Urzeitige Überlebende

Die seltsamen Urtiere aus dem Ediacarium hatten wohl doch Nachkommen

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Bizarre Wesen bevölkerten die Erde vor 550 Millionen Jahren. Bevor die Vendobionten, wie die diese urzeitlichen Viecher genannt werden, entdeckt wurden, dachten die Wissenschaftler, alles komplexere und mehrzellige Leben wäre auf rätselhafte Weise schlagartig im Erdzeitalter Kambrium, vor ungefähr 540 Millionen Jahren aufgetaucht. Aber längst haben Fossilienfunde diese Urknall-Theorie des Lebens widerlegt. Allerdings streiten die Experten darüber, was genau diese uralten, primitiven Wesen darstellen und ob sie überhaupt irgendwie mit den späteren Tieren verwandt sind.

Im Wissenschaftsmagazin Science stellen Degan Shu von der chinesischen Northwest University in Xi’an und Kollegen auch aus Großbritannien und Japan ihre Entdeckung eines Vendobionten aus dem Kambrium vor (Lower Cambrian Vendobionts from China and Early Diploblast Evolution).

Zusammengesetztes Foto, das sowohl die Ober- (links) als auch die Unterseite (rechts) des neu gefundenen Stromatoveris psygmoglena zeigt (Bild: Science/Shu)

Die ersten Hinweise gab es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, aber erst die Funde des Geologen Reginald C. Sprigg 1946 in den Ediacara Hills, nördlich der australischen Stadt Adelaide, brachten den Durchbruch. Reginald Sprigg entdeckte seltsame Fossilien, Abdrücke von Weichkörperorganismen, die sich als urzeitliche Wesen erwiesen.

Die fremdartigen Meeresbewohner lebten vor ungefähr 570 bis 544 Millionen Jahren, der Zeit vor Beginn des Kambriums. Ihren Namen Vendobionten verdanken sie der überholten Bezeichnung Vendium für das entsprechende Erdzeitalter. Ihre Epoche wird inzwischen nach ihnen benannt, der Name Ediacarium geht auf die australische Fundstätte zurück – und die Vendobionten werden heute auch als Ediacara-Fauna bezeichnet (The Ediacaran Assemblage).

Ihre Einordnung wird von den Paläontologen heiß diskutiert. Es handelt sich um komplexe gebaute Weichtiere ohne Hartteile wie Skelette oder Panzer. Von ihrer Form her erinnern sie an Wedel oder Farne, Quallen, Korallen (Seefedern) oder Würmer.

Nach Fossilien erstellte Illustration, wie die Ediacara-Fauna ausgesehen haben könnte. (Bild: University of Georgia)

Fossilien von Vendobionten wurden nicht nur in Australien, sondern auch an mehr als dreißig anderen Fundstätten auf allen anderen Kontinenten (außer der Antarktis) entdeckt. Wichtige Fundorte liegen in Namibia, Mexiko, England, Skandinavien, Kanada und Sibirien.

Heute sind mehr als hundert Arten der Ediacara-Fauna beschrieben. Unter den Experten ist umstritten, ob diese bizarren frühen Erdbewohner in irgendeiner Form mit heutigen Lebewesen verwandt sind. Einige halten sie für Vorfahren von Hohltieren wie z.B. Quallen, bzw. von Gliedertieren wie Spinnen oder anderer Insekten und Würmer. Andere sehen in ihnen urtümliche Schwämme oder Muscheln. Eine Theorie bezeichnet sie als Verwandte der Korallen.

Furore machte in den 80er Jahren der Tübinger Geologe Adolf Seilacher (Wanderausstellung "Fossile Kunst"), der öffentlich bezweifelte, dass es sich bei den Vendobionten überhaupt um Tiere, geschweige denn Verwandte späterer Wirbeltiere handelt. Er bezeichnete sie als komplett ausgestorbene Sonderentwicklung der Evolution, eine Art "einzellige Dinosaurier", die aus gekammerten Hohlräumen bestanden – wörtlich verglich er sie mit "wassergefüllten, abgesteppten Luftmatratzen".

Einordnung des Vendobionten aus dem Kambrium (Bild: Science)

Degan Shu und Kollegen legen jetzt in Science neue Belege dafür vor, dass die kambrische Explosion (Phänomene und Ursachen der Kambrischen Explosion), das scheinbar plötzliche Auftauchen einer Vielzahl komplex gebauter und mit Hartteilen versehene Tiere, weiter relativiert werden muss. Ein weiterer Beweis, dass die Weichtiere der Ediacara-Fauna zumindest noch parallel zur kambrischen Lebenswelt existiert haben.

Die Forscher beschreiben in ihrem Artikel neue Funde aus der Chengjiang-Lagerstätte nahe der Stadt Kunming in der chinesischen Provinz Yunnan. Es handelt sich um eine Fundstelle von Fossilien aus dem Kambrium, mit einem Alter von ungefähr 515 bis 520 Millionen Jahren. Acht verschiedene Fundstücke wurden analysiert und am Ende aufgrund ihrer verblüffenden Ähnlichkeit mit anderen Ediacara-Fossilien zu einer neuen Art Vendobiont namens Stromatoveris psygmolena erklärt. Ihre Form ist blattartig, die Länge des Körpers beträgt zwischen 2,5 und 7,5 cm. In der Mitte verläuft ein Stiel, der in einem Fuß endet, mit dem sich Stromatoveris wahrscheinlich im Meeresboden verankerte. Feine Äste gehen von ihm ab. Einige der Zweige waren mit Sedimenten gefüllt, was dafür spricht, dass sie zu Lebzeiten des Tieres schlauchartige Hohlräume darstellten, die möglicherweise mit gallertartigem Gewebe gefüllt waren.

Es spricht vieles dafür, dass Stromatoveris psygmolena ein Überlebender aus dem Ediacara-Garten ist, der als Meereslebewesen während des Kambriums weiter existierte. Und sich weiterentwickelte – also nicht in einer Sackgasse der Evolution verendete. Das Wissenschaftlerteam vermutet, dass die Vendobionten dieser Art die Vorfahren der rätselhaften Rippenquallen sein könnten. Der Bauplan ihrer Rippen zeigt verblüffende Entsprechungen zu den Zweigen von Stromatoveris.