beklagen sind, dass man am Ende genauso dastehe wie nach dem Libanon-Krieg vor zweieinhalb Jahren - ohne wirkliche Lageverbesserung und in der Kritik der Öffentlichkeit. Denn deren Meinung ändert sich erfahrungsgemäß schnell.

Nur 20 Prozent sind für die Bodenoffensive

"Gegossenes Blei" ist eine Operation - nach Lesart der israelischen Regierung -, die ein Krieg nach den Maßstäben aller anderen ist, der nach besonderen Regeln funktioniert: Während israelische Helikopter nahezu unaufhörlich, allein am Freitag um die 20 Mal, Ziele im Gazastreifen bombardieren und Kämpfer der Hamas ebenso nahezu unaufhörlich Raketen in Richtung Israel abfeuern, transportieren Lastwagen der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes Hilfsgüter in den bitter armen, völlig übervölkerten Landstrich, der unter der Kontrolle der radikalislamischen Hamas steht, und jüdische Ärzte operieren in israelischen Krankenhäusern die Schwerverletzten unter den zivilen Opfern.

"Erfolgreich" nennt dies das israelische Verteidigungsministerium; "sauber" nennen es die PR-Strategen der Regierung, die nach dem Libanon-Krieg im Sommer 2006, der sich nicht nur als strategisches, sondern auch als mediales Debakel erwies, in einem nationalen Public-Relations- Kommittee zusammen gefasst worden waren, weil ein großer Teil von Erfolg und Misserfolg von Kriegen und Militäroperationen heutzutage über die Medien entschieden werden.

Die öffentliche Meinung - vor allem im eigenen Land - sei wichtig, um einen erfolgreichen Krieg frei von Debatten über Kriegsführung und Kriegsziele führen zu können, die dem Feind das Bild eines demoralisierten Gegners vermitteln könnten, sagen Mitglieder dieses PR-Krisenstabes, der in diesen Tagen seine Feuerprobe bekommen wird.

Denn während es einfach ist, Luftschläge zu "erklären", der israelische Euphemismus für "Propaganda", weil sie eben "sauber" sind, also vor allem meist ohne eigene Opfer vonstatten gehen, sei es schwieriger, der Bevölkerung eine Bodenoffensive schmackhaft zu machen, wie sich sehr gut in Meinungsumfragen erkennen lässt, die in der vergangenen Woche im Auftrag verschiedener israelischer Medien angefertigt worden waren: Je nach Umfrageinstitut unterstützen zwischen 53 und 71 Prozent die Luftschläge, die in der vergangenen Woche einen Großteil der Hamas-Infrastruktur in Schutt und Asche legten und mehr als 450 Menschen auf der palästinensischen Seite das Leben kosteten, aber nur 20 Prozent sind für die Bodenoffensive, die am Samstag abend nach Einbruch der Dunkelheit begann.

Das hat vor allem zwei Gründe: Luftschläge sind risikoarm und personalsparend, während eine Bodenoffensive sehr viele Soldaten erfordert, sehr lange dauern kann und außerdem hohe Verluste mit sich bringen könnte. Und sehr schnell könnten Bilder von erbitterten Häuserkämpfen und getöteten Frauen und Kindern in dem dicht bevölkerten Landstrich, in dem Zivilisten und Kämpfer kaum von einander zu unterscheiden sind, um die Welt gehen. "Das ist eine Situation, in der niemand gerne einen Angehörigen gehen sehen möchte", erklärt der Soziologe Ron Baron den Mangel an Unterstützung für die Bodenoffensive:

Viele befürchten, dass wieder eine lange, aufreibende Besatzung des Gazastreifen folgen könnte.

Die Armee bestreitet das und liess am Samstagabend erklären, Ziel des Einmarsches sei es nur, jene Gebiete zu besetzen, von denen aus die Raketen in Richtung Israel abgeschossen werden. Und dennoch: Vorsorglich genehmigte das Kabinett die Einberufung von Zehntausenden von weiteren Reservisten, nachdem im Laufe der vergangenen Woche bereits 6500 Reservesoldaten einberufen worden waren.

"Je länger eine Operation dauert, desto mehr kann schief gehen"

Die Einberufung muss man sich so vorstellen: Morgens, mittags, nachts im Bett - das Telefon kann jederzeit klingeln und eine Stimme am anderen Ende sagen: "Begeben sie sich umgehend zum Sammelpunkt". Dass jene, bei denen dies passieren könnte, heute abend weniger als gar nicht begeistert sind, liegt vor allem daran, dass diese jungen Männer, die wenigsten von ihnen jenseits der 30, eigentlich darauf gehofft hatten, nach ihrem dreijährigen Militärdienst endlich ihr Leben starten zu können, an der Uni, im Job, in der Familie, egal wo. Die israelische Militäroperation im Gazastreifen hat diese Hoffnung zunichte gemacht und durch die Aussicht ersetzt, möglicherweise mehrere Monate in Gaza verbringen zu müssen, ohne dass möglicherweise am Ende etwas dabei „rauskommt“.

Schon vor Tagen mahnten in den Medien die ersten Kritiker davor, übertriebene Hoffnungen in einen Bodeneinsatz zu setzen: "Je länger eine Operation dauert, desto mehr kann schief gehen: Es kann stärkere Gegenwehr als erwartet geben; die Zahl der eigenen Verluste kann hoch ausfallen; Operationsziele können nicht erreicht werden", kommentiert Ron Sofer in der Zeitung Jedioth Ahronoth, und der Autor Amos Oz schreibt in der gleichen Zeitung, Israel werde durch eine Bodenoffensive nichts weiter gewinnen, als im "Sumpf Gazas" stecken zu bleiben:

Die Bevölkerung wird nicht gegen die Hamas rebellieren; es wird kein Regime kommen, dass Israel sympathisch gegenübersteht.

Israel solle sich sofort auf einen Waffenstillstand einlassen und mit der Hamas verhandeln.

Ja, es ist schwierig, in Israel in diesen Tagen jemanden zu finden, der nicht dafür ist, dass dem Raketenfeuer auf die Städte und Dörfer in der Nachbarschaft des Gazastreifen endlich ein Ende bereitet wird, aber es scheint, als seien die wenigsten dazu bereit, dafür ein persönliches Opfer zu bringen: "Lasst es doch die Luftwaffe machen; zu irgendwas müssen die doch gut sein", ist immer wieder zu hören, denn die Luftwaffe, die sich nach Meinung vieler für was Besseres hält, ist in den meisten Einheiten des Militär sehr unbeliebt.

Und dennoch: Der Einmarsch, das war vielen Angehörigen von Kampfeinheiten seit Tagen schon bewusst gewesen, schien von Anfang an kaum zu vermeiden: Seit einer Woche hat die israelische Luftwaffe Ziele der Hamas angegriffen und nach Angaben der israelischen Regierung nahezu deren gesamte Infrastruktur dem Erdboden gleich gemacht; irgendwann war die Zahl der aus der Luft zu erreichenden Ziele erschöpft. Dass irgendwann den Bodentruppen die Aufgabe zukommen würde, die Raketen und deren potentielle Schützen vor Ort unschädlich zu machen, war zu erwarten. Das ist jedenfalls das Ziel, dass die Regierung der Operation "Gegossenes Blei" gesetzt hat und von dem sie sich auch durch eine Vielzahl von internationalen Protesten nicht abbringen lässt:

Waffenstillstand abgelehnt

Am Mittwoch lehnte das Kabinett einen Waffenstillstand, auch einen ganz kurzen, kategorisch ab. Man habe bisher mehr erreicht als erwartet und werde die Sache nun zu Ende bringen, auch wenn das möglicherweise einen langen Kampf bedeute, sagt Regierungssprecher Mark Regev: "Genug ist genug", wiederholte er einmal mehr den Slogan dieser Tage, "unsere Bürger in der Nachbarschaft Gazas haben lange genug gelitten."

Diese Botschaft, sagt Regev, da sei er sich ganz sicher, werde auch im Ausland verstanden. Doch die internationalen Reaktionen sprechen eine andere Sprache: Fast ganz Asien, die arabische Welt sowieso, die Vereinten Nationen und die Europäische Union haben sich gegen die Militäroperation mit ihrem poetischem Namen, der übrigens von einem Regierungsausschuss, der nichts anderes tut, als Namen für Ereignisse zu finden, vergeben wurde, ausgesprochen und einen sofortigen Waffenstillstand gefordert. Denn die hohe Zahl an Todesopfern, mittlerweile weit mehr als 400, von denen nach Angaben der Vereinten Nationen bis zu einem Drittel zivile Opfer sein könnten, hat ihre Wirkung auf die Öffentlichkeiten im Ausland nicht verfehlt: In vielen Ländern gibt es nahezu täglich Demonstrationen.

Dass Israels Regierung sich davon ebenso wenig beirren lässt wie von der mangelnden Unterstützung für einen Bodeneinsatz, hat zwei Gründe: Das Militär befürchtet, dass die Hamas einen Waffenstillstand dazu nutzen würde, ihre im Moment reichlich chaotischen Reihen zu schliessen, ihre Waffenlager aufzufüllen und dann wieder gegen Israel loszuschlagen.

Und: Die israelische Bevölkerung hat die ständigen Nachrichten über die Raketenangriffe auf Sderot und die Umgebung satt und dazu kommt: Seit die Raketen seit einigen Tagen auch in weiter entfernt gelegenen Großstädten wie Aschkelon, Aschdod und sogar der viertgrößten Stadt Beer Schewa einschlagen (siehe Hamas-Raketen könnten israelischen Atomreaktor Dimona bedrohen); seit dem Beginn von "Gegossenes Blei" sind die Umfragewerte fast aller Regierungspolitiker nach oben geschossen. Man ist froh darüber, dass die Armee nun in großem Stil gegen die Hamas und ihre Kämpfer vorgeht, und hofft darauf, dass endlich Ruhe einkehrt.

Allerdings: Umfragen sind in Israel eine ausgesprochen kurzlebige Angelegenheit; die Wähler ändern ihre Meinung gerne und oft. Das konnte man bereits wenige Stunden nach dem Beginn der Bodenoffensive sehen, als die Fernsehsender die ersten Blitzumfragen veröffentlichten - aus den ursprünglichen 20 Prozent Unterstützern waren plötzlich mehr als 60 Prozent geworden.

"Unter der Fahne vereinen", nennen israelische Demoskopen dieses Phänomen, das allerdings auch in vielen anderen Ländern zu beobachten ist: In Krisensituationen aller Art, und selbst wenn es nur ein Fußball-Länderspiel oder der Eurovision Song Contest ist, neigen Öffentlichkeiten zu staatstragendem Verhalten, eben dazu "sich unter der Fahne zu vereinen" und das noch viel mehr, wenn das eigene Land international in der Kritik steht, wie der Soziologe Baron betont:

“Öffentlichkeiten unter der Fahne“ fällt es ohnehin schon schwer, sich kritisch mit den Vorgängen auseinander zu setzen - man erwartet, dass alle hinter dem stehen, was die Vertreter des eigenen Landes tun - das hat man zum Beispiel in den USA beobachten können, als sich selbst international renommierte Medien nicht in der Lage sahen, die Motive hinter dem Irak-Krieg kritisch zu hinterfragen. Das Phänomen dauert so lange an, bis dann etwas schief läuft. Sobald das der Fall ist, werden die Messer gewetzt.