Unterwegs zu einer deutschen Cancel Culture
Seite 2: Gesinnungsjournalismus mit erfundenen Fakten
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Schlimmer noch war in ihrem unverhohlenen Populismus einmal mehr die Berichterstattung im Tagesspiegel. In der Berliner Lokalzeitung gilt der Medienredakteur Joachim Huber nach wie vor als einer der Experten zum Thema, wohl nicht zuletzt, weil Huber im Jahr 2020 selbst an Corona erkrankte, dies im Tagesspiegel in Reportageform öffentlich machte und danach auch bei Markus Lanz über seine Erkrankung und persönliche Erkenntnisse berichtete. Hubers Artikel sind seitdem nie objektiv, sondern hauptsächlich kommentierende Meinungstexte, die vor allem die persönliche Betroffenheitsperspektive des Autors zum Ausdruck bringen.
Mit dem Ergebnis, dass darunter bereits Hubers Berichte über die Filmschaffenden-Initiative #allesdichtmachen so sehr litt, dass sich die Tagesspiegel-Redaktion mehrmals zu Korrekturen und Richtigstellungen genötigt sah.
Daraus gelernt hat der Mann offenkundig nichts, sondern frönt weiter einem Gesinnungsjournalismus, der sich um Tatsachen nicht viel schert: "Eine Impfskeptikerin" nennt Huber Flaßpöhler kontrafaktisch in seinem Bericht, ungeachtet dessen, dass diese in der Sendung zuvor erklärt hatte, zweimal geimpft zu sein und sich auch dagegen verwahrt hatte, von Frank Plasberg in eine Querdenkerecke geschoben zu werden.
Flaßpöhler, so Autor Huber würde ein "neues Mittelalter" befeuern. Tatsächlich dürfte ein solches Mittelalter eher in einem medialen Pranger mit anschließender öffentlicher Hexenverbrennung zu finden sein, wie sie der Tagesspiegel-Autor praktiziert.
Danach wird die Philosophin auch noch mit Unterstellungen verächtlich gemacht und ebenfalls ein Auftrittsverbot im Fernsehen nahegelegt: "Es muss allen Talkshowredaktionen klar sein, dass sie mit Flaßpöhler & Co. deren Agenda mitbetreiben. Die Philosophin, so ihre Berufsbezeichnung, haut Buch auf Buch raus, jeder TV-Auftritt wird die Auflage beflügeln."
Das sind Vorformen einer deutschen Cancel Culture, die in diesem Fall von Journalisten befeuert wird.
So sehen Medienkampagnen aus
Nur drei Tage später ging es bei Joachim Huber, anscheinend ein Getriebener, schon wieder um Flaßpöhler, diesmal in seiner Ankündigung der "Precht"-Sendung: "Wir brauchen jetzt seriöse und keine lautsprecherischen Debatten ... Werden [die Gästelisten] gerade korrigiert?"
Dann kommt Huber auf die "Impfskeptikerversteher" Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler zu sprechen: "Der Gast im Precht-ZDF-Format am kommenden Freitag: Svenja Flaßpöhler. Das Thema: 'Sensibilisieren wir uns zu Tode?' Ich hätte da eine Antwort, will aber erst die Sendung abwarten. Erst sehen und hören, dann meinen. Fortschritt kann auch persönlich werden."
Es folgte am 30.11. der dritte Tagesspiegel-Text des Autors Joachim Huber zu Svenja Flaßpöhler binnen weniger als zwei Wochen. Das Sichtungs-Ergebnis ist erwartbar:
Anschauungsunterricht, warum sich Flaßpöhler und Precht immer mehr von der bürgerlichen Mitte an die Ränder der Gesellschaft bewegen. Vielleicht fühlen sich die Borderline-Talker da wohler und besser verstanden. Für eine ernsthafte Debatte über notwendiges Handeln in der und für die von der Pandemie geplagten Gesellschaft taugen sie nicht, und Biologie ist ihre Sache nicht.
Joachim Huber, Tagesspiegel
So sehen Medienkampagnen aus.
Narzisstische Kränkung und Ressentiment
Kampagnenjournalismus mit gleicher Tendenz konnte man dann auch bereits am Tag der "Precht"-Sendung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) entdecken. Da genügt der für derartige Kurzschlüsse auch viel zu klugen Feuilleton-Chefin Julia Encke nur ein halber Absatz, um dem Diskurs über die "angebliche" (warum eigentlich "angebliche"?) "Beschneidung von Freiheit, gesellschaftliche Zwänge und selbst auferlegte Zensur" mit dem Milieu der Impfskeptiker und Corona-Leugner (ist das jetzt schon dasselbe?) zu kommen, die "bürgerliche Mitte", die diese Bedenken vielleicht teilt, zu desavouieren und dann über "besonders kultivierte" Menschen zu spotten, die die "philosophische Bibliothek des ganzen Abendlandes im Rücken" haben – und das ausgerechnet in einer Zeitung, die mal damit warb, das sind hier immer ein kluger Kopf dahinterstecke. Aber das ist tatsächlich verdammt lang her.
Was bei Enckes Text (unter dem Titel: "Sie nennen es Freiheit") mehr als alles andere übel aufstößt, ist der wohlformulierte Soupcon gegen das "Geklingel der vielen Bildungszitate von Kant bis Richard Sennett, von Alexis de Tocqueville über Freud bis Norbert Elias und Foucault" und das durch kein Argument gestützte Ressentiment, der fortwährende Versuch, Flaßpöhler und Precht nicht nur blöd, oberflächlich und unwesentlich zu finden, sondern in die Ecke rechtsextremer Querdenker zu rücken.
Tatsächlich kann man aber umgekehrt auch hinter den wohlabgewogen und sehr gemeinwohlorientiert daherkommenden Ausführungen der Autorin weniger Gelassenheit und Motive entdeckten und dafür ein paar in der Pandemie sehr verständliche, aber nicht ganz so philosophische Gefühle: Vor allem die narzisstische Kränkung, einst selber gegen eine Impfpflicht gewesen zu sein und sich jetzt korrigieren zu müssen, weil nicht alle so klug sind, wie man selber.
Daneben Angst und Überdruss. Es muss jetzt endlich Schluss sein mit der Pandemie, die Leute sollen spuren und sich impfen lassen!
Mag ja sein. Ist, wie gesagt, verständlich. Und der Autor dieser Texte ist auch für eine Impfpflicht. Aber wir Impfpflichtbefürworter sollten doch wenigstens ehrlich zu uns selber sein: Eine Impfpflicht ist ein gutes Mittel, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber auch sie wird die Pandemie nicht beenden. Corona wird nicht aus der Welt zu schaffen sein. Auch nicht, wenn man alle, die gegen eine Impfpflicht sind, mundtot gemacht hat.