Ursachen der zahlreichen Konflikte im Vielvölkerstaat Myanmar
Seite 6: Die Macht der Gerüchte
Bereits kurz nach der Öffnung des Landes, in März 2013, kam es, ausgehend von der zentralburmesischen Stadt Mektila, zu Pogromen gegen ihre muslimischen Bewohner. Mindestens 40 Menschen starben dabei, darunter 32 Jugendliche in einer Schule. Die Unruhen breiteten sich rasch aufs ganze Land aus.
Angst beherrscht seitdem das Leben in muslimischen Vierteln der Städte und der Dörfer. Und das ausgerechnet in Myanmar, dem buddhistischen Land par excellence, dem Land der "Safranrevolution", der friedlichen Mönchsproteste. Im burmesischen Buddhismus haben sich starke Elemente des animistischen Volksglaubens aus der vorbuddhistischen Zeit in Form von übernatürlichen Wesen, oder Geistern, der sog. Nats erhalten. Diese Vermischung vom Animismus und Buddhismus in Kombination mit einem dysfunktionalen Schulsystem, macht die Menschen für Gerüchte und Verschwörungstheorien besonders anfällig.
Für Informationen hatte bis vor wenigen Jahren ausschließlich die Regierung die Lizenz. Die Zeitungen und das Fernsehen verbreiteten Durchhalteparolen, Slogans und Erfolgspropaganda. Das Internet war nur auf größere Städte beschränkt und streng kontrolliert, die SIM-Karte für ein Mobiltelefon kostete ein Vermögen. Was blieb, was dieses Informationsloch auffüllte und die Menschen mit dem nötigen Gesprächsstoff versorgte, war das Gerücht. Die ständige Unsicherheit und Unwissenheit schienen der Regierung durchaus willkommen zu sein.
Die Gerüchteküche ist auch im heutigen Myanmar ständig am Brodeln. Seit das Militär die Zensur gelockert hat, aber vor allem dank der günstigen chinesischen Smartphones, breiten sich Falschinformationen und Aufrufe zur Gewalt wie ein Lauffeuer aus. Ashin Wirathu, ein Ordensmann aus Mandalay wurde zum Gesicht dieses Hasses. Er saß wegen seiner antimuslimischen Aktivitäten neun Jahre im Gefängnis, bis er dank der Amnestie für politische Gefangene 2012 wieder frei kam. Seitdem ruft er v.a. über soziale Netzwerke und YouTube unermüdlich zur Gewalt gegen Moslems auf. Er führt die radikale "969-Bewegung" an, beschuldigt die Muslime, die burmesische Rasse und Religion zerstören zu wollen, ruft zu Boykotten muslimischer Geschäfte auf, verbreitet Horrorvisionen einer angeblichen muslimischen Weltherrschaft. Geht man nach der Anzahl der 969-Sticker auf den Autos, Busse und Taxis der Großstädte Myanmars, genießt die Bewegung eine breite Unterstützung.
Mittlerweile besitzen 30 Millionen Burmesen ein Facebook-Konto, für die meisten stellt es die einzige Informationsquelle dar. Manche Beobachter, wie etwa der langjährige Regimekritiker Aung Zaw, vermuten eine bewusste Steuerung und Kanalisierung des Hasses gegen einen äußeren Feind, denn die Moslems im Allgemeinen und die Rohingya im Speziellen werden von Bamar-Burmesen als Ausländer betrachtet. Somit wird auch hier eine gezielte Benutzung der Ressentiments durch die Hardliner im Militär suggeriert, um Aung San Suu Kyi und den Reformern in der Armee zu schaden. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Militärs ähnlicher Taktiken bedienen.
Vielleicht hat man im Westen die Demoralisierung der jahrzehntelang isolierten, mittellosen und unterdrückten burmesischen Gesellschaft unterschätzt. Thant Mint-U, ein bekannter Historiker und der Enkel des UNO-Generalsekretärs U Thant, hat dafür eine Erklärung: "Myanmar ist ein Land, das durch 20 Jahre Sanktionen, 30 Jahre selbst auferlegte Isolation und 50 Jahre Autoritarismus gebrochen wurde. Ganz zu schweigen von mehr als einem Jahrhundert britischer Herrschaft, als die Monarchie aus dem Herzen der Gesellschaft herausgerissen wurde. Die Nachfahren des letzten, exilierten Königs sind Hinterhofmechaniker und Rikscha-Fahrer in Südindien."