Unter der Herrschaft einer Form der milden Funktionärsdiktatur
Seite 2: Das Parlament repräsentiert eine verschwindende Minderheit
- Unter der Herrschaft einer Form der milden Funktionärsdiktatur
- Das Parlament repräsentiert eine verschwindende Minderheit
- Apathie und Vertrauensverlust prägen die Postdemokratie
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Zählt man das zusammen, so ergibt sich: Die Abgeordneten des Bundestags repräsentieren gerade mal rund um eine Million Leute. Bei einer Bevölkerung von rund 80 Millionen ist das ziemlich mickrig - erst recht wenn man bedenkt, dass längst nicht alle Personen, die formal als Mitglieder geführt werden, auch tatsächlich in ihrer Partei aktiv sind. Im Gegenteil: Die überwiegende Mehrzahl ist passiv und nimmt am Parteileben selten, unregelmäßig oder überhaupt nicht teil.
Nach verschiedenen Untersuchungen beteiligen sich rund 40 Prozent aller Parteimitglieder niemals an irgendwelchen Parteiaktivitäten.4 "Die Organisationswirklichkeit der Parteien teilt sich dabei in zwei voneinander klar abgrenzbare Sphären: Eine Gruppe von Mitgliedern beteiligt sich in erster Linie im Rahmen ämterorientierter Aktivität, bringt sich in den Gremien ein und kandidiert für öffentliche Mandate und parteiinterne Ämter. Andere Mitglieder werden hingegen überwiegend durch gesellige Veranstaltungsformen angesprochen und sind nicht bereit, darüber hinaus Verantwortung zu übernehmen."5
Auch die meisten "Aktiven" unter den Parteimitgliedern engagieren sich nicht politisch. Die Partei ist für die meisten eher so eine Art geselliger Verein, eine verpiefte Kaffeefahrt für Senioren. Sie besuchen Weihnachtsfeiern, Grillabende oder Jubiläumsveranstaltungen:
Die Masse der Mitglieder (87 bzw. 77 Prozent) hat in den letzten fünf Jahren Versammlungen bzw. Feste und gesellige Veranstaltungen besucht. Beide Formen sind … die wichtigsten Kanäle des Mitgliederengagements. ... Alle anderen Formen der Mitarbeit folgen mit deutlichem Abstand. Einen mittleren Zuspruch genießen Aktivitäten, bei denen die Mitglieder ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, wie das Kleben von Plakaten und die Verteilung von Flugblättern (56 Prozent) oder aber die Organisation der Parteiarbeit (55 Prozent).
Die Beteiligungsformen mit dem engsten Bezug zu politischen Entscheidungsprozessen schneiden am schlechtesten ab: Für ein Amt in der Partei kandidierten in einem Zeitraum von fünf Jahren lediglich 42 Prozent, und nur noch jedes dritte Parteimitglied (33 Prozent) strebte in dieser Zeit ein öffentliches Amt an.
Heinrich, Roberto/Lübker, Malte/Biehl, Heiko: Parteimitglieder im Vergleich: Partizipation und Repräsentation
Fasst man die Ergebnisse einer Vielzahl von Untersuchungen zusammen, so repräsentieren die Abgeordneten im Bundestag und in den Landtagen gerade mal so um die 300.000 bis maximal 500.000 Aktivisten der politischen Parteien. Auf jeden Fall also eine verschwindend kleine Minderheit. Sonderlich repräsentativ ist das nicht und unter allen Umständen meilenweit von jedem demokratischen Ideal entfernt.
Die Demokratietheorie versteht die politischen Parteien gern als das Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen der Politik und der Bevölkerung. In den Ortsvereinen nimmt der Staat sozusagen den Kontakt zu den Menschen "draußen im Lande" auf und rekrutiert seinen politischen Nachwuchs. Wenn das so sein sollte, hängt der Staat bestenfalls an einem dünnen Faden, der jederzeit in Gefahr ist, unter der kleinsten Belastung zu zerreißen, zumal er immer dünner wird. Die Selbstauszehrung der klassischen Volksparteien droht, den dünnen Faden endgültig zu zerfetzen.
Ein kleiner Klüngel von Funktionären besetzt alle Ämter
Das Monopol der Parteien bei der Rekrutierung der Politiker aus der Mitte ihrer Mitglieder wirft Fragen danach auf, wie die Kandidaten parteiintern überhaupt ausgewählt werden. Da die meisten Parteimitglieder inaktiv sind, entscheidet tatsächlich in jeder Partei eine kleine Gruppe von Funktionären und Aktivisten über alle Kandidaturen.
Die Basis derjenigen, die de facto über die Mitglieder des Parlaments und alle anderen Amtsträger bestimmen, ist winzig. Es sind fast ohne Ausnahme Funktionäre, die entweder selbst Mitglied der politischen Kaste sind, danach streben, ihr künftig anzugehören oder aber Leute, die ihre aktive Zeit bereits hinter sich haben und in Parteisitzungen herumlungern, weil sie sich nicht allein betrinken mögen.
In ihren Parteien üben die Angehörigen der politischen Kaste starken Einfluss aus. Man kann sagen, dass die quantitativ kleine, aber sehr mächtige politische Kaste sich (parteispezifisch differenziert) gewissermaßen selbst reproduziert6, und dass die "Macht der Parteien" im Wesentlichen von einer dünnen Schicht von Funktionären ausgeübt wird.
Es geschieht den politischen Parteien kein Unrecht, wenn man resümiert, dass sie nach Abzug der Inaktiven, der Indifferenten, der Unpolitischen und der Karteileichen im günstigsten Fall zwischen 300.000 bis maximal 500.000 aktive Mitglieder haben. Wahrscheinlich sind es sogar viel weniger. Sie "repräsentieren" das Millionenvolk der Bürger. Das läuft auf allerhöchstens ein Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung hinaus.
Die praktische Politik indes geht stets davon aus, dass die demokratietheoretische Fiktion gilt, dies seien die Repräsentanten des Volks. Doch das wählende oder auch nicht wählende Volk hat den Schwindel längst durchschaut und wendet sich entsetzt und angewidert ab. Es sind nur diese wenigen Leute, die Einfluss auf die Nominierung von Kandidaten für politische Wahlämter nehmen können. Und das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies eher eine Negativauslese ist.
Heute prägen Opportunisten und Karrieristen die Szene in allen Volksparteien. Wer in eine Partei eintritt, überlegt, welchen Nutzen das für ihn hat. Wer beruflich auf der Stelle tritt und durch berufliche Leistung nicht weiterkommt, kann es auch ohne fachliche Qualifikation mit Hilfe einer Partei noch einigermaßen weit bringen und ein gut bezahltes Amt bekommen. Die Führungskräfte der Parteien sind auf jeden Fall keine Positivauslese. Am Ende der Ochsentour durch die Hierarchie einer Partei stehen lauter Rindviecher …
Auch dies ist ein schleichender Prozess, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Und niemand sollte die potenziellen Wählerinnen und Wähler unterschätzen. Die haben längst gemerkt, dass sie verschaukelt werden und kein Politiker sich sonderlich für ihre soziale und wirtschaftliche Lage interessiert.
Amtsträger wie Wirtschaftsbürgermeister, Regierungspräsidenten, Landräte, Universitätsrektoren, Schuldirektoren, Verfassungsrichter, Amtsrichter, Geschäftsführer der Gesetzlichen Krankenkassen, Direktoren der Stadtwerke, Vorsitzende des Verwaltungsrats von Landesbanken, die Aufsichtsräte staatlicher Einrichtungen, die Intendanten des öffentlichen Fernsehens und Rundfunks, die Direktoren von Sparkassen, Krankenhausdirektoren, Bundesligapräsidenten und sogar Karnevalsprinzen werden in aller Regel von den politischen Parteien berufen. Was für eine Mixtur lokaler Würdenträger!
Das faktische Verhalten und der Einfluss der Volksparteien bestätigen die Beobachtung Richard von Weizsäckers aus den frühen 1980er Jahren, dass "sie sich den Staat zur Beute gemacht haben". Sie seien machtversessen und machtvergessen zugleich. Die Volksparteien haben sich den Staat untertan gemacht.
Die Parteien haben ihren Einfluss weit über das Maß hinaus ausgedehnt, das der Artikel 21 des Grundgesetzes ihnen einräumt. Der formuliert ja geradezu scheinheilig: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." Was für eine Verharmlosung! Danach bildet das Volk seinen Willen und die politischen Parteien dürfen dabei hier und da ein bisschen mitwirken. Genau umgekehrt wird ein Schuh draus: Die politischen Parteien haben alles unter Kontrolle. Doch das Volk hat nichts zu sagen. Tatsächlich haben die politischen Parteien und allen voran die Volksparteien alle politischen Prozesse bis weit über die Grenze des Erträglichen usurpiert.
Eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger lehnen die Parteien und ihre Repräsentanten strikt ab. Probleme instrumentalisieren sie, um einander gegenseitig zu bekämpfen, statt sie zu lösen. Insgesamt haben sie sich zu einem ungeschriebenen sechsten Verfassungsorgan entwickelt, das auf die anderen fünf Verfassungsorgane einen immer weitergehenden, völlig beherrschenden Einfluss nimmt.
Dennoch seien die Parteien machtvergessen, weil sie ihren inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgaben nicht nachkommen. Ihre Utopie sei der Status quo, ein Leben auf Kosten der Zukunft, um sich die Gegenwart zu erleichtern. Außerdem haben sie die Kontrolle der Exekutive durch das Parlament außer Kraft gesetzt.
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