Unter der Herrschaft einer Form der milden Funktionärsdiktatur

Seite 3: Apathie und Vertrauensverlust prägen die Postdemokratie

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Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch bezeichnet die permanente Krise der konsolidierten repräsentativen Demokratien als "Postdemokratie". Genauer gesagt behauptet er, dass die bestehenden Demokratien auf einen idealtypischen Zustand zusteuern, den er Postdemokratie nennt. Das ist ein Zustand, in dem Vertrauensverlust, fehlender Glaube an Veränderung und politische Apathie das Bild der Bevölkerung prägen.

Das Wundersame daran ist, dass die institutionellen Grundgerüste der Demokratie - wie freie Wahlen, Parteienwettbewerb, Gewaltenteilung - formal weiterhin funktionieren. Sie haben jedoch jegliche Legitimation verloren, weiterhin die Grundlage der Demokratie darzustellen. Wahlen und demokratische Vorgänge dienen nur noch als Deckmantel, um das Regieren einer kleinen privilegierten Machtelite zu legitimieren.

Dabei sind die demokratischen Institutionen und Verfahren formal, aber auch nur formal, völlig intakt - es gibt einen Wettbewerb der politischen Parteien, regelmäßig werden Wahlen abgehalten, und formal funktioniert sogar noch die Gewaltenteilung.

Aber wahre Demokratie erschöpft sich nicht in Formalismen. Eine formale Demokratie ohne Substanz ist inhaltslos. Und de facto sind die Institutionen der entwickelten Demokratien entkernt, weil die Bürger nicht länger am politischen Geschehen teilnehmen. Sie sind teilnahmslos geworden.

Das liegt nicht an den Bürgern, sondern an der Substanzlosigkeit der politischen Willensbildungsprozesse. Da die westlichen Demokratien jedoch auf bürgerschaftlichem Engagement und damit auf Legitimation basieren, reißt dort eine Legitimationslücke auf, die das politische System durch Output - Gesetze, Entscheidungen, Verordnungen und sonstige Regelungen - notdürftig füllt.

In der Postdemokratie spielen die Wähler keine Rolle mehr

Die Postdemokratie ist also ein Regierungssystem, in dem die formalen demokratischen Institutionen de facto von privilegierten Wirtschaftseliten kontrolliert werden und nicht mehr von den Bürgern. Galt früher eine Demokratie durch ihren Input, die Partizipation ihrer Bürger, als legitim, so rechtfertigt sie sich in postdemokratischen Zeiten vornehmlich durch ihren Output.

Die Wähler spielen, wenn überhaupt, nur noch eine untergeordnete Rolle und sind für die Entscheidungsfindung nicht mehr wichtig. Das System der politischen Willensbildung löst sich vom einstigen Souverän der Demokratie ab und funktioniert ohne ihn weiter.

Man kann das im Wortsinn beschreiben. Die Herrschaft - griechisch: κρατία - trennt sich vom Souverän, dem Volk - griechisch: δῆμος - und macht alleine weiter. Doch eine Volksherrschaft, in der das Volk nicht vorkommt, ist nur noch Herrschaft, keine Volksherrschaft, keine Demokratie. Am Ende also pure Herrschaft ohne demokratische Basis.

Doch es ist an den Haaren herbeigezogen, zwischen formalem Funktionieren und materiellem Nichtfunktionieren zu unterscheiden. Ein demokratisches System lässt sich auf reine Formalismen nicht reduzieren. Wenn es in der Substanz entleert ist, dann funktioniert es auch formal nicht. Dann funktioniert es überhaupt nicht. Der Apparat rattert bloß richtungslos, aber keinesfalls geräuschlos, vor sich hin.

Eine lebendige Demokratie kann nicht ohne den konstruktiven Dialog zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Politikern und Bürgern auskommen. Und erst in einem solchen Dialog entfaltet sich gelebte Demokratie. Formale Demokratie ist keine Demokratie. Noch nicht einmal eine leere Hülse. Sie ist überhaupt keine Demokratie.

In den entwickelten repräsentativen Demokratien funktionieren auch die institutionellen Grundgerüste schon lange nicht mehr. Wenigstens nicht mehr auf demokratische Weise. Auch nicht formal. Es sind wohlgeschmierte Räderwerke, die ineinander greifen und wie ein Uhrwerk ablaufen. Sie sind völlig pervertiert und zu Instrumenten des Machterhalts und der Versorgung der herrschenden Machteliten verkommen.

Die klassischen Volksparteien haben sich nur noch in von PR-Experten als Wahlkämpfe inszenierten Schauspielen künstlich am Leben erhalten können, die einige politische Themen für die Bevölkerung theatralisch in Szene setzen und ihr dabei vorgaukeln, sie habe etwas zu entscheiden und etwas auszuwählen.

Sie hat aber nichts auszuwählen; denn die Themen haben sich die Parteiführer und ihre PR-Agenten schon vorher herausgepickt, und zwar nicht nach dem Gesichtspunkt, welche Themen der Bevölkerung unter den Nägeln brennen. Ganz im Gegenteil, solche Themen werden absichtlich ausgeblendet.

Ausgewählt werden Themen, mit denen man Wahlen zu gewinnen hofft. In Wahrheit darf die Bevölkerung nur herunterschlucken, was die Parteizentralen ihr vorgekaut haben. Die Bevölkerung ist zum Wiederkäuer der Volksparteien degradiert worden.

Die Bürger spielen nur noch eine passive Rolle, unfähig zur eigenen Gestaltung der Auseinandersetzung. Im Rücken dieser Inszenierung des Wahlspiels findet der tatsächliche politische Prozess statt und zwar in Form einer privatisierten Interaktion zwischen gewählten Regierungen und Eliten, die größtenteils die Interessen wirtschaftlich starker Akteure vertreten.

An die Stelle einer durch Wahlen vermittelten Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen sind intransparente Verhandlungen getreten, und der demokratische Prozess dient einzig der Erzeugung von Massenloyalität. Viele Jahre, ja Jahrzehnte, hat die breite Bevölkerung das mit sich machen lassen. Aber zumindest intuitiv hat sie das üble Spiel längst durchschaut.

Wahlen ohne Sinn und Substanz

Nach Crouch ist eine Postdemokratie "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden ..., in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben".7

Die Einbeziehung der Bevölkerung in Wahlen dient nur dazu, die Loyalität der Massen zu erhalten, da so der demokratische Schein bestehen bleibt. Crouch postuliert, "je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn - mehr oder minder unbemerkt - zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens".8

Durch den Begriff Postdemokratie kann man nach Crouch besser "Situationen beschreiben, in denen sich nach einem Augenblick der Demokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen Repräsentanten mächtiger Interessengruppen ... weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger ...; in denen politische Eliten gelernt haben, die Forderungen der Menschen zu manipulieren; in denen man die Bürger durch Werbekampagnen 'von oben' dazu überreden muss, überhaupt zu Wahl zu gehen."9

Mit anderen Worten: Die entwickelte repräsentative Demokratie ist nichts als "eine Scheindemokratie im institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie"10. Alle Institutionen sind leere Hülsen ohne Inhalt und ohne Substanz. Die Parlamente haben nichts mehr zu entscheiden, was nicht an anderer Stelle und vor ihnen längst entschieden wurde. Die Wahlkämpfe sind zu großangelegten Schaukämpfen verkommen, in denen außer Schaumschlägerei nichts passiert.

Selbst Parteitage - einst zentrale Orte der politischen Willensbildung und Foren der Auseinandersetzung um wichtige gesellschaftliche Zukunftsfragen - sind nichtssagende Veranstaltungen geworden, die überwiegend unter medialen Wirkungsaspekten durchkomponiert werden und auf denen vor allem für das Fernsehen paradiert wird. Und der Parteivorsitzende muss immer eine "kämpferische Rede" halten, die überzeugend begründet, warum nur eine einzige Partei existiert, die alle Probleme der Politik zu lösen vermag, und warum er und sonst niemand der nächste Kanzlerkandidat werden muss.

Parteitage wie einst bei den Kommunisten

Der Politikwissenschaftler Arnulf Baring hat für Parteitage nur noch blanke Verachtung übrig. Sie sind nach seinen Worten "streng hierarchisch von oben nach unten durchorganisiert. Es gelingt kaum einem Kritiker, als Delegierter zu einem Parteitag entsandt zu werden." Selbst CDU-Parteitage sind für ihn gar "Veranstaltungen, wie wir sie aus ehemals kommunistischen Ländern kennen".11

Auch Bürger, die sich nicht viel mit Politik befassen, haben den Zirkuscharakter des öffentlichen Auftretens von Politikern und politischen Parteien längst durchschaut und reagieren mit Verachtung, Desinteresse und Apathie. Man kann ihnen das nicht verübeln. Denn statt Personen und Institutionen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, bekommen sie die rhetorischen Kunststückchen von Zirkusgäulen vorgeführt.

Das langweilt. Es ist doch nur konsequent, wenn sie aufhören, sich überhaupt für Politik zu interessieren und immer seltener wählen gehen. Die klassischen Volksparteien bekommen das seit Jahren zu spüren. Und sie haben es nicht besser verdient; denn sie haben das ihre dazu beigetragen, dass die totale Vernebelung der politischen Verhältnisse sich allenthalben ausbreiten konnte.

Die parlamentarische Debatten(un)kultur passt nicht mehr

Das Informations- und Kommunikationszeitalter erfordert eine neue Diskurskultur. Der banale Streit darum, wer jetzt gerade Recht hat und schon immer Recht hatte oder die besseren Konzepte verficht, ist nicht mehr zeitgemäß. Er ist verantwortungslos. Gebraucht wird eine Lösungskultur und ein gemeinsamer Lösungsdialog, der Parteigrenzen überwindet, nicht aber sie in Stein meißelt.

Es festigt sich im Lande die Überzeugung, dass unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird, wenn es nicht die Kraft zur durchgreifenden Erneuerung findet. Wenn unsere Parteien weder programmatisch noch personell in der Lage sind, die Bevölkerung mit klaren Alternativen zu konfrontieren und damit Richtungsentscheidungen zu erzwingen, ist diese Republik am Ende.

Arnulf Baring

Aber eine Diskurskultur, die Lösungen für Probleme zu erarbeiten versucht, kann aus einer parlamentarischen Parteiendemokratie aus strukturellen Gründen nicht hervorgehen. Man kann sich das von Herzen wünschen - so wie den Weltfrieden. Aber der wird deshalb auch nicht kommen.

Die Struktur der Parlamente in Parteienstaaten mit ihren Regierungsmehrheiten und Oppositionsminderheiten, ihren Fraktionen und ihrem Fraktionszwang steht einer lösungsorientierten Diskurskultur entgegen und macht sie unmöglich. An die Stelle des möglicherweise einmal lebendigen demokratischen Gebilde ist ein allumfassendes gewaltiges Lügengebäude getreten, dessen gesamte Struktur nur einem einzigen Zweck dient, die gesamte Bevölkerung gezielt hinters Licht zu führen.

Es hilft nicht, wenn man bloß über die Politiker und ihre nichtssagenden Reden in den Parlamenten schimpft; denn dahinter stehen institutionelle Zwänge, und erst wenn die beseitigt sind, würde eine parlamentarische Redekultur möglich sein, bei der am Ende sinnvolle Ergebnisse herauskommen. Aber so lange die Volksparteien in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht verschwinden, verschwinden auch nicht von selbst diese Zwänge.

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