Veränderungen bei Menschen durch Technik

Seite 4: Symbiose

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Handeln, dieser Kosmos aus Utopie, Einsicht und subjektivem Willen (sofern einem die Eltern dazu verholfen haben, Wirklichkeit als gestaltbaren Raum zu betrachten) wird verflacht auf fremdgesteuertes Verhalten, wie man es aus der durchweg autoritären Arbeitswelt gelernt hat. Technik ist eine weitere Initialisierung dazu.

Wie symbiotisch sich das Lebewesen Mensch an die Technik anpassen lässt, zeigt sich in den U-Bahn- und S-Bahnzügen der Städte: Menschen starren auf ihre Smartphones, reagieren mit Wischbewegungen auf den Bildschirm, herausgehoben aus einer offenbar feindlichen Umwelt. Der private Rest des Individuums ist auf eine mehr oder weniger konditionierte Betätigung des Geräts reduziert.

Maschinelle Bewertungsassistenten

Schüler und Studenten werden während ihrer Ausbildung benotet. Diese Note bestimmt sich heute kaum noch aus mündlichen Prüfungen und schriftlichen Arbeiten, sondern wird im Wesentlichen durch Tests gewonnen. Multiple Choice-Tests, das heißt in einer Batterie von vielen Fragen, jeweils aus drei Möglichkeiten die richtige Antwort ankreuzen.

Diese Tests sind in erster Linie Assistenzsysteme für die Lehrenden und die Bildungsorganisation. Sie lassen sich einfach und maschinell auswerten, wobei das Ergebnis objektiv dokumentiert ist, falls es Beschwerden oder Klagen gibt. Relevanz oder praktische Anwendbarkeit von Wissen interessieren dabei weniger, auch dass es solche Multiple Choice-Aufgaben im späteren Erwerbsleben der Studierenden gar nicht gibt (außer sie werden selbst Lehrer) ist irrelevant.

Im Beruf müssen Berufstätige nämlich sprechen, also mündlich Sachverhalte erläutern oder schriftliche Stellungnahmen und Infos verfassen. Daran orientiert sich die Ausbildung nicht, denn sonst würden klassische Kolloquien und Hausarbeiten verschiedenster Aufgabenstellungen blühen. Mit solchen Test werden allerdings die Menschen ganz gut auf die Wahrnehmung und Akzeptanz von Reaktionsmustern zugerichtet - es heißt nur Ja oder Nein, da ist nichts Vermischtes oder eine ganz andere Alternative möglich, schon gar nicht Widerspruch.

Gewöhnung und Verlust

Mit immer mehr gewordenen Assistenzsystemen beim Auto oder App-Lösungen vertrauen Menschen - ob sie es nun wollen oder nicht, es geschieht einfach durch Gewöhnung, durch (passives) Lernen - der Technik mehr als anderen Menschen oder sich selbst. Der Vertrauensgrundsatz des zivilen Lebens ist abgelöst durch technische Systeme.

Aber Misstrauen lässt sich ebenfalls durch Systemausweitung und Gewöhnung abbauen. Waren in den 1970er Jahren die Leute der damals vergleichsweise geringen Werbung gegenüber skeptisch, so haben sie diese mittlerweile als notwendiges und manchmal sogar lustiges Übel akzeptieren gelernt. Auch an die Videoüberwachung auf Straßen, Plätzen und bei öffentlichen Verkehrsmitteln hat man sich angepasst. Und digitales Abhören, Stichwort: NSA, wird selbst von der deutschen Bundeskanzlerin mittlerweile achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Selbst stinknormale, selbstverständliche Fertigkeiten werden durch Gewöhnung an Hilfssysteme abgebaut, ohne dass es der Betroffene merkt. Ein alter Studienkollege von mir hatte sich über viele Jahre strebsam und mühsam in die Leitungsfunktion einer großen Organisation gearbeitet, wurde dann aber plötzlich zum politischen Bauernopfer des Regierungschefs. Ein paar Monate später begegneten wir uns zufällig. Das Gespräch war erhellend.

Auf meine Frage, wie es ihm jetzt gehe, meinte er nach den paar üblichen Floskeln: Weißt Du, was mir am schwersten gefallen ist, sagte er, - mich wieder auf die ganz normalen, auf die üblichen Dinge des Alltags einzustellen und mit ihnen umzugehen. Ich wusste nicht mehr, wie man ein Postpaket aufgibt, oder wie man zu Winterreifen für das Auto kommt, oder wie man zu einem Flug kommt.

Diese vielen Alltagskleinigkeiten haben über viele Jahre meine Assistentinnen oder der Chauffeur erledigt. Ich hatte vergessen, wie man sich in der Welt zurecht findet, ich bin mir da dann über viele Wochen wie ein kleines Kind vorgekommen, völlig hilflos, in eine fremde Welt hineingeraten.

In diesem Fall waren es Menschen, also gewissermaßen analoge Assistenzsysteme, über die "Mächtige" in ihrer Position nun einmal verfügen. Werden sie entmachtet, haben sie ein Problem, sich in der Wirklichkeit zurecht zu finden. Erfreulich war, es ist dem Studienkollegen seine Entfremdung aufgefallen.