Verantwortung wird nicht mitgeliefert

Seite 2: Internationale soziale Menschenrechte

Agenda 2030

Am 25. September 2015 verabschiedete die UN-Generalversammlung die "Sustainable Development Goals 2030 " (SDGs) als Resolution. Die Agenda 2030 ist zwar keine völkerrechtlich verbindliche Willenserklärung, kann aber als "Soft Law" die internationale Entwicklung prägen helfen. Unter den "17 Zielen für nachhaltige Entwicklung" findet sich als achtes Ziel die Forderung:

Nachhaltiges Wirtschaftswachstum und menschenwürdige Arbeit für alle - dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.

UN-Sozialpakt

Mit der "Agenda 2030" appellieren die Staaten an sich selbst, die SDGs zu erfüllen und das ihnen zugrundeliegende Völkerrecht einzuhalten. Das betrifft insbesondere den UN-Sozialpakt (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, IPWSKR), der "soziale Menschenrechte" völkerrechtlich verbindlich beschreibt, die ein menschenwürdiges Leben für alle absichern sollen. Der Vertrag von 1966 trat 1976 in Kraft, zeitgleich in der Bundesrepublik auch als formelles Bundesgesetz.

Laut Artikel 7 dieses IPWSKR gibt es ein "Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen". Das beinhaltet einen "angemessenen Lohn und gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit ohne Unterschied", "sichere und gesunde Arbeitsbedingungen" und "Arbeitspausen, Freizeit, eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, regelmäßigen bezahlten Urlaub".

Doch "trotz ihrer Rechtsverbindlichkeit werden die sozialen Menschenrechte in Deutschland wie in vielen anderen Ländern überwiegend als bloße politische Programmsätze entwertet."

UN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten

Schon 2011 definierte der UN-Menschenrechtsrat staatliche Schutzpflicht und unternehmerische Verantwortung, damit in globalen Lieferketten die Menschenrechte geachtet werden6:

Zur Wahrnehmung ihrer Schutzpflicht sollten Staaten:(a) Rechtsvorschriften durchsetzen, deren Ziel oder Wirkung darin besteht, von Wirtschaftsunternehmen die Achtung der Menschenrechte einzufordern".
"Die Staaten sollten ... Wirtschaftsunternehmen, ... die ... von ... öffentlichen Investitionsversicherungs­ oder Garantieagenturen erhebliche Unterstützung ... erhalten, ... gegebenenfalls die Wahrnehmung der Sorgfaltspflicht in Bezug auf die Menschenrechte zur Auflage machen.

Binding Treaty

Da die UN-Leitprinzipien eher Empfehlungen als rechtliche Verbindlichkeit ausdrücken, wurde 2014 im UN-Menschenrechtsrat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung Ecuadors eingesetzt mit dem Auftrag, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen über transnationale Unternehmen und Menschenrechte zu erstellen. Deutschland und andere EU- und Industriestaaten bremsen diesen Prozess und lehnen direkte Verpflichtungen für Unternehmen und Sanktionsmöglichkeiten entschieden ab.

Ein verbindliches Abkommen könnte die blumige Absicht der Agenda 2030 mit Ziel 8, "menschenwürdige Arbeit für alle zu fördern", konkret werden lassen.

Deutsches Lieferkettengesetz

Die Bundesregierung hat vor gut vier Jahren einen "Nationalen Aktionsplan" (NAP) verkündet, um die UN-Leitprinzipien umzusetzen. Für diese "Achtung von Menschenrechten entlang globaler Wertschöpfungsketten" beschreibt eine Studie von adelphi consult und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young die "Risiken und Chancen für Branchen der deutschen Wirtschaft."

Doch die mit dem NAP aufgelegte Latte, nach der mindestens 50 Prozent aller in Deutschland ansässigen Unternehmen mit über 500 Beschäftigten die Anforderungen an menschenrechtliche Sorgfalt in ihre Unternehmensprozesse umzusetzen sollten, wurde gerissen. Nur jedes siebte befragte Unternehmen antwortete überhaupt, und davon erfüllte nur knapp jedes fünfte Unternehmen die Anforderungen, jedes zehnte befand sich "auf gutem Weg".

Da Freiwilligkeit also scheiterte, haben die Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Gerd Müller, CSU) und für Arbeit und Soziales (Hubertus Heil, SPD) Vorschläge für ein "faires" Lieferkettengesetz erarbeitet. Das Gesetz soll:

  • definieren, welche Pflichten Unternehmen beim Schutz von Menschenrechten haben und wie Unternehmen diesen in ihren Lieferketten nachkommen können;
  • Unternehmen dazu verpflichten, über ihre Anstrengungen Bericht zu erstatten;
  • die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern vor Gericht stärken und [betroffenen ausländischen Arbeitskräften] einen Weg eröffnen, Schadensersatzansprüche in Deutschland geltend zu machen7 und
  • Kinderarbeit verbieten.8

Apropos Kinderarbeit: Ein Beispiele für humane Kinderarbeit sind Schuhputzerjungs in Mali in Westafrika, die zusammen mit der Nichtregierungsorganisation Enda ihre Rechte gegenüber der Polizei und eine geregelte Bezahlung erstritten haben – und abends zur Schule gehen können:

Das Wirtschaftsministerium (Peter Altmeier, CDU) und das Kanzleramt blockieren die deutsche Umsetzung des Lieferkettengesetzes. Strittig ist:

  • die Haftungstiefe: Wie weit in die Lieferkette hinein sollen Unternehmen haftbar sein?
  • Ab welcher Unternehmensgröße sollen die Sorgfaltspflichten gelten?

Die drei Fachminister konnten sich auch am 5. Februar dieses Jahres im Kanzleramt nicht einigen. Aber es geht voran: Altmaier und Wirtschaftsverbände sowie der Wirtschaftsrat der CDU haben durchgesetzt,

  • dass Unternehmer für Menschenrechtsverstöße in ihrer Zuliefererkette nicht zivilrechtlich haftbar zu machen sind. Stattdessen sollen Bußgelder und evtl. Ausschlüsse von öffentlichen Aufträgen möglich sein.
  • dass eine Verantwortung nur für das erste Glied der Lieferkette, also für direkte Zulieferer und Vertragspartner, bestehen sollen. So "müsste sich ein Konzerne wie Daimler oder VW nur mit den Zuständen im Zulieferer-Werk in Duisburg beschäftigen, nicht aber mit den katastrophalen Auswirkungen des Eisenerzabbaus in Brasilien".
  • dass ein Lieferkettengesetz in der Anfangsphase nur für größere Unternehmen ab 3.000 Mitarbeiter greifen und dann schrittweise ausgeweitet werden soll. Damit kämen weniger als 400 Großunternehmen ins Visier.

Das EU-Lieferkettengesetz

Einerseits betreiben Industriestaaten, sofern es ihnen nützt, einen Abbau von Handelshemmnissen. Die EU trägt mit ihrer Handelspolitik

zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zollschranken und anderer Schranken bei.

Vertrag von Lissabon, Artikel 206 Titel II Gemeinsame Handelspolitik

Andererseits soll sich nun das Europaparlament gegen unbegrenzte Freiheit einsetzen und im März 2021 die EU-Kommission auffordern, einen Gesetzesvorschlag für ein Lieferkettengesetz zu erarbeiten. Schon im April 2020 hatte EU-Justizkommissar Didier Reynders die Notwendigkeit gesetzlicher Auflagen betont:

Freiwillige Regelungen reichen nicht aus, um die Wahrung von Menschenrechten und Umweltstandards in internationalen Lieferketten sicherzustellen.

Reynders bezog sich auf das französische "Vigilance-Gesetz" von 2017, das weitreichendste Gesetz zur Unternehmensverantwortung innerhalb der EU. Es gilt zwar nur für Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern, sieht aber eine zivilrechtliche Haftung für Schäden vor, die durch eine Sorgfaltspflicht hätten verhindert werden können.

Am 27. Januar dieses Jahres beschloss nun der federführende Rechtsausschuss fast einstimmig mit 21 Stimmen bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung, dass Unternehmen künftig per Gesetz zu verpflichten sein sollen, die Menschenrechte, die Umwelt und eine gute Unternehmensführung in ihren Aktivitäten zu respektieren. Mit diesem "legislativen Initiativbericht" nimmt das Europaparlament seine (kaum bekannte) Möglichkeit wahr, von der EU-Kommission Gesetzesvorschläge einzufordern.

Im März soll dieser Vorstoß vom Plenum des Europaparlaments diskutiert und bestätigt werden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich verpflichtet, bei "legislativen Initiativberichten" stets zu liefern.

Damit ihre Verpflichtungen kontrolliert werden können, sollen Unternehmen ihre negativen Auswirkungen auf Menschenrechte und Umwelt bewerten und veröffentlichen müssen. Wo eine "Ausbeutung von Mensch oder Umwelt" festgestellt wird, müssen Unternehmen Maßnahmen ergreifen, diese zu unterbinden. Diese Regeln sollen für alle großen Unternehmen und alle börsennotierten oder risikoreichen kleinen und mittleren Unternehmen gelten.

Damit die neuen Regeln auch von allen Unternehmen korrekt umgesetzt werden, ist die zivilrechtliche Haftung ein wesentlicher Bestandteil der vorgeschlagenen Richtlinie. Der Rechtsausschuss verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Unternehmen haftbar gemacht werden können und Entschädigung für Schäden leisten müssen, die unter ihrer Kontrolle verursacht wurden. Wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkämen, würden ihnen Geldbußen oder der Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge drohen. Mit in der Pflicht seien auch Tochterunternehmen europäischer Konzernen, die ausschließlich in Drittstaaten tätig sind.

Das EU-Lieferkettengesetz könnte gegenüber den never ending stories eines deutschen Lieferkettengesetzes und eines "binding treaty" auf UN-Ebene zum Vorreiter werden.

Dagegen fordert Entwicklungshilfeminister Müller "deutschen Pragmatismus":

Deutschland sollte jetzt die Standards setzen mit diesem Gesetz, denn ansonsten bekommen wir eine europäische Vorlage, die viel viel weiter geht und sich nicht an pragmatischen Standards, wie wir das in Deutschland machen würden, orientiert.

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