Usbekistan ist ein gehorsames Kind des Kreml geblieben

Pulatow, der Vorsitzende der usbekischen Oppositionsbewegung Birlik, über das repressive Regime, und die Situation der Opposition

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Dr. Abdurachim Pulatov, geboren 1945, von Beruf Kybernetiker, ist Mitbegründer und Vorsitzende der 1988 gegründeten demokratischen Volksbewegung Birlik ("Einheit"), der größten oppositionellen Kraft in Usbekistan. Er lebt derzeit im Exil in den USA.

Herr Dr. Pulatov, der frühere Außenkommissar der Europäischen Union, Chris Patten, hat kürzlich in einem Artikel in der International Herald Tribune die usbekische Regierung "eines der repressivsten Regimes der Welt" genannt. Teilen Sie diese Ansicht?

Abdurachim Pulatov: Die Regierung von Präsident Islam Karimov missachtet die Menschenrechte, unterdrückt die Opposition im Lande und schreckt sogar nicht davor zurück, Hunderte von Demonstranten zusammenschießen zu lassen. Deshalb kann ich Chris Patten nur zustimmen.

In welcher Lage befindet sich derzeit die usbekische Opposition? Ist eine politische Arbeit im Lande selbst überhaupt möglich?

Abdurachim Pulatov: So seltsam das klingt: Einerseits haben wir es mit einem repressivem Regime zu tun, andererseits können wir als Opposition durchaus tätig sein. Denn Usbekistan ist nicht die Sowjetunion unter Iosef Stalin oder Nord-Korea. Wir haben durchlässige Grenzen, unsere Menschen können reisen und mit dem Ausland kommunizieren. Außerdem ist es für Karimov und seine Umgebung wegen der Bedeutung der internationalen Beziehungen wichtig, was das Ausland sagt - auch wenn er den Eindruck erwecken will, dass er in dieser Frage auf niemanden hört.

Inwieweit haben die Ereignisse vom 11. September 2001 die Entwicklung beeinflusst?

Abdurachim Pulatov: In der Tat haben die terroristischen Anschläge die Situation verändert. Usbekistan wurde damals zu einem Alliierten der USA. Dies hat Birlik erlaubt, unsere politischen Strukturen in gewissem Maße wieder neu aufzubauen, die seit 1993 zerschlagen worden waren. Im Mai 2003 konnten wir sogar erstmals einen Kongress unserer Organisation durchführen. Gleichzeitig haben wir versucht, beim Justizministerium unsere Registrierung als politische Bewegung zu erreichen. So haben wir in den vergangenen zwei Jahren sechs Mal die entsprechenden Unterlagen vorgelegt. Sie wurden jedes Mal mit fadenscheinig-lächerlichen Gründen zurückgewiesen.

Zum Beispiel?

Abdurachim Pulatov: Die Behörden verlangten beispielsweise, dass wir für unser Parteistatut den russischen Ausdruck "ustav" anstelle des usbekischen Wortes benutzten. Oder: Um eine Partei zu registrieren, benötigt man in Usbekistan 5.000 Mitglieder. Wir haben die Unterschriften von fünfeinhalbtausend Mitgliedern vorgelegt. Daraufhin wurde innerhalb von drei Tagen die Anzahl der erforderlichen Unterschriften auf.20 000 erhöht. Wir sammelten dann in einem Vierteljahr 21.000 Unterschriften. Dies bedeutet, dass politische Arbeit in Usbekistan heute trotz aller Widrigkeiten möglich ist. Das zeigt auch das Beispiel der Parlamentswahlen im Jahr 2004. Es ist uns gelungen, in zehn Wahlbezirken unsere Kandidaten durchzusetzen. Offiziell gelten sie als unabhängig, tatsächlich gehören sie zu Birlik.

Die vorübergehende Kooperation zwischen Taschkent und Washington hat uns geholfen

Freiheit der Presse ist in Ihrem Land kein Bestandteil des politischen Lebens. Wie erreichen Sie als Oppositionsbewegung die Menschen in Usbekistan?

Abdurachim Pulatov: Wir geben schon seit mehr als zehn Jahren unsere Zeitschrift Harakat heraus. Sie wird in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gedruckt und erreicht über "nicht-offizielle Wege", das heißt durch die Birlik-Strukturen, die usbekischen Leser. Allerdings ist es nicht ganz ungefährlich, sie zu verteilen.

Wie sehen Sie die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Taschkent und Moskau? Ist es zu einem neuen Honeymoon zwischen der usbekischen Regierung und dem Kreml gekommen?

Abdurachim Pulatov: Nach meiner festen Überzeugung hat es niemals jene gespannten Beziehungen zwischen Taschkent und Moskau gegeben, von denen gelegentlich die Rede ist. Man darf nicht vergessen, dass Präsident Karimov bereits zu sowjetischen Zeiten der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Usbekistans, also erster Mann in der Republik war. Auch nach der Unabhängigkeit unseres Landes ist er im Fahrwasser Moskaus geschwommen. Usbekistan blieb sozusagen ein gehorsames Kind des Kreml. Dies hat auch mit den engen wirtschaftlichen Beziehungen unserer beiden Staaten zu tun. So geht ein Großteil unserer Baumwolle an die Betriebe der russischen Textilindustrie, die sie verarbeiten. Es gibt in dieser Hinsicht keine Probleme.

Einige Medien sprechen davon, dass sich Karimov nach den Terroranschlägen vom September 2001 den USA zugewandt habe. Teilen Sie diese Ansicht?

Abdurachim Pulatov: Diese Meinungen treffen nicht den Kern der Sache. Denn es war der russische Staatschef Vladimir Putin, der Präsident George Bush damals sofort seine Solidarität und Unterstützung zugesagt hat. Karimov ist seinem russischen Amtskollegen dabei nur gefolgt. Es würde mich nicht wundern, wenn irgendwann Dokumente veröffentlicht würden, die zeigen, dass Putin damals Karimov aufgefordert hat, den Amerikanern die Militärbasis Karschi-Chanabad für ihre Einsätze gegen die Taliban zur Verfügung zu stellen. Allerdings möchte ich noch einmal betonen, dass diese vorübergehende Kooperation zwischen Taschkent und Washington uns als politischer Opposition sehr geholfen hat.

Islamisten werden in Usbekistan keine Rolle spielen

Wie sehen Sie, wie sieht Ihre Bewegung die islamistische Bedrohung in Usbekistan?

Abdurachim Pulatov: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass der Islam in unserem Land, in dem 90 Prozent der Menschen Muslime sind, natürlich eine große Rolle spielt. Deshalb ist auch für uns das Konzept eines atheistischen Staates nicht vorstellbar. Die Volksbewegung Birlik strebt - durchaus nach dem Vorbild der Türkei - eine säkulare Gesellschaft mit klarer Trennung zwischen Staat und Religion an, aber keine atheistische Gesellschaft. Karimov hingegen betreibt faktisch eine atheistische Politik, was auf den Widerstand großer Teile der Bevölkerung stößt. Aber die Vorstellung, dass eine islamistische Bewegung in Usbekistan die Macht übernehmen könnte nach dem Beispiel der Taliban in Afghanistan, ist lächerlich.

Wo liegen die Unterschiede?

Abdurachim Pulatov: Zum einen ist Usbekistan während der sowjetischen Ära siebzig Jahre lang durch eine Phase aggressiven Atheismus gegangen. Das hat die Strukturen unserer Gesellschaft so verändert, dass eine islamistische Massenbewegung nicht möglich ist. Zum anderen ist das Bildungsniveau unserer Menschen höher als in anderen Staaten der Region. Dies verhindert, dass die Usbeken in ihrer großen Mehrheit einen Staat akzeptieren, der sich an der Scharia orientiert.

Aber es gibt auch in Usbekistan radikale Islamisten...

Abdurachim Pulatov: Das ist richtig. Aber ich bezweifele, dass sie in unserem Land heute oder in Zukunft eine Rolle spielen werden. Allerdings brauchen wir dazu eine Regierung, deren Wirtschafts- und Sozialpolitik die Bevölkerung nicht in die Arme der Radikalen treibt. Religiöser Extremismus hat bei uns seine Wurzeln auch in der Verarmung der Menschen.

Gibt es einen chinesischen Faktor in der Politik Karimovs?

Abdurachim Pulatov: Diese Spekulationen gibt es, aber ich halte sie zum jetzigen Zeitpunkt für übertrieben. Ich glaube nicht, dass Peking derzeit eine besondere Rolle in unserer Politik spielt, auch wenn einige chinesische Politiker dies vielleicht wünschen. Unsere Länder grenzen zwar aneinander. Aber in den grenznahen chinesischen Gebieten, in Ost-Turkestan, existieren separatistische Bewegungen, die Unabhängigkeit oder Autonomie fordern. Dies macht einen starken chinesischen Einfluss auf Usbekistan gegenwärtig unwahrscheinlich. Hinzu kommen die Rivalitäten zwischen Moskau und Peking in dieser Region.

Eine Union der zentralasiatischen Staaten ist zwingend

Im März 2006 hat der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajev Ihr Land offiziell besucht. Sehen Sie eine Art Konkurrenz zwischen den beiden großen Mächten der Region Zentralasien und ihren Staatschefs?

Abdurachim Pulatov: Wenn man Größe, Bevölkerungszahl und Wirtschaftsmacht von Usbekistan und Kasachstan vergleicht, dann könnte sich in der Tat ein Wettbewerb um die Rolle als regionale Führungsmacht entwickeln. Auch die Persönlichkeiten der Präsidenten tragen möglicherweise dazu bei. Eine besondere Freundschaft der beiden ist derzeit nicht erkennbar. Dies muss künftig aber nicht so sein. Denn wenn demokratisch und pragmatisch orientierte Menschen die Regierung übernehmen, wird es eher zu einer engen Zusammenarbeit dieser beiden Länder und aller Staaten der Region kommen.

Sehen Sie die Möglichkeit der Bildung einer zentralasiatischen Union nach dem Beispiel der Europäischen Union?

Abdurachim Pulatov: Ich sehe nicht nur die Möglichkeit, sondern denke, dass wir dazu überhaupt keine Alternative haben. Denn sehen Sie: Die Grenzen zwischen unseren Republiken wurden künstlich gezogen, von Stalin. Wenn sich einerseits Länder wie Kasachstan oder Turkmenistan mit ihren riesigen Vorräten an Energieträgern in Zukunft wirtschaftlich entwickeln, während die anderen Staaten keinen Zugang zu diesen Ressourcen haben, wird das zu einer Instabilität führen, die letztendlich jedem schadet. Hinzu kommt, dass wir mit Russland, China und dem Iran doch recht ambitionierte Anrainer haben. Dies macht einen Zusammenschluss der kleineren Länder zwingend. Eine andere Frage ist, ob die derzeitigen politischen Führer der Republiken dies begreifen. Wenn dort allerdings eine neue Generation die Zügel in die Hand nimmt, die den Wert einer demokratischen Entwicklung versteht, wird es zu einer Art von Union kommen. Das europäische Vorbild wird dabei sicher eine große Rolle spielen.

In den vergangenen anderthalb Jahren ist es in Georgien, in der Ukraine und in Kirgistan zu einem Machtwechsel gekommen. Einer der Gründe dafür war das Engagement der Bevölkerung. Was bedeutet dies für Karimov und sein Regime?

Abdurachim Pulatov: Diese Ereignisse haben einen kolossalen Einfluss auf das Denken und die Politik Karimovs. Er und seine Umgebung sind davon ausgegangen, dass so etwas nicht möglich ist und wurden deshalb von den Ereignissen überrascht. Deshalb haben sie ihren politischen Kurs gegenüber der heimischen Opposition verschärft. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass auch die jetzige usbekische Führung mit einer ähnlichen Revolution konfrontiert werden kann.

Vor einem Jahr, im Mai 2005, haben usbekische Sicherheitskräfte in der Stadt Andischan Hunderte von friedlichen Demonstranten zusammengeschossen - ein Massaker ohnegleichen in der neueren Geschichte Ihres Landes (Die üblichen Verdächtigen). War das eine Überreaktion nervöser Militärs, die mit der Lage nicht fertig wurden, oder ein im Umfeld Karimovs geplanter Akt der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung?

Abdurachim Pulatov: Zunächst einmal sollten wir berücksichtigen, wie das Ganze anfing. Die Menschen in Andischan haben sich versammelt, um die Freilassung ihrer Verwandten, Freunde und Kollegen zu fordern, gegen die unter dubiosen Umständen ein Prozess angestrengt worden war. Einige radikalere Elemente haben dann öffentliche Gebäude besetzt, ohne aber die Stimmung anzuheizen. Sie wollten keineswegs die Macht in der Stadt übernehmen, was zunächst durchaus möglich gewesen wäre. Sie warteten darauf, mit Vertretern der Regierung sprechen zu können. Dann ist Präsident Karimov höchstpersönlich gekommen und hat sich gewissermaßen an die Spitze der Sicherheitskräfte gestellt. Damit wollte er demonstrieren, dass er keine Angst vor der Situation hat und dass er bereit ist, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anzuwenden.

Die westlichen Regierungen sollten die demokratische Opposition stärker unterstützen

Karimov ist mit 68 Jahren kein junger Mann mehr, dem Vernehmen nach ist er nicht gesund. Was oder wer kommt nach seinem möglichen Abschied von der Macht? Muss man mit einem Krieg der Clans rechnen?

Abdurachim Pulatov: Im Gegensatz zu anderen Beobachtern halte ich den Begriff Clan für unangebracht, wenn es um Usbekistan geht. Es gibt Interessengruppen, aber keine durchorganisierten Strukturen vom Typ Clan. Deshalb glaube ich auch nicht an einen Krieg der Clans nach dem Ende der Ära Karimov. Natürlich werden sich regionale und andere Lobbies zu Wort melden. Aber ich bin davon überzeugt, dass unser Land das Erbe Karimovs relativ schnell abschütteln wird. Die ihm nachfolgenden Politiker werden sich stärker an demokratischen Werten orientieren.

Gegenwärtig lebt die Mehrzahl der Usbeken in Armut. Was tun?

Abdurachim Pulatov: Diese Frage hängt mit der oben angesprochenen zentralasiatischen Union zusammen. Wir sind mit 26 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land der Region, verfügen aber über relativ wenige Bodenschätze. Da bietet sich ein Zusammengehen mit den Nachbarstaaten an. Aber sinnvoll ist auch eine Erschließung der zu Russland gehörenden Gebiete Sibiriens, die an Zentralasien grenzen - dies selbstverständlich in enger Kooperation mit Moskau. Der Kreml sollte verstehen, dass er mit einem demokratischen Zentralasien besser zusammenarbeiten kann als mit den gegenwärtigen Diktatoren.

Wie kann der Westen die Menschenrechte und die Demokratie in Ihrem Land fördern?

Abdurachim Pulatov: Zunächst: Die westlichen Regierungen könnten mehr tun, als sie gegenwärtig tun, auch wenn ich ihnen für ihre Bemühungen meine Anerkennung aussprechen möchte. Vor allem könnten sie ihre Sanktionen verschärfen. Sie sprechen zwar von einem Waffenembargo gegen Usbekistan. Diese Aussage ist aber nicht seriös, denn Taschkent kauft praktisch keine Waffen vom Westen. Wir würden uns von den USA und von Westeuropa wünschen, dass sie die Menschenrechtsbewegung und die demokratische Opposition in Usbekistan zielgerichteter unterstützt. Das gilt auch für Deutschland. Ihre Regierung meint, sich zurückhalten zu müssen, um nicht die Benutzung des usbekischen Flughafens Termes zu riskieren, über den die Versorgung der deutschen Truppen in Afghanistan läuft. Ich persönlich halte das für ein etwas schwaches Argument angesichts dessen, was in Usbekistan unter dem Regime Karimov geschieht. Denn der Standpunkt Deutschlands wird in unserem Land sehr aufmerksam verfolgt.

Wie beurteilen Sie die politischen Chancen und Möglichkeiten Ihrer Bewegung Birlik in Usbekistan?

Abdurachim Pulatov: Im kommenden Jahr finden bei uns laut Wahlgesetz reguläre Präsidentschaftswahlen statt. Wir werden alles daran setzen, daran teilnehmen zu können, so wie wir bereits bei den Parlamentswahlen 2004 aktiv geworden sind. Damals konnten wir die Vertreter unserer Bewegung nicht offiziell registrieren lassen. Aus diesem Grunde haben wir sie als unabhängige Repräsentanten präsentiert. Auch dieses Mal rechnen wir nicht damit, dass wir Birlik und seinen Kandidaten offiziell eintragen lassen können. Deshalb führen wir derzeit Gespräche mit allen oppositionellen Parteien, um einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Präsidenten zu aufzustellen. Dies sollte der Vorsitzende der stärksten Oppositionsbewegung Birlik sein. Ich schließe für mich diese Möglichkeit einer Kandidatur nicht aus und bin bereit, dafür zu kämpfen. Bei normalen und freien Wahlen würde das derzeit den Sieg der Opposition bedeuten. Aber selbst angesichts der heutigen repressiven Situation wäre eine Teilnahme an den Wahlen eine hervorragende Möglichkeit, die demokratischen Kräfte in unserer Gesellschaft und die Rolle der Opposition in unserem Land zu stärken.