Urwahlen, offene Vorwahlen oder Kenntnistests?
Die SPD-Basis ist unzufrieden mit ihrer Parteiführung
Vor gut zwei Monaten fragte die SPD ihre Parteibasis mittels Fragebögen, wie zufrieden man dort mit der Arbeit der Führung ist. Knapp die Hälfte der etwa zehntausend Ortsvereine, an die man die Fragen verschickt hatte, machte sich die Mühe und antwortete. Das Ergebnis dürfte der Parteiführung, die seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen trotz eines Verlusts an Stimmanteilen in neuer Selbstzufriedenheit schwelgt, zu Denken geben.
Die am häufigsten genannte Antwort darauf, was den Befragten aus dem letzten Bundestagswahlkampf besonders positiv aufgefallen ist, lautete beispielsweise "nichts". Der farblose Spitzenkandidat, der sich gleich nach der verlorenen Wahl zum Fraktionsführer kürte, kam in den etwa 4.200 Antworten auf diese Frage nur "gelegentlich" vor.
Als Grund für die verheerende Niederlage bei der letzten Bundestagswahl nannten die Ortsvereine aber nicht in erster Linie Frank-Walter Steinmeier, sondern das von Gerhard Schröder initiierte Hartz-IV-System und die vor allem von Franz Müntefering vorangetriebene Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre. Oft aufgeführt wurden außerdem "fehlende Glaubwürdigkeit", "Profil- und Farblosigkeit", die "Entfremdung der Partei von Mitgliedern und Bevölkerung", ihr Verhältnis zur Linken und der Zustand der Bundes-SPD. Mit letzterer ist ein Drittel der Ortsvereine "unzufrieden" oder "weniger zufrieden".
Als Antidot empfehlen 91 Prozent der Ortsvereine mehr Mitbestimmung - aber nicht im Betrieb, sondern in der Partei. Etwa 80 Prozent wollen zudem Mitgliederentscheide. Allerdings sind diese Instrumente bei den Sozialdemokraten historisch vorbelastet: 1993 kürten die SPD-Mitglieder in einer so genannten "Urwahl" Rudolf Scharping zum Parteivorsitzenden. Heute leitet Scharping eine Consulting-Firma für Public Private Partnership und berät unter anderem die Investmentgesellschaft Cerberus.
Später hieß es entschuldigend, dass Scharping, den die Bundesdelegierten damals auf einem Sonderparteitag in Essen nur noch absegneten, ja lediglich mit relativer Mehrheit gewählt worden sei. Außerdem hätte er sich den Sieg erschlichen, weil er sich damals nicht explizit für eine Kanzlerkandidatur erklärte und so auch die Stimmen jener Mitglieder einsammelte, die Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidaten wollten. Doch auch andere "Urwahlen" auf Landesebene führten zu Personalentscheidungen, die in der historischen Rückschau nicht unbedingt klug erscheinen. So entschieden sich die Berliner SPD-Mitglieder 1999 beispielsweise für Walter Momper als Spitzenkandidaten für die Senatswahl.
Andererseits entsprachen Figuren wie Scharping und Momper auch relativ genau einer Karikatur jener Klientel, deren Sammelbecken die Sozialdemokraten Ende des 20. Jahrhunderts geworden waren: Eine Partei aus Lehrern, anderweitig Verbeamteten und Matronen mit Doppelnamen, welche die ihnen vorgebeteten neuen Ziele wie "Europa", "weltweite militärische Verantwortung" oder "geistiges Eigentum als neue deutsche Steinkohle" religionsartig verinnerlicht hatten und unhinterfragt nachplapperten. Ein Problem das auch die Gewerkschaft Verdi hat - vielleicht sogar in noch stärkerem Ausmaß als die SPD.
Auffrischen könnten dieses Milieu offene Vorwahlen, an denen auch Personen ohne Parteibuch teilnehmen dürfen. Solch ein an den US-Vorwahlen orientiertes System lehnen die Ortsvereine jedoch mit Zweidrittelmehrheit ab.
Vielleicht wären es ja auch weniger Wahlen, welche das Personal der SPD verbessern könnten, als Prüfungen: So könnte vermieden werden, dass Politiker über Sachverhalte, von denen sie ganz offensichtlich keine Ahnung haben, nicht nur reden, sondern auch entscheiden. Dass so etwas vorkommt, bewies im letzten Kabinett unter anderem Brigitte Zypries, die als Justizministerin den Inhalt der Entscheidung zu Informationellen Selbstbestimmung nicht richtig wiedergeben konnte, die Rechtslage zur Privatkopie falsch darstellte und nicht wusste, was ein Browser ist - aber nach der verlorenen Wahl trotzdem einen Posten im Ausschuss für Medien bekam.