"Verbiesterung der Gesellschaftskritik"
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Michael Hirsch über ein gelingendes Leben im falschen und seine politische Ethik
In seinem Buch Richtig falsch forscht der Philosoph Michael Hirsch über die Möglichkeiten von menschlicher Selbstbestimmung in einer zunehmend von ökonomischen Sachzwängen beherrschten Welt.
Herr Hirsch, Sie eröffnen Ihr Buch mit dem Satz "Es gibt ein richtiges Leben im falschen". Wie ist das gemeint?
Michael Hirsch: Ich möchte damit für eine andere Verwendung von Theodor W. Adornos Theorie plädieren - für einen anderen Gebrauch seiner gesellschaftskritischen Einsichten. Aus dem Buch Minima Moralia stammt ja Adornos vielleicht berühmtester, vielleicht aber auch am meisten missverstandener Satz: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen."
Dieser Satz war bei Adorno vor allem als Polemik gegen die in großen Teilen implizit konservative philosophische Ethik gemeint, die glaubt, die Frage nach dem guten Leben unabhängig von der Frage nach der richtigen Einrichtung der Gesellschaft beantworten zu können. Als ob man von den politischen Bedingungen der Existenz abstrahieren könnte, und wie die klassische Philosophie die Möglichkeit eines guten Lebens für alle einfach postulieren.
In der Rezeption dieses Gedankens von Adorno hat sich dann aber eine sehr problematische, leicht defätistische Lesart des Satzes durchgesetzt: als ob man unter den bestehenden Bedingungen gar keine Möglichkeit habe zu richtigem Handeln; als ob gleichsam alles immer schon falsch, unser Leben durch und durch beschädigt sei. Auf diese Beschädigung weist Adorno ja im Untertitel der Minima Moralia hin: Notizen aus dem beschädigten Leben.
Dabei ist Adorno selbst nicht ganz unschuldig an einer gewissen linken Adorno-Orthodoxie, wenn er zum Beispiel seine Vorlesung Probleme der Moralphilosophie von 1963 mit den Sätzen abschließt: "Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt - man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre."
Was aber, wenn nicht? Die Adorno-Orthodoxie hat eine Tendenz, überall nur das Falsche aufzuspüren, und verlor das Wahre oder Richtige aus den Augen. Ohne das Begehren nach dem guten Leben aber ist menschenwürdiges Leben unmöglich. Hier setzt mein Vorschlag einer heterodoxen Adorno-Lektüre an: Wir müssen, auch um einer möglichen richtigen Politik willen, so tun, als ob ein richtiges Leben möglich wäre, obwohl das eigentlich unmöglich ist, also: "Es gibt ein richtiges Leben im falschen".
"Modelle richtigen Handelns gemeinsam erproben"
Wie können also in einer Welt zunehmender ökonomischer Zwänge und Fremdbestimmung Räume für Selbstbestimmung gewonnen werden?
Michael Hirsch: Meine Hypothese ist, dass unsere Anstrengungen in der Zone des Übergangs zwischen der Politik (also der Frage der Herstellung günstiger äußerer Bedingungen für ein gutes Leben) und der Ethik (also der Frage nach einem möglichst gelingenden Leben unter den bestehenden Bedingungen) angesiedelt sind. Anders gesagt, wir bewohnen eigentlich zwei Welten oder zwei Zeitzonen: die bestehende Welt, das Bestehende, wie Adorno das nennt, und eine mögliche andere, zukünftige Welt.
Ich behaupte, dass der emanzipatorische Lebensentwurf genau zwischen diesen beiden Polen eingespannt ist, und dass es immer darum geht, Übergänge herzustellen, also Möglichkeiten des Handelns auch dort zu erschaffen, wo diese eigentlich objektiv nicht gegeben sind.
Das Begehren der Selbstbestimmung, hat nicht nur den Sinn der Ausnahme, des Sich-Ausnehmens von der vorherrschenden Norm und ihren Zwängen. Genau das hat Adorno ja mit seinem Satz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" ausdrücken wollen: dass dies unmöglich ist. Es hat vor allem den Sinn, Modelle richtigen Handelns zu behaupten und gemeinsam zu erproben.
Alle progressiven Bestrebungen zielen darauf ab, ganz gleich ob es um umweltbewusstes Verhalten geht, um feministische, geschlechtergerechte Lebens- und Verhaltensweisen, oder um alle möglichen anderen solidarischen Handlungsformen wie Kommunen, Vereine, Gewerkschaften, freie Zusammenschlüsse und Freundschaftsnetzwerke.
Es geht nicht darum zu behaupten, dass durch unsere Handlungen, durch unsere Versuche die Welt unmittelbar im kausalen, objektiven Sinne besser wird. Sondern wir versuchen uns an Handlungsmodellen für eine andere Welt in der bestehenden. Insofern ist es ein objektivistisches Missverständnis zu behaupten, es gäbe für die Einzelnen keine Räume für mehr Selbstbestimmung.
Richtig ist vielmehr die politische Hypothese, dass man kollektiv für mehr solche Räume kämpfen muss, und dass dies der wesentliche Inhalt der Arbeit aller Intellektuellen im weiteren Sinne ist, also aller Journalisten und Wissenschaftlerinnen, aller Politikerinnen und Gewerkschafter, aller Kulturschaffenden.
"Die Maßstäbe sind seit Jahrtausenden bekannt"
Wie lässt sich darin nach ethischen Maßstäben leben?
Michael Hirsch: Auch diese Frage ist je konkret zu beantworten: Überall wo wir tätig sind, in den Familien und Freundschaftsverbänden, unter geistig Zusammenarbeitenden, unter politischen Genossen und Genossinnen, unter Kollegen und Kolleginnen aller Art geht es darum, immer wieder neu zu versuchen, nach ethischen Maßstäben zu leben. Diese Maßstäbe sind seit Jahrtausenden bekannt, da gibt es nichts theoretisch Neues zu erforschen. Es geht immer nur um die praktischen Verwirklichungsmöglichkeiten in den jeweiligen Lebensbezügen.
Dazu gehört eine ungleich größere Offenheit des Sprechens über die jeweiligen Bedürfnisse materieller und symbolischer Art, also die Konkretisierung, im Gegensatz zur philosophischen Sublimierung und Verallgemeinerung, unserer Verletzlichkeit, unserer Abhängigkeit von anderen.
Wenn es eben, wie nicht nur Adorno, sondern auch der ganze fortschrittliche Feminismus behaupten, kein starkes, autonomes Subjekt gibt, sondern ein Geflecht von Abhängigkeiten, dann müssen wir darauf unsere Modelle des Verhaltens und Sprechens, unsere Konventionen und Gewohnheiten gründen, anstatt auf fiktive Postulate der Unabhängigkeit.
Zum Beispiel ist das Sprechen über Geld im Kulturbetrieb immer noch nahezu tabu; nur wenige wagen es, offen über Honorare zu sprechen, konkrete Fördersummen usw. Das Gift kommt aus der diesbezüglichen Verklemmtheit, die eine im schlechten Sinne romantische, heuchlerische Mythologie der Arbeit nur um der Sache willen suggeriert, die in Wahrheit doch nur die Kehrseite des realen Zynismus ist, demzufolge jeder schaut wo er bleibt.
Es ist gerade die mangelnde Offenheit bei der Analyse kultureller Produktionsbedingungen, die es erschwert, unsere Arbeitsbedingungen solidarischer zu gestalten. Stattdessen geht es darum, die immer wieder zu verteidigende, potentiell emanzipatorische Modellhaftigkeit von Sorgearbeit, von politischer und gewerkschaftlicher Arbeit, von Kulturarbeit viel deutlicher zu machen, und die konkreten Symptome schlechter Arbeit klarer zu benennen, anstatt mit einfachen Ideen von Idealismus zu arbeiten. Also die konkreten Spuren der Selbstbestimmung und des Solidarischen stark machen. Anders gesagt, nicht nur auf die jeweiligen sozialen Inhalte der Arbeitsfelder schauen, sondern auch auf die jeweiligen sozialen Formen.
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