Unterwegs in Bagdad

Ein irakischer Journalist erinnert sich an die Arbeit mit Stephanie Sinclair, der amerikanischen Fotografin des Nahen Osten

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Seit kurzer Zeit genießt Alaa Sardoon Jarbooa zusammen mit seiner Frau und seinen drei Kindern den Frieden in Deutschland. Er ist Stipendiat der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte: „Ich suche den Frieden, die Sicherheit und die Ruhe."

"Die Straßen in Bagdad sind unsicher. Alle haben Angst“, erzählt der 33-jährige Linguist, Familienvater und irakische Journalist Alaa Sardoon Jarbooa in seinem Hamburger Appartement. Seit einigen Tagen können er, seine drei Kinder und seine Frau aufatmen und mit einem Gefühl der Sicherheit durch die Straßen Hamburgs gehen. Doch vor seinem geistigen Auge sieht er immer noch wie durch ein fernes Fenster das Chaos in der irakischen Hauptstadt. Der Iraker hat zu lange darin ge- und überlebt, nach den Ursachen und Wirkungen des Krieges geforscht und dessen bittere Folgen täglich erlebt. Alaa Sardoon Jarbooa war einer der Personen, ohne die internationale, ausländische Journalisten ohne Orts- und Sprachkenntnisse bei der Recherche in den unsicheren Straßen Bagdads verloren gewesen wären.

Die Präsenz der Amerikaner zeigt kaum Wirkung gegen das Chaos

„Die politische Situation im Irak ist immer noch schlecht. Zur Zeit Saddam Husseins war die irakische Bevölkerung durch Tyrannei unterdrückt“, sagt Sardoon Jarbooa. Die Menschen seien zum Kriegsdienst gezwungen worden, und wer sich der Armee verweigerte, war sich seines Lebens nicht mehr sicher.

Nach der Saddam-Ära folgte die Ära der Besatzung durch die USA. Die Iraker haben teilweise die amerikanischen Truppen mit Jubel begrüßt. Und sie warteten auf die Ergebnisse der neuen Politik. Monate seien vergangen und nichts geschehen. Jahre zogen ins Land und noch immer sei kein normales Leben in Bagdad oder anderswo im Irak möglich.

Wir vergleichen uns gar nicht mit dem Leben in Luxus der Kuwaiter. Die Iraker wollen nur ihr Leben behalten. Doch Eltern haben Angst um ihre Kinder. Ehemänner Angst um ihre Frauen. Jede Woche gehen in Bagdad vier bis fünf Autobomben hoch und reißen im Umkreis von mehreren Hundert Metern alles mit sich in die Luft.

Alaa Sardoon Jarbooa

Doch die Bombenattentate stellen nicht die einzige Gefahr dar. Saddam Hussein habe eine aggressive Grenzpolitik betrieben und die Nachbarstaaten gegen sich aufgebracht. Heute sind die Grenzen nach Syrien, Saudi-Arabien, Kuwait und Jordanien offen. Anhänger von Al Qaida, extreme Moslems, religiöse Organisationen und Kriminelle können ungehindert die Straßen Bagdads passieren. Sie kidnappen Kinder, Andersgläubige und politische Gegner. „Auch in meinem Freundeskreis sind Kinder entführt worden. Ich bin deshalb jeden Tag mit dem Fahrrad gefahren, um meine Kinder von der Schule abzuholen“, erklärt der Familienvater.

Dabei sei der Irak eigentlich durch seine Ölreserven ein reiches Land. Die bisher schlechte Regierungsführung habe jedoch dazu geführt, dass das Land von seinen natürlichen Ressourcen im Unterschied zu Kuwait nie profitieren konnte. Den Menschen, die eigentlich auf eine fünftausendjährige Hochkultur zurückblicken können, fehlt es heute am Nötigsten wie an Wasser und Lebensmitteln. Obgleich aus dem Irak die besten Mediziner kommen, wissen die Ärzte vor Ort nicht, wie sie den Krebs in den Griff bekommen sollen, der durch die im Krieg verwendete Uranmunition verursacht wurde, und was sie gegen Genmutationen bei Geburten tun können.

Bagdad bietet für Akademiker keine Arbeitsmöglichkeiten

Journalist ist Alaa Sardoon Jarbooa durch einen glücklichen Zufall geworden. Seine Tätigkeit für amerikanische Tageszeitungen wie die New York Times, The Guardian und Washington Post bewahrte ihn und seine Familie vor Armut, so wie es den meisten irakischen Akademikern in Bagdad nach dem Studium ergeht. „Viele sind arbeitslos oder verkaufen Zigaretten auf der Straße“, erzählt der Iraker.

Vor zehn Jahren hatte Sardoon an der Bagdader Universität, an der Fakultät für Sprachen, an der sieben Sprachen - Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Hebräisch, Persisch und Spanisch - gelehrt werden, den Bachelor-Grad in deutscher Linguistik erhalten. Er suchte daraufhin eine Arbeit als Übersetzer für Deutsch-Arabisch, Arabisch-Englisch und Englisch-Deutsch. Doch nach seinem eineinhalbjährigen Kriegsdienst in der Armee Saddam Husseins konnte er nirgendwo eine Arbeit als Übersetzer finden. Er schrieb an die deutsche Botschaft. Erfolglos. Dann arbeitete er im Abschleppdienst. „Das war eine schmutzige Arbeit. Die Regierung bot keine Jobs für Akademiker“, erinnert er sich.

Um seine Familie zu ernähren, arbeitete er im Duty Free Shop am Flughafen und konnte zumindest seine Deutsch- und Englischkenntnisse im Gespräch mit den Reisenden einsetzen, trug schöne Kleidung, aber verdiente zu wenig Geld. Danach arbeitete er im Chauffeurdienst. Dies war sein erster Kontakt mit ausländischen Journalisten. Bei einer Rundfahrt durch Bagdad lernte er die 33-jährige, amerikanische Fotografin Stefanie Sinclair, die an der Universität von Florida Journalismus und Fotografie studiert hatte, kennen. Nach dem Studium hatte Sinclair fünf Jahre für die Chicago Tribune gearbeitet, kündigte während des Irak-Krieges und verlegte ihren Lebensmittelpunkt in den Nahen Osten. Zunächst reiste sie nach Bagdad und dann nach Beirut in den Libanon, wo sie für GEO, die amerikanische Bildagentur Getty Images in Seattle und amerikanische Tageszeitungen über Frauen berichtete, die Gewalt und Unterdrückung im Nahen Osten erleben. Von dort gibt sie auch ein Online-Magazin heraus, das sich an weibliche Fotografen wendet.

Der Alltag in Bagdad mit der Kriegsfotografin Stephanie Sinclair

Die vielfach preisgekrönte Fotografin Sinclair – sie gewann 2007 den internationalen Wettbewerb UNICEF-Foto des Jahres mit einer Aufnahme eines Brautpaares in Afghanistan, das den 40-jährigen Bräutigam Mohammed und seine elfjährige Frau Ghulam zeigt - war im September 2003 in den Irak gereist, um für die New York Times zu fotografieren. „Stephanie ist eine mutige und liebenswerte Person. Sie machte mich schnell zu ihrem Assistenten. Ich hielt für sie die Kameraausrüstung und fragte die Leute, ob sie sich fotografieren lassen wollen. Dabei übersetzte ich vom Arabischen ins Englische und vom Englischen ins Arabische zurück“, erzählt der Stipendiat der Hamburger Stiftung.

Im April 2004 suchten die beiden Journalisten Waisenhäuser in Bagdad auf, da viele Kinder durch den Krieg verwaist sind. Nach Ansicht Alaa Sadoons ging es den Waisenkindern auch zu Zeiten Saddam Husseins nicht wirklich schlecht. Dabei gab es Waisenhäuser für Babys, Kleinkinder und Jugendliche. Unter Saddam Hussein wurde den verwaisten Kindern ein Bankkonto eingerichtet, auf das ihre Waisenrente floss. Doch mit der Ankunft der Amerikaner seien die Waisenhäuser auch neu renoviert worden. Die US-Truppen haben dafür gesorgt, dass es in den Waisenhäusern erstmals klimatisierte Räume gab, Kekse und genügend Spielsachen. „Wegen der Attentats- und Kinder-Kidnappinggefahr können die Kinder momentan die Häuser nicht verlassen, um auf Spielplätzen zu spielen oder einen Ausflug zu machen“, bedauert Sadoon.

Dann waren Sinclair und Sadoon zu einer Trauerfeier geladen, wobei eine Familie um den Ehemann und Vater trauerte – ein Polizist, der durch eine Autobombe ums Leben kam. „Wir fotografierten die Beerdigung, den Friedhof und das Zusammensein der Trauergäste“, sagt Sadoon. Die meisten recherchierten Geschichten handelten eben von Attentaten durch Autobomben und deren Opfern. „Sobald wir von einem Anschlag hörten, fuhren wir hin, ich übersetzte und schrieb die Namen der Zeugen auf“.

Stephanies Objektiv sei dabei nichts entgangen. Sie fotografierte die schmutzigen Straßen, die zusammengestürzten Häuser oder die Einschusslöcher in den Außenfassaden. Dabei stießen sie auch auf alte Saddam-Bilder und Plakate. Diese waren teilweise mit Farbe überdeckt oder von den Kugeln alter Kalaschnikows durchlöchert worden. Denn erst mit der Besetzung des Iraks gab es die Möglichkeit, Saddam Hussein zu kritisieren. Vorher war dies ein Vergehen, das mit der Todesstrafe geahndet wurde.

Alaa Sadoon war jedoch nicht nur Assistent der Fotografin, sondern hielt die Geschehnisse auch in Kurzberichten auf einem Notizblock fest, die er dann per Telefon in die USA an die Redaktionen des Guardian, der Chicago Tribune oder der New York Times durchgab.

Wie viele Iraker ist auch Alaa Sadoon von den Bombenattentaten traumatisiert

Alaa Sadoon arbeitete über Jahre als Journalist im Irak unermüdlich und unerschrocken. Im April 2006 besuchten Stephanie Sinclair und er eine Moschee, um über sie für die New York Times zu berichten. Doch als sie die Moschee gerade fünf Minuten verlassen hatten, explodierte eine Bombe.

Alaa Sadoon hatte Glück. Von da an verfolgten ihn die Bilder der Bombenopfer. Bilder von übriggebliebenen Leichenteilen. Fünf Monate lang konnte er überhaupt nicht mehr arbeiten. Angst lähmte ihn. Dennoch hat die New York Times sein Gehalt weiter bezahlt. „Zusammen mit Stephanie, die sich um mich wie eine Mutter sorgte, reisten wir in den Libanon auf der Suche nach einem Psychologen. Stephanie bezahlte alles. Auch der Reporter vom Guardian, Ghaith Abdu Ahad Selim, für den ich arbeitete, gab mir Geld.“ Alle rieten Alaa Sadoon sich künftig eine leichtere Arbeit zu suchen, so dass er den Journalismus im ehemaligen Kriegsgebiet ganz hinter sich zu lassen gedachte. Stephanie Sinclair stellte dann den Kontakt zur Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte her, die Alaa Sadoon und seiner Familie ein einjähriges Stipendium gewährte.

Alaa Sadoon frischt inzwischen am Hamburger Goethe-Institut sein Deutsch auf. In Bagdad wollte er nie für die arabischen, privaten Tageszeitungen Al-Zaman, Al-Shahid und Al-Mashriq oder die regierungsnahe, arabische Zeitung Al-Sabah arbeiten, und auch eine Rückkehr in die Heimat hält er für unvorstellbar. Für deutsche Zeitungen aber will Alaa Sardoon Jarbooa künftig gerne schreiben.