"Unterm Strich bleiben 7.000 Kilometer Abbau"

Bernhard Knierim über 20 Jahre Bahnreform, Verspätungen, Vandalismus und Mehdorn

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Vor gut 20 Jahren wurde die Bundesbahn teilprivatisiert. In dem gemeinsam mit Winfried Wolf verfassten Buch Bitte Umsteigen zieht Bernhard Knierim eine kritische Bilanz.

Herr Knierim, Sie schreiben, dass die schwarzen Zahlen der Bahn seit der formellen Privatisierung auch einer Schönrechnerei zu verdanken ist. Können Sie uns das näher darlegen? Wie ist es denn um die Bahn im Vergleich zu der Zeit davor finanziell bestellt?
Bernhard Knierim: Offiziell macht die DB AG jedes Jahr über zwei Milliarden Euro Gewinn, aber gleichzeitig erhält sie jedes Jahr über 14 Milliarden an Bundesmitteln. Die Gewinne sind also eine reine Rechnung "Rechte Tasche, linke Tasche", zumal die beiden größten Gewinnbringer des Konzerns gerade die Bereiche sind, in die die meisten öffentlichen Gelder fließen: Infrastruktur und Regionalverkehr.
Die angebliche Erfolgsstory, dass aus dem großen Verlustbringer Bundesbahn nun ein hochprofitables Unternehmen DB AG geworden sei, das den Staat weniger Geld kostet, ist pure Schönrechnerei. Ein Trick ist, dass sich die DB AG als Bezugspunkt für die öffentlichen Zuschüsse nur auf die Jahre 1993/94 bezieht, wo die öffentlichen Zahlungen für die Bahn wegen der notwendigen Instandsetzungsarbeiten im ostdeutschen Bahnnetz und Lückenschlüssen zwischen Ost und West extrem hoch waren.
Ein anderer Trick ist der, dass die Altschulden der Bundesbahn jetzt in der Rechnung einfach weggelassen werden, obwohl diese vorher auch von der Bundesbahn selbst bedient werden mussten.
Die DB AG hat überdies, obwohl sie 1994 schuldenfrei gestartet war, inzwischen übrigens auch wieder über 16 Milliarden Euro an Schulden angehäuft - letztlich ja auch Staatsschulden.
Die Deutsche Bahn AG hat sich auch im Ausland finanziell engagiert. Wie viel Geld wurde damit dem hiesigen Schienenverkehr entzogen?
Bernhard Knierim: Allein für den Kauf ausländischer Unternehmen hat die DB AG seit 2002 über sechs Milliarden Euro ausgegeben. Fatal ist dabei, dass die meisten dieser Unternehmen keine großen Gewinne machen. Einiges hat sich sogar als komplette Fehlinvestition erwiesen; teure Einkäufe wie "BAX Global" wurden später abgewickelt.
Das Geld fehlt also nicht nur dem Bahnverkehr in Deutschland (was man zum Beispiel am schlechten Zustand der Infrastruktur sieht), sondern die zugekauften Unternehmen bergen dazu oft enorme Risiken. Aber Hartmut Mehdorn wollte eben unbedingt "Global Player" spielen - und Rüdiger Grube fährt diesen Kurs so weiter, statt sich wie versprochen auf das "Brot-und-Butter-Geschäft" im Inland zu konzentrieren.

"Die Bahn verkauft ihr Tafelsilber"

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Bahnprivatisierung, Immobiliengeschäften und Stuttgart 21?
Bernhard Knierim: Dieser Zusammenhang drängt sich auf. Seit der Bahnreform ist die DB AG mit ihren Tochterunternehmen zu einem der größten Immobilienspekulanten des Landes geworden, sie hat Immobilien - besonders Bahnhofsgebäude - für viele Milliarden verkauft. Das beschert ihr jedes Jahr hohe Extra-Gewinne, aber sie verkauft damit auch ihr Tafelsilber.
Wenn man nun später wieder solches Gelände oder Gebäude für die Bahn benötigt, stehen sie schlichtweg nicht mehr zur Verfügung. An diesem Punkt ist letztlich schon jetzt ein erheblicher Teil der Bahn materiell privatisiert.
Stuttgart 21 ist noch einmal ein ganz besonderer Fall, weil hier das ganze Projekt nur darauf beruht, dass die Gleisflächen in der Stuttgarter Innenstadt frei werden und dann mit noch mehr Shoppingcentern und Luxuswohnungen bebaut werden sollen - ein sehr fragwürdiges Modell der Stadtentwicklung.
Bahntechnisch macht das Projekt überhaupt keinen Sinn; es ist eindeutig nachgewiesen, dass damit die Kapazität des Bahnknotens Stuttgart deutlich sinkt, von ungeklärten Sicherheitsfragen und den explodierenden Kosten ganz abgesehen. Wird das Projekt so realisiert, was ich nicht glaube, hätte es enorme negative Auswirkungen auf den Bahnverkehr in ganz Deutschland.

"Die Bahn wird immer mehr zu einem Verkehrsmittel für Besserverdienende"

Wie viel kostet Zugfahren mit der Deutschen Bahn im europäischen Vergleich und wie erklären Sie sich die Unterschiede?
Bernhard Knierim: Die Preissysteme unterschiedlicher Länder sind schwierig miteinander zu vergleichen, da es seit der Bahnpreisreform von 2002 keinen einheitlichen Kilometerpreis mehr in Deutschland gibt, sondern für jede Verbindung einen eigenen Preis - mit allen Absurditäten, zu denen das führt.
Vergleicht man aber ähnlich lange Beispielstrecken, dann sind die Normalpreise in Deutschland deutlich teurer als in Frankreich oder Italien. Nur in Großbritannien ist es noch teurer - und das ist bekanntlich das Musterland der privatisierten Bahn.
Die Normalpreise in Deutschland sind seit der Bahnreform - inflationsbereinigt - auf fast allen Strecken um über 50 Prozent gestiegen, auf vielen Strecken haben sie sich sogar mehr als verdoppelt. Und auch die BahnCard (50) als allgemeine Mobilitätskarte ist - wieder inflationsbereinigt - fast doppelt so teuer geworden.
Damit wird die Bahn leider immer mehr zu einem Verkehrsmittel für Besserverdienende anstatt zu einer wirklichen Mobilitätsalternative zum Auto. Zwar kann man mit Sparpreisen manchmal tatsächlich günstig reisen, aber die bekommt man eben nur mit Glück und die Kontingente sind sehr begrenzt. Das unübersichtliche Preissystem mit Normalpreisen, Sparpreisen, Sondertarifen, unterschiedlichen BahnCards und so weiter schreckt außerdem viele Menschen ab.

Verspätungen

Gibt es Zahlen, in welchem Ausmaß die Verspätungen seit der Teilprivatisierung zugenommen haben?
Bernhard Knierim: Verspätungen sind ein anderes Thema, wo es mit Zahlen extrem schwierig ist. Die Bahn veröffentlicht selbst nur sehr fragwürdige Statistiken, in denen zum Beispiel nicht mit einberechnet ist, dass die reale Ankunftsverspätung für Zugreisende oft sehr viel größer ist als die reine Zugverspätung, wenn sie einen Anschlusszug verpassen. Außerdem werden die ausfallenden Züge - und das sind jede Woche eine Menge - gar nicht erst einberechnet.
Unabhängige Erhebungen (zum Beispiel von der Stiftung Warentest) haben aber gezeigt, dass im Schnitt etwa ein Drittel der DB-Fernzüge verspätet ist, an manchen Tagen sogar noch sehr viel mehr. So etwas gab es bei der Bundesbahn vor der Bahnreform definitiv nicht.
Spannend ist auch, wie unterschiedlich Verspätungen definiert werden: Bei uns gilt ein Zug erst ab sechs Minuten als verspätet, in der Schweiz dagegen schon ab drei Minuten. Trotzdem erreicht die Schweiz sehr viel bessere Werte: Dort kommen trotz der viel schärferen Definition weniger als zehn Prozent der Züge zu spät.
Man kann also schon sagen, dass Verspätungen bei der Bahn in Deutschland ein großes Problem sind - und die Gründe dafür liegen auf der Hand: Es ist alles ins Extrem rationalisiert worden, an der Wartung und bei den Reserven hat man zu sehr gespart.
Wie viele Streckenstillegungen hat es seit der formellen Privatisierung gegeben?
Bernhard Knierim: In den 20 Jahren seit der Bahnreform sind über 7.000 Kilometer Schienen stillgelegt worden - also fast 18 Prozent des Streckennetzes von 1993. Als die Bahnreform 1993 im Bundestag debattiert wurde, da versprachen die Befürworter eine Renaissance für die Schiene - auch im ländlichen Raum. Tatsächlich ist aber das Gegenteil eingetreten. Wir haben das einmal für das Land Brandenburg detailliert nachvollzogen und es ist schon sehr traurig zu sehen, wie alle paar Jahre immer mehr Städte vom Bahnnetz abgekoppelt werden - ein weiterer Grund, weshalb die Bahn für viele keine Alternative ist.
Dass Bahnstrecken auch im ländlichen Raum gut angenommen werden, wenn das Angebot gut ist, das beweisen erfolgreiche Bahnen wie die Regiobahn in Nordrhein-Westfalen oder die Usedomer Bäderbahn. Immerhin wurden auch einige Strecken reaktiviert, aber das ist leider immer noch die Ausnahme - unterm Strich bleiben 7.000 Kilometer Abbau.

Arbeitsverdichtung und Vandalismus

Welchen Einfluss hatte die Bahnprivatisierung auf die Arbeit der Bahn-Beschäftigten?
Bernhard Knierim: Die Belegschaft im Bahnbereich hat man um über die Hälfte reduziert, es sind 170.000 Jobs abgebaut worden - übrigens ohne dass es darüber jemals eine Debatte gegeben hätte, während es bei viel geringerem Arbeitsplatzabbau zum Beispiel in der Automobilindustrie sofort einen großen Aufschrei gibt. Für die verbleibenden Beschäftigten bedeutet das eine enorme Arbeitsverdichtung. Manches ist durch Automatisierung zwar einfacher geworden, aber im Großen und Ganzen sind die Folgen mehr Stress und insbesondere mehr Überstunden, auch das Arbeitsklima hat sich verschlechtert.
Alleine die Streckenlokführer schieben 1,9 Millionen Überstunden vor sich her, die Fahrdienstleiter 1,1 Millionen. Oft müssen beispielsweise die Fahrdienstleiter im Stellwerk Dienst für zwei tun, was auch Konsequenzen für die Sicherheit hat. Anfang Januar sind in mehreren S-Bahn-Netzen Fahrten deswegen ausgefallen, weil zu viele Beschäftigte krank waren. Dass die Rationalisierungen stark auf Kosten der Beschäftigten gegangen sind und sie sich oft machtlos in einem großen Räderwerk fühlen, zeigt immer wieder die hohe Unzufriedenheit in den Mitarbeiterbefragungen.
Außerdem ist der Großteil der Bahnhöfe inzwischen völlig ohne Personal - was wieder enorme Schäden durch Vandalismus zur Folge hat und weshalb Fahrgäste sich unsicher fühlen und nicht gerne mit der Bahn fahren.

Unfälle und Manager

Haben sich die Unfälle der Bahn seit ihrer Privatisierung gehäuft und lassen sich diese tatsächlich mit der Privatisierung in Verbindung bringen? Wie viele Menschen mussten ihr Leben lassen?
Bernhard Knierim: Es lässt sich nicht eindeutig statistisch belegen, dass es eine Zunahme von Unfällen gegeben habe und zum Glück ist die Bahn nach wie vor das mit Abstand sicherste Verkehrsmittel. Wenn man sich einzelne Unfälle genau anschaut, dann findet man aber immer wieder Ursachen, die vermeidbar wären und die mit dem Privatisierungskurs in Verbindung stehen.
Bei dem Unglücksrad von Eschede hatte man zum Beispiel schon einige Nächte zuvor gemessen, dass der später gebrochene Radreifen nicht mehr in Ordnung war - aber der Zug ist trotzdem auf die Strecke geschickt worden, weil man Reservezüge eingespart hatte. Das bezahlten 101 Menschen mit ihrem Leben. In Hordorf war 2011 aus Kostengründen noch keine automatische Zugsicherung an der Strecke eingebaut. Die Folge: zehn Tote.
Ein anderer krasser Fall ist das Entgleisen eines Zuges mit Tankwagen in Düsseldorf, wo es 2013 nur durch viel Glück nicht zu einer folgenschweren Explosion kam. Der Grund hierfür waren eklatante Wartungsmängel am Gleis, die laut dem Untersuchungsbericht sogar mit bloßem Auge erkennbar waren. Diese Liste von vermeidbaren Unglücken und Beinahe-Unglücken ließe sich noch lang fortsetzen.
2008 gab es einen Achsbruch bei einem ICE in Köln, der auf Materialüberlastung zurückzuführen war. Hat die Bahn mittlerweile dieses Problem behoben?
Bernhard Knierim: Nun ja, die DB AG musste zur Behebung gezwungen werden. Sie hat lange versucht, das Unglück als einmaligen Zufall hinzustellen, bis zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass die Ursache die unzureichende Überprüfung war. Die Bahn hatte zum Kostensparen die Wartungsintervalle um das Fünffache "gespreizt" - statt alle 60.000 wurden die Achsen nur noch alle 300.000 Kilometer überprüft. Um ein Haar wäre es dadurch zu einem weiteren Unglück in der Größenordnung von Eschede gekommen, denn die Achse war tatsächlich schon auf der Schnellfahrstrecke bei circa 300 km/h gebrochen, entgleiste aber zum Glück erst bei langsamem Tempo, nachdem der Zug in Köln die Richtung gewechselt hatte.
Das Eisenbahnbundesamt hat dann angeordnet, dass die Achsen wieder wie früher überprüft werden müssen - wogegen sich die DB AG erst sogar noch gewehrt hat. Inzwischen gibt es wohl neue, verbesserte Achsen, die nicht mehr so häufig überprüft werden müssen, und die jetzt nach und nach eingebaut werden sollen. Unterm Strich bleibt aber: Die Bahn und ihre Fahrgäste hatten ein riesiges Glück, auch hier hätten die Rationalisierungsmaßnahmen beinahe zu einem schweren Unfall geführt.

"Eine Art interne Stasi"

Der Brachial-Privatisierer Hartmut Mehdorn wird sogar nach dem Berliner Flughafen-Desaster als erfolgreicher Manager gefeiert, während die GDL bei ihrem Streik unlängst von den Medien als eine Art Satanssekte dargestellt wurde. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Bernhard Knierim: Hartmut Mehdorn hat überall, wo er gewirkt hat, einen Scherbenhaufen hinterlassen. Bei der Bahn war es am schlimmsten, dort hat er mit seinem Ziel, die DB AG um jeden Preis an die Börse zu bringen, riesige Schäden verursacht und zur Absicherung seiner Herrschaft im Konzern eine Art interne Stasi aufgebaut. Trotzdem ist er am Ende mit einem gigantischen goldenen Handschlag verabschiedet worden.
Beim Berliner Flughafen muss es darum gehen, Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten und zu verbessern. Ich frage mich immer noch, wie man auch nur auf die Idee kommen kann, dafür einen Menschen wie Mehdorn zu holen, der nichts anderes kann als mit Druck von oben zu arbeiten. Die zwei Jahre, die die Berliner und Brandenburger noch einmal viele, viele Millionen gekostet haben, hätte man sich sparen können.
Warum ein solcher Mensch noch immer gefeiert wird und warum umgekehrt auf die GDL, die das tut, was man von einer Gewerkschaft erwarten sollte, fast nur draufgehauen wird, ist mir auch schleierhaft. Man könnte jetzt viel über Medienkampagnen spekulieren, aber das überlasse ich lieber anderen.

"Ich bin guter Hoffnung, dass wir einen neuen Anlauf für die Bahnprivatisierung zum Scheitern bringen werden"

Wie sehen Sie die Zukunft der Bahn: Wird die Privatisierung zurückgenommen oder dieser Weg weiter beschritten? Zur Zeit mehren Sie ja die Anzeichen für eine weitergehende Bahnprivatisierung ...
Bernhard Knierim: Was mit der Bahn passiert, hängt zum Glück zu einem gewissen Maß auch davon ab, was wir als Bürgerinnen und Bürger wollen und da sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung den letzten Umfragen zufolge ganz klar gegen eine Privatisierung. Das war ein ganz wichtiger Grund dafür, dass der geplante Börsengang von 2008 letztlich gescheitert ist - und ich bin guter Hoffnung, dass wir mit einer ähnlichen Kampagne wie 2005 bis 2008 auch einen neuen Anlauf für die Bahnprivatisierung - wieder einmal durch die große Koalition - zum Scheitern bringen werden.
Wünschen würde ich mir natürlich eine sofortige Rücknahme der formellen Privatisierung und eine Orientierung der Bahn am Allgemeinwohl und den Verkehrsbedürfnissen der Bevölkerung statt an einem ohnehin aus öffentlichen Mitteln finanzierten Bilanzgewinn. Wie eine solche bessere Bahn in öffentlicher Hand ohne die Schwächen der alten Bundesbahn aussehen könnte, das haben Winfried Wolf und ich im letzten Kapitel unseres Buches skizziert.
Dass es in nächster Zeit so kommen wird, glaube ich leider nicht, denn die Regierung will sich nicht wirklich mit der Bahn befassen und lässt Rüdiger Grube einfach wursteln. Meine Befürchtung ist, dass es erst zu einer größeren Katastrophe kommen muss - sei es ein schlimmer Unfall oder enorme Verluste durch eine neue Wirtschaftskrise - bis es zu einem Umdenken in der Bahnpolitik kommt.

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