Vereinfachungen und Vereinseitigungen
Seite 2: "Was in Deutschland ein "Mindestlohn" ist, ist in Rumänien ein Hochlohn"
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Welche Auswirkungen wird nach Ihrer Einschätzung die Zuwanderung auf das Lohngefüge in Deutschland haben?
Hartmut Krauss: Zunächst einmal muss man festhalten, dass die EU in ihrer jetzigen Form in ökonomischer, sozialpolitischer und rechtlicher Hinsicht eine absolute Fehlkonstruktion darstellt.
So ist es ein Unding, Länder mit einem extremen Produktivitäts- und Wohlstandgefälle, also in ihren Grundparametern sehr ungleiche Ökonomien, formalrechtlich zu deregulieren und wie "Gleiche" mit reziproken Ansprüchen und Handlungsmöglichkeiten zu behandeln, anstatt zunächst einmal im Rahmen eines entschleunigten Erweiterungsprozesses die gravierenden Niveauunterschiede und damit auch die Auswanderungsgründe abzubauen.
Was zum Beispiel in Deutschland ein "Mindestlohn" ist, ist verglichen mit einem rumänischen oder bulgarischen Durchschnittslohn ein Hochlohn. Das gilt gleichermaßen für das Rentenniveau, Kindergeldzahlungen, Transfereinkommen, Gesundheitsversorgung et cetera.
Welche Folgen hat das konkret?
Hartmut Krauss: Sind erst einmal genügend Arbeitskräfte mit einem entsprechend vorgeprägten Einkommens- und sozialpolitischen Horizont immigriert und ist der Mindestlohn mit diversen Ausnahmeregelungen eingeführt, lässt sich das Durchschnittseinkommen ungeniert absenken.
In diesem fehlkonzipierten EU-Rahmen bedeutet "Arbeitnehmerfreizügigkeit" im Grunde nichts anderes als den Bau einer Einbahnstraße von den "ärmeren" in die "reicheren" Länder unter der strafandrohenden Oberaufsicht des EU-bürokratischen Kommandosystems als neuer Superregulierungsbehörde. Auf diese Weise werden einerseits die strukturellen Niveauunterschiede zwischen den EU-Ländern verfestigt, beziehungsweise vertieft und andererseits die Bedürfnisse mancher Kapitalgruppen nach einer billigeren Anspruchssorte von "doppelt freien" Lohnarbeitern befriedigt. Die Geprellten sind dann letztendlich die Steuern und Sozialabgaben zahlenden Erwerbstätigen der "reicheren" Länder – Lohnabhängige sowie kleine und mittlere Selbständige, die nicht in Steueroasen flüchten können.
"Rumänischer Niedriglohn plus Spesen"
Was bedeutet das?
Hartmut Krauss: Aktuell ist bereits erkennbar, dass eine recht große Zahl von Zuwanderern aus Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien ihr Niedrigeinkommen mit staatlichen Transferzahlungen "aufstocken" müssen. Das bedeutet: Es wird zum Teil zugleich im Interesse bestimmter Unternehmergruppen in den deutschen Niedriglohnarbeitsmarkt und entgegen den Allgemeininteressen in das Sozialtransfersystem eingewandert. So sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Juni 2013 sechsunddreißig Prozent der 27.000 Leistungsbezieher aus Rumänien und Bulgarien sogenannte "Aufstocker" gewesen. Generell wird eingeräumt, dass Neuzuwanderer in der Regel ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielen und deshalb häufiger aufstocken müssen.1
Hinzu kommt, dass deutsche Großunternehmen in südosteuropäischen Zweigniederlassungen zum Beispiel gut ausgebildete rumänische Arbeitskräfte zu den landesüblichen Einkommen beschäftigen und damit bis zu 90 Prozent Lohnkosten einsparen. Zugleich werden diese Arbeitskräfte immer wieder phasenweise in den deutschen Mutterfirmen eingesetzt, erhalten dort aber weiterhin den rumänischen Niedriglohn plus Spesen. Diese werden dann dem Lohn zugerechnet, und so spart sich das Unternehmen die Sozialabgaben.
Ein betroffener Fachingenieur berichtete in der Sendung Monitor vom 9. Januar 2014: "Nach einiger Zeit habe ich es von meinen deutschen Kollegen erfahren, dass ich nur ein Zehntel von deren Gehalt bekomme. Am Anfang bekamen wir nicht einmal 300,-Euro im Monat. Plus Spesen, 35,-Euro am Tag."
"Die Gewerkschaften sind in erster Linie Interessenvertreter der Stammbelegschaften großer Betriebe mit exportwirtschaftlicher Ausrichtung"
Wenn dem so ist, warum zeigen sich die deutschen Gewerkschaften dann so zuwanderungsaffin?
Hartmut Krauss: Zunächst einmal gehört es ja grundsätzlich zur politisch-korrekten Hausordnung des gegenwärtigen Herrschaftskartells, pauschal, undifferenziert und positiv-vorurteilsvoll "zuwanderungsaffin" zu sein. Als asymmetrischer "Sozialpartner", der sich der Logik der globalkapitalistischen Standortkonkurrenz unterworfen hat, sind die Gewerkschaften integraler Bestandteil dieses Kartells, das sich um eine wettbewerbsfähige "Willkommenskultur" bemüht. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften in erster Linie Interessenvertreter der Stammbelegschaften großer Betriebe mit exportwirtschaftlicher Ausrichtung sind und jenseits ritueller Kampfrhetorik den betriebswirtschaftlichen Trickle-Down-Standpunkt tief verinnerlicht haben: Hauptsache "mein" Unternehmen macht Profit. So wird dann schon bald etwas für mich via Tarifverhandlungen durchsickern.
Nun ist es ja durchaus richtig, sich gegen dumpfe Ausländerfeindlichkeit zu engagieren und völkische Reinheitspropaganda zu bekämpfen. Aber in seiner vulgarisierten und simplifizierten Form kippt dieser gutmenschliche Populismus oft um ins Reaktionäre und Unwahre. Denn nicht jeder Hinweis auf negative Folgen disparater Zuwanderung oder rückständige, autoritäre und antiemanzipatorische Einstellungen und Verhaltensweisen von Zuwanderern ist gleich "rassistisch" oder "fremdenfeindlich". Vielmehr – und dieser Tatbestand entgeht vielen "Antifaschisten" - befinden sich gerade auch unter Zuwanderern nicht wenige Rechtsextremisten.
So wäre es neben der Bekämpfung der unsäglichen Ausbeutung von zugewanderten Billigarbeitskräften durch deutsche Unternehmen eine wichtige Aufgabe für die Gewerkschaften, auch gegen die reaktionären und fundamentalistischen Zuwanderergruppen (Graue Wölfe, Salafisten et cetera) zu demonstrieren und sich stärker gegen Rüstungsexporte in die islamischen Golfstaaten und den Technologietransfer in den iranischen Gottesstaat zu wenden.
"Die Zuwanderungsdebatte verdrängt die notwendige Bekämpfung der Ursachen"
Von welchen Zusammenhängen lenkt Ihrer Meinung nach die Zuwanderungsdebatte ab?
Hartmut Krauss: Je nach Interessenstandpunkt und ideologischer Ausrichtung wird von vielerlei Aspekten abgelenkt. Ich will hier nur folgende Punkte anführen:
- Hinter der Propagandafront der pauschalen Hochjubler der Zuwanderung verbergen sich die bereits angesprochenen proftitlogischen Nutzenkalküle diverser Großbetriebe, aber auch die Interessen der verzweigten Migrationsindustrie, die von der Verlagerung extern erzeugter Probleme nach Deutschland und Europa lebt.
- Zudem verdrängt die Zuwanderungsdebatte in ihrer jetzigen Form die eigentlich notwendige Fokussierung und Bekämpfung der Ursachen von Auswanderung und Flucht aus entwicklungsblockierten, vormodern-bevölkerungsexplosiven oder durch intraislamische und interreligiöse Konflikte zerrissenen Ländern. Es ist absurd und selbstzerstörerisch zu glauben, Westeuropa und Deutschland könnten unbegrenzt als sozialpolitischer Abladeplatz und therapeutische Weltreparaturwerkstatt für Probleme fungieren, die in nichtwestlichen Herrschaftsgebieten von dortigen menschenrechtsfeindlichen Despoten, kriegerischen Kleptokraten, religionsfanatischen "Glaubenskriegern" und konfliktanheizenden Regionalmächten wie dem schiitischen Iran und den sunnitischen Golfmonarchien verursacht und eskaliert werden.
- Innereuropäisch ist es ein skandalöses politisches Paradoxon, dass ein ungarischer EU-Kommissar, der aus einem ultrareaktionär regierten Land stammt, das als unangefochtener Spitzenreiter in Sachen Rassenhass auf Roma gilt, der deutschen Gesellschaft diktieren will, wie die Zugänge zum Sozialtransfersystem zu regeln sind und die hiesigen Behörden zu arbeiten haben.
- Nicht zuletzt lenkt die aktuelle Zuwanderungsdebatte von den mittlerweile strukturell verfestigten Problemen vergangener disparater Zuwanderung und den hauptsächlichen Problemgruppen unter den Zuwanderern ab.
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