Vereinfachungen und Vereinseitigungen
- Vereinfachungen und Vereinseitigungen
- "Was in Deutschland ein "Mindestlohn" ist, ist in Rumänien ein Hochlohn"
- "Zentraler differenzierender Faktor ist die Qualifikation"
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Hartmut Krauss über die Zuwanderungsdebatte in Deutschland
Während die CSU für die diesjährige Wahl des Europa-Parlaments mit fremdenfeindlichen Slogans am rechten Rand nach Stimmen fischt, zeichnen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in ungewohnter Eintracht das Bild von der Zuwanderung der Bürger aus armen EU-Staaten wie Rumänien und Bulgarien in einem rosigen Licht. Dabei verhalten sich die Positionen rein spiegelbildlich - und so ist die deutsche Zuwanderungsdebatte auf beiden Seiten von Vereinfachungen und Vereinseitigungen geprägt. - Meint Hartmut Krauss, der 30 Jahre lang auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung tätig war und dabei Erfahrungen mit Migranten verschiedener Herkunft sammeln konnte.
Herr Krauss, Sie kritisieren die Studie 12 gute Gründe für Zuwanderung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Warum?
Hartmut Krauss: Zuwanderung ist ein hochkomplexes, widersprüchliches und heterogenes Geschehen, das sich aus sehr unterschiedlichen subjektiven Beweggründen zusammensetzt und Akteure betrifft, die in ihren Eigenschaftsmerkmalen oftmals sehr stark differieren. Deshalb ist eine ebenso sorgfältige wie differenzierte Analyse erforderlich, die sich keinen fremdgesetzten Tabus beziehungsweise interessenpolitischen Vorgaben beugt und weder negativen noch positiven Vorurteilen folgt. Nur auf dieser Grundlage lassen sich dann auch die langfristigen Effekte der Zuwanderung für die Aufnahmegesellschaft abschätzen und anhand transparenter Kriterien bewerten.
In der aktuellen Debatte hat nun die CSU das pauschale Gefahrenbild einer einseitigen Zuwanderung in die Sozialsysteme an die Wand gemalt und die populistische Parole kreiert: "Wer betrügt, der fliegt!" Darauf antwortet nun das IW mit einer ebenso einseitigen spiegelverkehrten Behauptung "Zuwanderung ist per se ganz was Tolles"- für die Wirtschaft, für die Sozialsysteme, für die Kommunen, für die Bevölkerung: Alles nur Bereicherung.
Konstruiert wird hier in reklametechnischer Manier der realitätsabstrakte Typus einer homogen positiven Zuwanderung, der nur hochqualifizierte und unmittelbar integrationsfähige Migranten mit guten Deutschkenntnissen kennt, beziehungsweise vorkommen lässt, die sich kulturell-normativ sofort reibungslos einfügen und Deutschland vor dem demographischen Untergang retten. Um aber eine solche Aussagen machen zu können, bleiben grundlegende Sachverhalte ausgeblendet.
"Privatkapitalistische Nutzung von Vorteilen - Sozialisierung von Nachteilen"
Welche Faktoren und Tatbestände lässt das Institut ihres Erachtens außen vor?
Hartmut Krauss: Erstens die angehäuften Effekte und strukturellen Verfestigungen vergangener disparater Zuwanderung und zweitens die sozialökonomischen und soziokulturellen Ambivalenzen aktueller Immigration. So wandern eben derzeit nicht nur Akademiker aus Südosteuropa ein, sondern gleichzeitig Niedrigqualifizierte und Analphabeten ohne reelle Chancen auf dem Arbeitsmarkt, aber dafür als leichte Beute für Ausbeuter aller Art: Vermieter von heruntergekommenen Unterkünften zu Wucherpreisen, dubiose Behördenhelfer, die sich ihre Dienstleistungen teuer bezahlen lassen, Unternehmer mit Niedrigstlöhnen für Tagelöhner und Scheinselbständige auf dem "Arbeiterstrich"– das Ganze oftmals auch in funktionsgerechter Kombination und vermittelt über Sub-Sub-Subunternehmensverkettungen.
Können Sie das empirisch erhärten?
Hartmut Krauss: Die vom IW selbst angesprochene Struktur der Zuwanderungspopulation der 2000er Jahre besagt, dass der Anteil der Personen ohne beruflichen Abschluss mit 40 Prozent deutlich höher liegt als der Akademikeranteil mit 29,1 Prozent.
Zwar mag die Zuwanderung von Personen mit mehrheitlich geringer Qualifikation und habitualisierten Niedriglohnerfahrungen punktuell und kurzfristig den Lohnsenkungsstrategien von bestimmten Unternehmergruppen dienlich sein. Allerdings werden dann - wie schon im Fall der "Gastarbeiterimmigration" der 1960er Jahre – die Folgekosten der unternehmerischen Teilinteressen der Gesamtgesellschaft (öffentliche Haushalte, Steuerzahler, Kommunen, Bildungssystem, Allgemeinbevölkerung et cetera) aufgebürdet. Ein klarer Fall des bekannten Musters: Privatkapitalistische Nutzung von Vorteilen - Sozialisierung von Nachteilen in Form der Abwälzung auf die Gesamtbevölkerung.
Laut einer statistischen Hintergrundinformation der Bundesagentur für Arbeit vom Dezember 2013 hat sich bei Personen aus den acht neuen Mitgliedstaaten vom Mai 2004 die Zahl der Arbeitssuchenden im Vorjahresvergleich um 24 Prozent und bei Personen aus Rumänien und Bulgarien um 46 Prozent erhöht. Bei Leistungsempfängern im SGB-II-Bezug betrug der Anstieg im ersten Fall plus 18 Prozent und bei Bulgaren und Rumänen plus 48 Prozent, während es insgesamt nur einen leichten Anstieg von 0,2 Prozent gab.
Nach Angaben des Spiegel hat die Auswertung statistischer Angaben ergeben, dass Ende 2012 in Brennpunktstädten wie Duisburg und Dortmund nur 10,8 Prozent beziehungsweise 14,8 Prozent der dorthin zugewanderten Bulgaren und Rumänen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen. "Rund 90 Prozent aller dort beim Jobcenter gemeldeten Bulgaren und Rumänen", so das Nachrichtenmagazin, hätten "keine abgeschlossene Berufsausbildung und damit kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt."
Wenn man solche gravierenden Aspekte nicht in die Betrachtung einbezieht, entsteht ein schiefes, hier: schönfärberisches und politisch desorientierendes Trugbild.
Ist das alles nicht zu sehr aus Sicht der Wirtschaft argumentiert? Gibt es hier keine humanitäre Verpflichtung der wohlhabenden EU-Staaten? Vergessen Sie hier nicht, dass es bei den Zuwanderern Menschen gibt, die wie die Roma in ihren Heimatländern unter extremer Armut leiden müssen und denen es in Deutschland definitiv besser ergehen wird, was generell zu begrüßen wäre?
Hartmut Krauss: Ich argumentiere nicht aus der Sicht der Wirtschaft, sondern aus einer ganzheitlich-kritischen Perspektive. Der ökonomistische Utilitarismus, wie er von der Kapitallobby vertreten wird, sieht nur den abschöpfbaren Nutzen ungesteuerter beziehungsweise fehlgesteuerter Zuwanderung (billige Fachkräfte, Dumpinglöhner, Saisonarbeiter et cetera) und pickt sich hier die Rosinen raus. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen der akkumulierten Massenzuwanderung von unqualifizierten Personen, die kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, überproportional im Sozialtransfersystem zu finden sind und überdies grundrechtsfreie und antiemanzipatorische Ghettos bilden, werden diskursiv ausgeblendet und der Gesamtgesellschaft aufgebürdet.
Eine echte, an die Wurzeln gehende "humanitäre Verpflichtung" wäre es hingegen, primär vor Ort die desolaten Bedingungen zu ändern, die Armutsauswanderung erzeugen. Ganz im Sinne von Marx‘ kategorischem Imperativ, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist".
Das bedeutet konkret: Erstens Zurückdrängung und Überwindung der sozialrassistischen Ausgrenzung und massiven Anfeindung der Roma in den osteuropäischen Auswanderungsländern. Hier wäre tatsächlich ein EU-Auflagenregime angebracht.
Zweitens die Durchführung von gezielten Integrationsmaßnahmen für Roma primär in den Herkunftsländern sowie in den Ländern, in die Roma verstärkt eingewandert sind.
Drittens ist anzuerkennen, dass die Roma eine spezielle Problemgruppe mit besonderem Unterstützungs- aber auch Veränderungsbedarf darstellen, der man nicht so ohne weiteres die "Arbeitnehmerfreizügigkeit" überstülpen kann. Das heißt: Auswanderungswillige Roma sind nach festzulegenden Kontingenten auf die EU-Staaten aufzuteilen. Hier wiederum ist festzustellen, dass die Staaten laut Spiegel noch nicht einmal ansatzweise die 26,5 Milliarden Euro an Fördergeldern zur sozialen Integration abrufen, die über die letzten fünf Jahre umgesetzt werden sollten.
Viertens ist realistisch anzuerkennen, dass die Roma nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind, die an reaktionär-autoritären und patriarchalischen Clanstrukturen festhalten, zum Teil ihre Kinder nicht in die Schule schicken und desintegrative Verhaltensweisen aufweisen. Zur Differenzierung gehört demnach auch, unmittelbar betroffene Einheimische, die sich als Anwohner über problematische Verhaltensweisen von Zugezogenen beklagen, nicht reflexartig als "rassistisch" zu stigmatisieren und dadurch ungelöste Konflikte des Zusammenlebens nur unnötig zu verschärfen. Zudem wird berichtet, dass die Spannungen zwischen türkischstämmigen Bewohnern und den neuen Zuwanderern häufig besonders ausgeprägt seien.
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