Update: Für Rechtspopulist Schill ist sogar die RAF bei Indymedia noch aktiv

Die Verleihung des von der Bundeszentrale für politische Bildung ausgelobten poldi-Preises "für praktizierte eDemocracy" an das angeblich verfassungsfeindliche Netzwerk indymedia.de wird von der Springer-Welt, der CDU/CSU und Schill als politischer Skandal aufgebauscht

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Voll Zuversicht blickt die Schill-Partei bzw. die Partei Rechtsstaatlicher Offensive auf den Wahltag. Gerade einmal hat sogar der Hamburger Innensenator Ronald Barnabas Schill en Bezirksvorsitzenden Frederick Schulze aus seiner Partei ausgeschlossen, weil der auf einer Veranstaltung Störern zugerufen hat, dass sie doch arbeiten gehen sollen, weil "Arbeit macht frei". Immerhin aber zeigt sich "Spitzenkandidat" Schill "stolz" auf die Zugriffeszahlen der Homepage: "Immer mehr Wähler informieren sich über unser Angebot auf diesem Weg. Von den über 50.000 Zugriffen täglich erfahren wir viel Unterstützung. Die Reaktionen sind fast durchweg positiv." Da kann man nur gratulieren. Nachprüfen lässt sich das nicht. Das Forum ist deaktiviert, damit alles sauber und ungetrübt bleibt.

Update:

Mittlerweile ist auch die CSU aufgewacht. So schlägt nun Peter Ramsauer, der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, in einer Pressemitteilung in dieselbe Kerbe wie die Welt und Schill. Bei Indymedia betreiben seiner Ansicht nach "unter dem Deckmantel eines "basisdemokratischen Nachrichtendienstes" linke Chaoten ideologische Hetzjagden bis hin zu versteckten Aufrufen zur Gewaltanwendung". Ramsauer fordert Bundesinnenminister Schily und Staatsminister Nida-Rümelin auf, die Preisverleihung rückgängig zu machen: "Weiter anhaltendes Schweigen muss andernfalls von der links-chaotischen Szene als Ermunterung verstanden werden."

Auch Wolfgang Bosbach ist gestern erneut in den Ring gestiegen und fordert zusammen mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Kuratoriums der Bundeszentrale für politische Bildung, Angelika Volquartz MdB, gleich dazu auf, dass sich die Bundesregierung von der Preisverleihung distanzieren müsse, weil für die politische Bildung ein "immenser Schaden" entstanden sei: " Der Staat kann nicht auf der einen Seite den Extremismus in Deutschland verurteilen und auf der anderen Seite Auszeichnungen linksextremer Aktivisten unterstützen. Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung bei der Bekämpfung von politischem Extremismus steht auf dem Spiel." Der Skandal dürfe nicht totgeschwiegen werden. Gefordert wird eine Sondersitzung des Kuratoriums.

Wie Guido Heinen ebenfalls in einem Artikel gestern in der Welt berichtet, was dann doch schon nach einer Art koordinierter Aktion aussieht, hätte das Bundesinnenministerium mitgeteilt, dass es in der Jury keine Diskussion gegeben habe: "Den Jurymitgliedern waren die Preisträger bis zur Preisverleihung nicht bekannt." Die Bewertung sei "ausschließlich online und virtuell" geschehen, die Entscheidung für die einzelnen Preisträger von "politik-digital" durch Erfassen der Gesamtpunktzahl aller Jurymitglieder ermittelt worden, wobei Staatssekretärin Brigitte Zypries nicht für indymedia gestimmt habe. Nida-Rümelin sagte, er habe an der Entscheidungsfindung nicht mitgewirkt. Heinen will nun offenbar neben Nida-Rümelin, der nichts damit zu tun haben will, der Bundeszentrale für politische Bildung, die sich wegduckt, und dem Bundesinnenministerium, das alle "Schuld" wegschiebt, anstatt offensiv zu argumentieren, vor allem "politik-digital" treffen. Aber das ist nun tatsächlich nicht linksextrem.

Kürzlich ist Schill aber noch über etwas gestolpert, womit er gegen die Bundesregierung noch zu punkten hofft. Angeregt vermutlich durch einen Artikel in der Welt (Springer Verlag), der am 14.9. beschwor, dass sich die Affäre um linksextreme Website ausweiten würde, nachdem am Tag zuvor bereits darauf verwiesen wurde, dass Politiker einen "Medienpreis an linksextreme Internet-Seite" vergeben hätten. Auch dieser Schuss von Guido Heinen kam schon ziemlich zeitverzögert, da der an Indymedia Deutschland gegangene poldi-Award, der als "Auszeichnung für praktizierte eDemocracy" gedacht ist, in der Rubrik "Beste Online-Initiative für Wissenschaft, Bildung und Kultur" bereits am 28.08.02 in der Berliner DZ Bank verliehen wurde (vgl. auch Firewall statt Feuerwehr?).

Thomas Roth, Leiter des ARD Hauptstadtstudios, moderierte den Abend, Schirmherr war Staatsminister Nida-Rümelin. Die Jury bestand aus den gleichfalls als wenig linksextrem einzuschätzenden Andreas Dohmen (Vizepräsident und Geschäftsführer Cisco Systems), Ulrich Dietz (Vorstandsvorsitzender GFT) Gerd Landsberg (Hauptgeschäftsführer des DStGB), Christoph Bieber (Vorsitzender pol-di.net e.V.), Brigitte Zypries (Staatssekretärin BMI), Jörg Sadrozinski (Redaktionsleitung tagesschau.de), Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung) sowie Christa Maar (Präsidentin der Burda Akademie zum Dritten Jahrtausend). Der Preis geht auf eine Initiative der Bundeszentrale für Politische Bildung (BpB), des Deutschen Städte- und Gemeindeverbundes und von Politik digital.

Der Welt-Journalist sah offenbar im Vorfeld zu Schill eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen, und versuchte, aus der Preisverleihung einen Skandal zu machen. Er verweist darauf, dass im Verfassungsschutzbericht 2001, der vom Bundesinnenministerium herausgegeben wird, Indymedia als Teil eines internationalen Netzwerks gilt, das von "Linksextremisten" betrieben wird (zur Gründung von indymedia.de siehe APO-Online: Die Opposition formiert sich neu im Netz sowie Multimedial und auf der Strasse gegen George W. Bush). "Ausgeweitet" wurde nach Ansicht von Heinen der Skandal dadurch, dass über Indymedia auch im Online-Magazin fluter, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird, ein Artikel über das Netzwerk erschienen ist, in dem "kein Hinweis auf die verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Netzseiten-Betreiber, wie sie von Verfassungsschutzämtern festgestellt werden", erfolgte.

Das stand so natürlich auch nicht Verfassungschutzbericht, sondern ist weit überzogene Interpretation des Welt-Journalisten. In einem anderen Bericht vom Februar 2002, der von Heinen nicht zitiert wird, wird Indymedia auch nur noch als "von Linksextremisten genutzte Internet-Homepage" bezeichnet. Und im Verfassungsschutzbericht 2001 von Nordrhein-Westfalen, auf den Heinen verweist, liest man auch nur: "Das World Wide Web wird zunehmend zur so genannten "unabhängigen Berichterstattung" genutzt. So erhebt das Internetportal 'indymedia' den Anspruch, als Teil einzelner Kampagnen aus diesen selbst heraus zu berichten. Es knüpft somit an das Konzept der "Gegenöffentlichkeit" an, das die Medienpraxis linksorientierter Bewegungen der 60er und 70er Jahre bestimmte und das die Einheit von Aktion und Berichterstattung vorsieht."

Das Prinzip von Indymedia ist denn auch, dass es keine eigentliche Redaktion gibt, sondern im Sinne einer Gegenöffentlichkeit zu den Mainstreammedien jeder weitgehend unzensiert Informationen, Hinweise und Artikel veröffentlichen kann - was natürlich zu entsprechenden Problemen führt. Nach dem Selbstverständnis der wechselnden und "moderierenden" Redaktionskollektive haben "Beiträge mit sexistischem, rassistischem, antisemitischem oder sonstwie menschenverachtendem Inhalt auf indymedia nichts zu suchen". Heinen listet auf, was er als besonders bedenklich sieht:

"Auf der WWW-Seite "indymedia.de" betreiben linksextreme Gruppen einen regen Informationsaustausch. Tausende von elektronischen Nachrichten behandeln alle zentralen Themen des extremen linken Spektrums. In den Texten werden Institutionen und Organe des Staates immer wieder beschimpft. Besonders Verfassungsschutz, Generalbundesanwalt, Bundesgrenzschutz und Polizei werden als Vertreter des "repressiven" Staates und des "Kapitals" denunziert."

Natürlich fand Heinen in der Opposition auch lautstarke Kritiker der Preisverleihung, schließlich ist Wahlkampf. So sagte Wolfgang Bosbach, stellvertretender Chef der CDU/CSU-Fraktion, der Welt: "Es ist unerträglich, dass der selbe Staat, der vor diesem Internetportal wegen des verfassungsfeindlichen Inhalts warnt, diesem Portal einen Internet-Preis verleihen lässt." Und er forderte: "Diese Auszeichnung muss schleunigst wieder einkassiert werden."

Nachdem der Widerhall bislang nicht groß war, scheint nun Schill den Skandal für sich nutzen zu wollen. Der muss natürlich die Spirale der Übertreibungen noch eine Umdrehung weiter treiben und schreibt in einer Pressemitteilung vom 16.9.:

Indirekte Unterstützung einer verfassungsfeindlichen Internetseite durch das Bundesinnenministerium/Ronald Schill: "Staatssekretärin im Innenministerium Zypries in zweifelhafter Rolle."
Das laut Verfassungsschutzbericht linksextremistische Internetportal indymedia.com ist mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung mit einem Preis als Informationsseite ausgezeichnet worden. Ronald Schill: "Ein Skandal. Die Bundeszentrale für politische Bildung erhält Steuergelder, ist an das Ministerium von Otto Schily angebunden und fördert eine Seite ohne Impressum, auf der zu politischer Gewalt aufgerufen wird." So würden u.a. die Privatadressen einzelner Bundestagskandidaten genannt und zu gewalttätigen Aktionen aufgerufen. "Von RAF bis Antifa ist die gesamte Palette linksfaschistoider Verwirrung mit ihrer Hasspropaganda vertreten."

Nun gibt es zwar die RAF nicht mehr, die laut Schill auf "indymedia.com" - den Domainnamen gibt es auch nicht, was heißt, dass der Politiker wohl nicht mal auf die Website geschaut hat - vertreten ist, aber das macht für den Innensenator und ehemaligen Strafrichter offenbar nichts aus. Er spricht denn auch wieder wie der Welt-Journalist von "verfassungsfeindlichen Aktivitäten", die vom Bundesverfassungsschutz allerdings nicht erwähnt werden: "Die Bundeszentrale für politische Bildung muss sich von der Entscheidung öffentlich distanzieren. Verfassungsfeindliche Aktivitäten müssen Strafverfolgung statt rot-grüner Kulturpreise nach sich ziehen."

Noch sind linke Publikationen auch im Internet nicht per se verfassungsfeindlich, weswegen Schill, wenn er denn überhaupt darüber wirklich nachgedacht hat und nicht nur einen schnellen Mediencoup landen wollte, wohl auch lieber eine Pressemitteilung geschrieben, als eine Anzeige gestellt hat. Rückblickend muss dem nicht gerade des Linksextremismus verdächtigen Innenministerium und der Jury des Preises eher schon Anerkennung gezollt werden, eine sicherlich in vielen Hinsichten für eine Politik der Mitte nicht angenehme, manchmal auch problematische, aber der linken und globalisierungskritischen Bewegung eine Stimme verleihende Publikationsinitiative mit vielen interessanten und webspezifischen Aspekten mit einem Preis ausgezeichnet zu haben. Natürlich lassen sich, je nach politischem Lager, viele der dort angebotenen Inhalte kritisieren, aber Indymedia ist weltweit eine Publikationsinitiative, die das demokratische Potenzial des Internet ausschöpft und verstärkt, indem es auch Informationen eine Öffentlichkeit verschafft, die oft genug in anderen Medien untergehen. Man stelle sich nur Indymedia Irak, Saudi-Arabien, China, Burma oder wie sie sonst noch alle heißen mögen vor, um erahnen zu können, wie wichtig solche, viel freiwillige und nicht entlohnte Arbeit erforderlichen Informations- und Kommunikationsstrukturen für den Demokratisierungsprozess sind. Offene Gesellschaften brauchen offene Medien. Aber Schill und Co. ziehen womöglich andere Systeme vor.