"Verbiesterung der Gesellschaftskritik"

Seite 2: "Wir operieren in einem philosophischen Raum des Unwahrscheinlichen"

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Wie lassen sich diese individuellen Entwicklungsräume in ein größeres emanzipatorisches Projekt integrieren?

Michael Hirsch: Indem man eben diesen Zusammenhang, diese Verbindung vom Besonderen zum Allgemeinen, jederzeit klar markiert. Indem man jederzeit Klarheit darüber herstellt, dass wir immer zugleich in zwei Welten leben, in der Welt des Bestehenden, und in einer anderen möglichen Welt, an deren praktischer Herbeiführung wir in unserem Leben arbeiten.

Die Frage des Optimismus ist also keine philosophisch-ontologische, also ob die diesbezügliche Hoffnung objektiv, vom wahrscheinlichen geschichtlichen Verlauf her begründet ist oder unbegründet. Sie ist vielmehr eine ethisch-politische, also eine Behauptung, die sich selbst performativ bewahrheiten kann, wenn sie glaubwürdig und leidenschaftlich genug verkörpert wird.

Das heißt wir operieren damit in einem philosophischen Raum des Unwahrscheinlichen, nicht des Wahrscheinlichen. Man könnte mit Jean-Paul Sartre sagen, es ist eine Wette. Meines Erachtens wird unserem Leben damit wieder ein Sinn zurückgegeben. Jenseits der großen, wie der Philosoph Gilles Deleuze sagte, molaren Segmente der Gesellschaft, also Staat, Kapital, Bürokratien, geht es um das Molekulare, kleine Bewegungen und Erfindungen.

Im Unterschied zu Deleuze bestehe ich aber darauf, diese kleinen Bewegungen des, wie er es nannte, Minoritär-Werdens, klar in ein größeres emanzipatorisches Projekt einzuschreiben - also den klassischen Gegensatz zu überwinden, der die Linke seit Jahrzehnten lähmt: den Gegensatz zwischen einer eher anarchistischen, subversiven Bewegungs- und Widerstands-Linken, und einer eher reformistischen, ja etatistischen Linken. Dazu ist es eben notwendig, dass die Einzelnen sich, entgegen dem herrschenden Trend, weniger identifizieren, also mit einer bestimmten sozialen Identität und Kategorie verschmelzen, sondern vielmehr des-identifizieren.

Es geht darum, in sich selbst eine Vielheit zu werden, ein mehrfaches Subjekt, das zum Beispiel sowohl männlich ist, heterosexuell und feministisch; das sowohl zur bürgerlichen Klasse gehört, und dennoch politisch progressiv eingestellt ist, arbeitet und lebt, ohne die Illusion, sich durch Bekenntnisse der Solidarität mit Minderheiten und anderen beherrschten oder ausgeschlossenen Gruppen reinzuwaschen von der Schuld der relativen Privilegierung. Weil es eben im Raum emanzipatorischer Politik und emanzipatorischen Lebens nicht so sehr um richtiges Bewusstsein geht als um Fragen des Habitus, der konkreten Alltagspraxis.

Also, ich schreibe mich als Einzelner zwar auch durch meine ideologischen Einstellungen in ein größeres Projekt ein. Wichtiger aber ist die konkrete, körperliche Einschreibung in meiner Alltagspraxis, die mich modellhaft mit anderen Welten verbindet. - Und die Beteiligung an größeren progressiven Reformprojekten wie zum Beispiel dem Kampf für eine generelle und radikale Verkürzung der tariflichen Normalarbeitszeiten für alle, im Sinne eines möglichen Einigungspunktes für die Arbeiter-, Frauen- und Umweltbewegung. Das war eben auch schon Adornos Intuition, die völlig auf der Linie der klassischen Marx’schen Arbeitsutopien liegt:

Die Befreiung der Zeit, die Verkürzung des Arbeitstags ist der konkreteste reformistische Ansatzpunkt für eine radikale Veränderung der falsch eingerichteten Gesellschaft. Hier geht es für uns alle darum, nicht nur ideologisch, sondern konkret mit unserem Leben fortschrittlich zu werden, und den Bruch mit der zeitgenössischen Ideologie der Beschäftigung voranzutreiben.

"More invitational, less insistent"

Inwiefern war Adorno auch im Negativen Bezugspunkt für dieses Buch?

Michael Hirsch: Es ist die prinzipielle Geste "mit Adorno über Adorno hinaus", also das Plädoyer für einen Bruch mit dem leicht zwanghaften Negativismus in seinem Denken. Also eine Abwendung von dem zu geschlossenen Modus der Gesellschaftskritik. Dieser Modus legt implizit nahe, dass wir unsere hauptsächlichen Anstrengungen auf die theoretische Durchdringung, und die politische Änderung der bislang falsch eingerichteten Gesellschaft konzentrieren sollten.

Dieser Modus erzeugt die Gefahr einer gewissen Verbiesterung der Gesellschaftskritik und des politischen Aktivismus. Damit will ich nicht gegen Schärfe theoretischer und politischer Kritik plädieren, im Gegenteil, ich bin extrem affiziert von Adornos diesbezüglicher Emphase (was ja eines seiner Lieblingswörter ist).

Der Punkt ist nur, dass man dazu ein Gegengewicht braucht, um sich nicht zu verhärten, und um nicht zu verzweifeln. Man muss die eigene Identität, die eigene Modalität wechseln, changieren können, um geschmeidiger zu werden, um also, wie Adorno es nennt, das eigene Leben zum "hinfälligen Bild eines richtigen zu machen".

Anders gesagt, es geht nicht nur darum, wie Adorno sagt, weder an der eigenen Ohnmacht noch an der Macht der anderen zu verzweifeln. Das ist noch zu voluntaristisch gedacht, rein aus der Vorstellung heraus (und wir sehen ja auch, es hat nicht so wirklich gut geklappt damit für viele!).

Es geht für alle Progressiven vor allem darum, um die tolle marxistische Feministin Kathi Weeks zu zitieren, in Diskursen, Forderungen und Handlungsmodellen more invitational, less insistent zu werden, also weniger insistierend als vielmehr einladend. Nur dadurch wird das emanzipatorische Projekt wirklich attraktiv, und wirkt ansteckend - was in unserer Zeit besonders wichtig ist, wo es zwar viele Krisen und Politisierungen gibt, aber wenig ethisch glaubwürdige Bewegungen. Die Hoffnung muss als praktische Tugend glaubhaft existenziell vorgeführt werden, im Modus einer leidenschaftlichen, aber nicht erbitterten Verkörperung.

Darum teile ich auch überhaupt nicht Adornos Aversion gegen den Existenzialismus, dessen Spontaneismus und Authentizitätsglauben er verwarf. Ich hingegen denke, dass die emanzipatorische Linke natürlich immer marxistisch sein wird, aber ohne existenzialistische Momente kaum Verankerungen im Alltag und in konkreten Praktiken finden wird.

"Die Stellung der Intellektuellen hat sich geändert"

Adorno schrieb seinen berühmten Satz in den Vierziger Jahren. Wie hat sich seitdem die Welt und die Stellung der Intellektuellen in ihr geändert?

Michael Hirsch: Am Kern dieses Satzes hat sich nichts geändert seitdem, kann sich auch gar nichts ändern, da es sich um eine prinzipielle Hypothese, eine Setzung auf der philosophisch-gesellschaftstheoretischen Ebene handelt. Natürlich haben sich seitdem, also seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die Verhältnisse extrem verändert. Nicht aber die Grundschicht der Gesellschaftsformation des Kapitalismus, der eben, wie man heute wieder sieht, in bestimmten Krisensituationen immer wieder faschistische Bewegungen hervorbringt. Die eigentliche Behauptung von Adornos Theorie des sogenannten Spätkapitalismus ist ja :

Wir leben in einem Anachronismus, das heißt eigentlich sind fast alle äußeren Bedingungen für eine progressive Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse gegeben, also der demokratische Rechts- und Sozialstaat mit seinen bürgerlichen und politischen Freiheiten, die wachsenden Bildungspotentiale, die zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter, die Dekolonisation, undsoweiter, undsoweiter - doch die eigentliche qualitative Änderung, der Fortschritt bleibt aus. Es gelingt nicht, die fortschrittlichen Möglichkeiten zu aktualisieren. Stattdessen, oder eben gerade deswegen, bildet sich die Gesellschaft zurück hinter historisch erreichte Niveaus auf diesen verschiedenen Ebenen.

Was im übrigen die Kernthese der klassischen linken Faschismustheorie schon immer war: Die Rückbildung der Gesellschaft, und der Faschismus, sind gleichsam die Strafe für die verpasste Chance der Emanzipation, der demokratischen Mündigkeit.

Die Stellung der Intellektuellen hat sich insofern geändert, als ihre Position schwächer geworden ist. Mir scheint, als ob sich hier die symbolischen Machtverhältnisse umgekehrt hätten: Als ob nicht mehr die Gesellschaft sich vor der Macht der progressiven Argumente und Ideen zu rechtfertigen hätte, sondern umgekehrt die Intellektuellen sich durch Fleiß, Mehrarbeit und Fügsamkeit in die bestehenden Forschungs-, Stellen- und Sendeformate zu rechtfertigen hätten.

An diesem Punkt kann man konkret die Rückschrittlichkeit der aktuellen Gesellschaft messen. Und an diesem Punkt wird der Widerstand eben nicht nur ideologisch oder theoretisch bleiben können. Er wird praktisch werden, das heißt Verbindlichkeit für unseren Habitus, unser Berufsethos und unseren Arbeitsalltag beanspruchen müssen.

Vielleicht gelingt es ja demnächst, diese negative Energie der Ablehnung der repressiven Sozialmoral der Mehrarbeit und Konformität mit den Arbeit- und Auftraggebern zu bündeln in einen größeren Aufstand. Also in eine Streikbewegung, worin die Interessen der Intellektuellen nicht so verschieden sind von denen der sogenannten normalen Arbeiterinnen und Arbeiter. Für ein besseres Leben und eine bessere Einrichtung der Gesellschaft zugleich kämpfen: Das wäre die Formel aller zukünftigen Befreiungsbewegungen.

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