Vater Staat und Corona
Woran man sich erinnern sollte - Teil 3
1.
Dem alten Marx wollte und will kaum jemand ernsthaft die These abnehmen, dass im Kapitalismus "das Geld das wahre Gemeinwesen" ist - wo doch "der Mensch im Mittelpunkt steht". Der gesamte gesellschaftliche Austausch, so die Begründung der These, ergibt und vermittelt sich im Grunde darüber, dass die verschiedenen privaten Eigentümer ihre jeweilige Erwerbsquelle in Abhängigkeit voneinander zum Sprudeln bringen wollen bzw. müssen.
Für den unselbstständig Beschäftigten und Eigner seines Arbeitsvermögen ist das der Lohn oder das Gehalt, für den Unternehmer der Gewinn aus dem Besitz von produktivem Kapital, über das er exklusiv verfügt. Die Land- und Immobilienbesitzer profitieren von Pacht und Miete. (Die Bauern leben eher schlecht als recht von ihrer Zwischenstellung zu den genannten Einkommensklassen.) Die Transport- und Handelsunternehmen beanspruchen von diesen Entgelten ihren Anteil. Die Banken schließlich verlangen für ihre Dienste am Erfolg der disparaten "Revenuequellen" (Marx) einen eigenen Zins.
Teil 1: Journalismus und Corona
Teil 2: Marktwirtschaft und Corona
Was oberflächlich betrachtet als eine Art Symbiose daherkommt, jedenfalls vom ökonomischen Sachverstand so gesehen wird, enthält bereits zu Zeiten des volkswirtschaftlichen Normalbetriebs handfeste Gegensätze: Arbeitnehmern entgeht oder vermindert sich der Lohn, wenn Arbeitgeber in deren Beschäftigung keine Aussicht auf Gewinn erblicken bzw. die Gelegenheit ergreifen, denselben durch Einsatz von in- und auswärtigen Billiglöhnern zu steigern. Mieter gehen ihrer bisherigen Wohnung verlustig - umso mehr, je weniger die Hauseigentümer wegen der großen Nachfrage Leerstände befürchten müssen -, wenn sie z.B. als Entlassene oder sonst wie Einkommensgeschwächte ihre Miete nicht mehr zahlen können. Dann verlieren sie auch ihren "Dispokredit" - gegebenenfalls genauso wie die Vermieter, die mangels Einnahmen z.B. wegen hoher Arbeitslosenzahlen Zins und Tilgung für ihr "Betongold" nicht mehr bedienen können. Auch Häuslebauer können sich in dieser Hinsicht verheben.
Sogar gestandenen Unternehmern kann das blühen, wenn ihnen die in- und ausländische Konkurrenz den Absatzmarkt bestreitet oder sie beim Wettrennen um Hightech-Produktion ins Hintertreffen bringt. Auch im Lebensmittel-Handel haben die sog. "fünf Namen" zahlreiche Mitbewerber weit hinter sich gelassen und etliche davon in die Reihen der Arbeitnehmer verdrängt. Unterhalb dieser Klasse hat sich neben den Ich-AGs und Minijobbern, den Aufstockern und den Hartzern, bei denen nichts mehr aufzustocken geht, der Erwerbsstand der Flaschensammler herausgebildet.
Wenn solche Prozesse langsam verlaufen, heißen sie VWL-gemäß "Innovation", wenn sie plötzlich auftreten (nach Schumpeter) "Disruption". In der Entwicklung und Erneuerung der "Wertschöpfungsketten" steckt also immer ein Maß an Zerstörung: von Arbeitsplätzen, Waren und Maschinerie; durch stockende, prekäre oder fallierende Einnahmen, Einkünfte oder Schuldendienste usw.
2.
Die derzeitige Krise soll ein Virus losgetreten haben, obwohl nach Auskunft der Volkswirtschaftler auch ein anderer "schwarzer Schwan" dafür gut sein könnte, den sie als "die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse" definieren. (Dass eine Pandemie über ein nur wenig vorbereitetes Gesundheitswesen hereinbricht, dessen Virologen immer schon davor gewarnt haben, ist dieser Theorie zufolge ebenso "unwahrscheinlich" wie die Tatsache, dass amerikanische Hauskäufer ihre Subprime-Hypotheken nicht mehr bedienen können.)
Dieses Virus unterbricht nun auf einen Schlag einige und in der Folge, die "Abwärtsspirale" heißt, sehr viele "Wertschöpfungsketten". Deren Zusammenhang existiert wie gesagt nur über das Geld, das darüber verdient und vor allem vermehrt wird. Jeder Wirtschaftsbürger muss nun sehen, wo er mit seiner Erwerbsquelle bleibt: Unternehmer retten sie per Entlassung und Kurzarbeit, wo möglich mit Kostendruck auf den Zulieferer bzw. Preisdruck auf den Abnehmer. Adidas & Co, die ihre Ladenmieten aussetzen, verfolgen im Prinzip das gleiche Prinzip wie die Mieterstreikenden in Spanien: Quienes no cobramos, no pagamos, was wir nicht verdienen, zahlen wir nicht. Worauf die Immobilienbesitzer antworten, dass sie auf Dauer nur Wohnungen vermieten können, an denen sie ihrerseits verdienen.
Auch die Banken achten verstärkt darauf, nur das zu kreditieren, was solide Zinsen abwirft usw. Unnötig, auf die soziale Differenz zwischen Normal- und Besitzbürgern in dieser "Prinzipiengleichheit" hinzuweisen. Deshalb gehen in Süditalien Rentner zu Lidl, um sich Nudeln, Tomatensoße und Öl zu "holen", wozu ihnen schon nicht mehr das Geld, sondern der Hunger das Recht verleiht. Und in den leeren Innenstädten ist auch den Flaschensammlern das Gewerbe weggebrochen.
Zu erwähnen wäre außerdem, dass mit wegbrechenden Löhnen tendenziell auch die Renten und Krankengelder gefährdet sind, die sich per Umlage aus der gesellschaftlichen Lohnsumme finanzieren.
3.
Angesichts dieser Krisenlage kommt nun endlich Vater Staat in einer Weise ins Spiel, die bei einem Bürger der ehemaligen DDR Erinnerungen wachrufen dürfte, von denen der Wessi unter Anleitung seiner freien Presse schon immer wusste, dass sie einer ineffektiven sozialistischen Kommandowirtschaft zugehörig sind. Aus dem "ideellen" (Engels) wird ein rudimentärer "Gesamtkapitalist": Staatsschulden ohne Rücksicht auf irgendeine "Deckung" werden mobilisiert, um die Wirtschaft, so gut es geht, am Laufen zu halten.
Staatliche Geldzuteilung steuert Herstellungsaufträge für medizinisches Gerät durch bisher privatwirtschaftende Firmen. Erwogen wird deren mögliche Verstaatlichung im Fall von gefährdeter Systemrelevanz, also z.B. bei der Lufthansa, wenn sie sonst Konkurs anmelden müsste. Für Bankhäuser gilt das sowieso.
Preisvorschriften ergehen, um die Ausnutzung von Angebotsknappheit z.B. durch Wucherpreise für Atemschutzmasken abzuwehren. Wie früher beim DDR-sozialistischen Ernteeinsatz werden gezielt und zentral 40.000 Spargelstecher rekrutiert und sogar eingeflogen. Der Staat macht zwar keine Arbeitsplatzgarantie, will aber doch so eine Art Basiseinkommen gewährleisten. Er gelobt sogar, privatisierte Bereiche im Gesundheitswesen und bei der Infrastruktur eventuell wieder zu vergesellschaften.
In jedem Fall kündigt er selbstkritisch an, die schlecht bezahlten, aber unverzichtbaren Werktätigen an der Supermarktkasse und am Krankenbett einschließlich der Bauern künftig besserzustellen, Zu all diesen Zwecken formieren sich die divergierenden Parteien und Massenorganisationen, als Beispiel die Gewerkschaften, in einer Richtung, die in der DDR "Nationale Front" genannt wurde usw.
Damit kommt der zeitbedingte "Systemvergleich" aber auch schon an sein Ende. Man darf nämlich nicht übersehen, dass diese im Staatssozialismus als Indizien und Erfordernisse eines unaufhaltsamen Fortschritts gefeierten Maßnahmen im wiedervereinigten Deutschland nur unfreiwillig, notgedrungen und in vorübergehender Absicht ergriffen werden. Die Gewerkschaften z.B. sprechen von einem "Burgfrieden", der aufgekündigt werde, wenn die Virus-Gefahr ende.
Auch die demokratischen Entscheidungsträger diskutieren mit den Virologen und den Interessensverbänden hin und her, wann der Zeitpunkt für die drängende marktwirtschaftliche Wiedereröffnung geboten bzw. möglich sei. Manche fordern sogar, es dürften nicht 90 Prozent der Bevölkerung leiden, bloß damit den restlichen zehn Prozent zum Überleben verholfen werde. (Eine Patientenverfügung zum Verzicht auf Beatmung für den Fall, dass sie zu dieser Restgruppe gehören sollten, füllen sie mal lieber nicht aus.)
Der "Systemvergleich" hinkt auch noch in einer anderen Hinsicht. Die Staatssozialisten verschafften sich in Form von Fünf-Jahres-Plänen zur Produktionslenkung, durch LPGs, PGHs, HO-Läden und via Polykliniken, Einheitsschulen, Krippen etc. einen direkten Zugriff auf ihr Gesellschaftsleben und konnten dann im Krisenfall auch entsprechend handeln - Kuba und in vielen Bereichen auch China halten das immer noch so ähnlich. Die freiheitlichen Staatsmacher treffen neben dem Wirtschaftschaos auch auf Hindernisse, die aus der Privatisierung ehedem staatlicher Institutionen auf den Feldern Gesundheit, Verkehr oder Versorgung entstammen - und müssen ihnen zunächst als "Marktteilnehmer" gegenübertreten, also z.B. freigehaltene Intensivbetten bezahlen, oder Gesetze im Eilverfahren anpassen, um, Beispiel Transportwesen, die "Paywall" vor nötigen Dienstleistungen zu überwinden.
4.
Bis zum Ende des Shutdowns aber bekommt gewissermaßen das eine Evidenz, was gemeinhin nur als Schulbuchweisheit, schöner Schein oder idealistischer Wunsch existiert, dass nämlich "wir alle in einem Boot sitzen". Mindestens zum Zweck der flachen Infektionskurve müssen die Leute, die eine Zellstruktur teilen, welche das Virus ohne Ansehen von Person und Stand angreift, unten und oben und links und rechts einigermaßen zusammenhalten und kommen nicht umhin, den Maßgaben des staatlichen Steuermanns zu folgen. (Sie können dabei ein wenig auf dessen Zweckrationalität setzen, die ein Virus erzwingt, das sich von den Bolsanaros nicht einfach wegpusten lässt.)
Mindestens bis zum sicheren Abklingen der Pandemie tritt der Staat vielerorts vermehrt an die Stelle des Geldes und hält eine Gesellschaft zusammen, die sich nach Lage der Dinge durch die herkömmliche Weise des Gelderwerbs in Konkurrenz zueinander nur wechselseitig blockieren, paralysieren und bekriegen würde. Auch der Normalbetrieb des Kapitalismus funktioniert nur, wenn der bürgerliche Staat die Klassengegensätze sozial-, wirtschafts- und ordnungspolitisch auf "Toleranz" verpflichtet. Die Krise bestärkt aber den trügerischen Schein vom bellum omnium contra omnes, vom Krieg aller gegen alle, den nur der Staat zähmen und zivilisieren kann.
Darüber erleben die vielgescholtenen und oft belächelten Staatsmänner und -frauen samt ihren Parteien der Mitte eine Sternstunde. Ihre Umfragewerte schießen in die Höhe (was politologisch auch als rally round the flag effect bezeichnet wird), weil jedermann ganz praktisch von ihrem Krisenmanagement abhängig ist.
Dies wiederum veranlasst viele systemkritische Linke, die ansonsten den "Staat der Reichen" anklagen, ausnahmsweise einzuräumen, dass er diesmal tatsächlich und vorübergehend der "Allgemeinheit" dienen würde. (Einige verdächtigen ihn allerdings schon der Macht- und Biopolitik nach Foucault.)
In der Hauptsache aber gibt es ein mehr oder weniger irritiertes Volk, welches darauf angewiesen und es gewohnt ist, also darauf hofft, dass Vater Staat die Sache auch diesmal irgendwie richten wird. Die meisten verharren in diesem Opportunismus, schreiben sich vorbeugend resiliente Eigenschaften zu, weshalb sie die Atemschutzmasken, die nicht vorhanden sind, auch gar nicht bräuchten.
Andere Volksteile werden wegen der gegenwärtigen Einschränkungen und künftigen Perspektiven ungehalten und legen sich Theorien über ihr "gefühltes" Staatsversagen zurecht, ganz so, als wäre ein "guter" Staat über alle Virus-Gefahren erhaben. Manche der enttäuschten Staatsgläubigen meinen, die Pandemie käme dem "Merkel-System" oder dem "Neoliberalismus" gerade recht, um das Problem der Überalterung kostengünstig zu lösen oder das Bargeld abzuschaffen. Auch fragen sie sich, ob die Seuchenpolitik nicht der ideale Vorwand sei, um Bürgerrechte ab- und den Überwachungsstaat auszubauen. Ihrem ansonsten so geliebten Staatswesen scheinen sie angesichts von Corona einige Schandtaten zuzutrauen.
Die Populisten haben derzeit nicht viel zu melden. Sollte aber die in den Ruf nach guter Herrschaft übersetzte Beschädigung der Interessen anhalten oder zunehmen, könnte die Forderung erneut um sich greifen, dass Mutti Merkel wegmüsse, damit Vater Staat wieder walten könne.
5.
Dabei sollte man sich besser daran erinnern, dass der gesellschaftliche Lebensprozess unter dem Diktat der Konkurrenz ums Geld, der jetzt in die Krise gerät, nicht vom Himmel gefallen, sondern von genau von dem Typus staatlicher Hoheit (samt Vorgängern) eingerichtet und betreut wurde, die jetzt als Retter anrückt und gerufen wird, damit alles so bleibt oder wieder so wird, wie es war.
Denn schließlich lebt auch der bürgerliche Staat, der nun krisenspezifisch vom Bock zum Gärtner avanciert, via Steuern und Verschuldungsfähigkeit von der Maxime, die er seiner Gesellschaft verordnet und gemäß der er die unausbleiblichen Widrigkeiten betreut: dass nämlich die gegensätzlichen Geldinteressen seiner Wirtschaftsbürger irgendwie alle aufgehen, möglichst prosperieren und darüber ein kapitalistisches Gemeinwesen konstituieren sollen. Selbstverständlich ist in dieser Systemlogik "Wirtschaftswachstum first", also das Klasseninteresse derer, die dieses Wachstum betreiben, eingeschlossen. Eben das soll möglichst bald wieder freigesetzt werden.
P.S.
Die Macht zum Durchregieren, also die verkürzte Gesetzgebung, Sondervollmachten auf Zeit oder den Zugriff auf persönliche Daten, verschaffen sich Regierung und Opposition derzeit nicht wegen der Orwellschen Dystopie, sondern aus Gründen der Pandemiebekämpfung. Einmal in der demokratischen Welt, sind jedoch Zweitverwendungen solcher Neuerungen denkbar.