Venezuela hat die Revolution abgewählt - vorerst

Regierende Sozialisten verlieren die Mehrheit im Parlament. Opposition könnte Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen. Herausforderungen für beide Seiten

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Bei der Parlamentswahl in Venezuela am Sonntag haben die regierenden Sozialisten eine herbe Niederlage einstecken müssen. Nach bisherigen Angaben des Nationalen Wahlrates hat das Oppositionsbündnis MUD 110 der 167 Sitze der Nationalversammlung gewonnen, auf die regierende sozialistische Partei, PSUV, entfallen 55 Sitze. Damit stehen die Regierungsgegner kurz vor einer Zweidrittel-Mehrheit. 111 Sitze würden ihnen erlauben, in den kommenden vier Jahren wichtige staatliche Institutionen und die Verfassung zu verändern.

Dennoch ist das Regierungslager nicht geschlagen. Denn die Erdölindustrie und das Militär bleiben in der Hand der Chavisten. Ebenso die Mehrheit der Regional- und Lokalregierungen. Doch ohne Zweifel ist das Ergebnis der 20. Abstimmung seit dem ersten Wahlsieg des langjährigen Präsidenten Hugo Chávez (1999-2013) die bislang schwerste Niederlage für die Sozialisten. Geschuldet ist sie den wirtschaftlichen Problemen der Erdölnation, die vor allem die in den Armenvierteln angesiedelte chavistische Basis betroffen hat.

Präsident Nicolás Maduro spricht nach der Wahlniederlage von einer "neuen Etappe der bolivarischen Revolution. Bild: avn.info.ve

Nach den vorliegenden Resultaten - ein Endergebnis liegt noch nicht vor - lässt der Ausgang der Parlamentswahl in Venezuela zwei Schlüsse zu. Zum einen hat die Opposition erheblich mehr Wähler als in der Vergangenheit mobilisieren können. Zum anderen hat ein Teil der chavistischen Basis offenbar ein Protestvotum abgegeben, um die Regierung unter Präsident Nicolás Maduro abzustrafen.

Mit dem so erreichten Sieg muss die Opposition nun sorgsam umgehen. Schafft sie die umfassenden Sozialprogramme der Sozialisten zu schnell ab, würde sie die gut organisierte Basis in den Barrios, den ausgedehnten Armenvierteln, und auf dem Land gegen sich aufbringen. Die neue Macht im Parlament würde dann durch soziale Konflikte und Proteste auf der Straße eingeschränkt.

Wahrscheinlich ist daher, dass das Mitte-Rechts-Bündnis vom Parlament aus weitere staatliche Gewalten zu erobern versucht, um sich in eine günstigere Position zu bringen: Im Juni kommenden Jahres besteht die Möglichkeit, ein Abberufungsreferendum gegen Präsident Maduro zu organisieren. Bis dahin wird sich die MUD-Führung gegen ihren radikalen Flügel wehren müssen, der auf einen abrupten Wechsel drängt. Die Zeichen stehen auf Sturm in Venezuela.

Wahlsieger Henrique Capriles. Bild: twitter.com/unidadvenezuela

Mögliche Auswirkungen des Ergebnisses

In Venezuela ist am Tag nach den Wahlen in den Medien und auf der Straße eine Debatte um die Auswirkung des Ergebnisses entbrannt. Um die Tragweite zu verstehen, ist ein Blick auf die Funktionsweise des venezolanischen Parlaments nötig.

Mit einer einfachen Mehrheit von 84 Stimmen können alle Entscheidungen getroffen werden, sofern die Verfassung von 1999 nicht andere Mehrheiten festlegt. Die Möglichkeiten reichen von der Besetzung parlamentarischer Ämter bis hin zur Bestimmung des Haushaltes - wobei der Staatsetat für das kommende Jahr bereits beschlossen ist. Eine Dreifünftel-Mehrheit mit 100 Sitzen kann Minister abberufen. Das reicht von der Vertretung des Präsidenten über Minister.

Mit einer Zweidrittel-Mehrheit oder 111 Stimmen kann ein Lager Abgeordnete zeitweise suspendieren, Ausschüsse ein- oder absetzen und Verfassungsreformen ansetzen. Auch könnten die Regierungsgegner mit einer solchen Mehrheit eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen und Mitglieder des Obersten Gerichtshofes abberufen. Eine Neubesetzung der Leitung der autonomen Wahlbehörde benötigt vorab die Zustimmung des Obersten Gerichtshofes.

Mit Spannung werden Entscheidungen über internationale Abkommen erwartet. Das betrifft vor allem die Erdöllieferungen nach Kuba sowie die Entsendung kubanischer Ärzte und Sozialarbeiter nach Venezuela. Der Oppositionspolitiker Henrique Capriles kündigte bereits am Wahlabend ein "Ende der Geschenke an Kuba" an. In Frage stehen auch weitere multistaatliche Projekte wie der Nachrichtensender Telesur und das energiepolitische Bündnis Petrocaribe.