Vereint im Hass

Seite 2: Wenn aus Oliver plötzlich "Hitler" wird

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Die Zeit nach der Wende war hart für die Menschen im Osten. Zu den gesellschaftlichen Verwerfungen kamen persönliche Brüche. Viele in der DDR aufgewachsene Bekannte erzählten mir, dass sie mit ansehen mussten, wie die ehemals besten Freunde, die liebste Arbeitskollegin, die Nachbarin, der Onkel, sich plötzlich den Nazis zuwandten. Die 1974 in der DDR geborene Manja Präkels hat einen äußerst empfehlenswerten Roman darüber geschrieben: "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß".

Dessen Protagonistin ist Mimi, geboren am "kürzesten Tag des Jahres", drei Tage bevor "mich der Weihnachtsmann zum ersten Mal an meinem dritten Lebenstag" besuchte. In dem Roman erzählt Manja Präkels die Geschichte einer Kindergartenfreundschaft zweier Nachbarskinder, deren Geheimnis darin bestand, den Erwachsenen bei Familienfeierlichkeiten in Schnaps eingeweichte Kirschen zu mopsen und zu verdrücken. Obwohl sie sie nicht einmal mochten: "Die Kirschen schmeckten zwar scheußlich, aber sie waren unser Geheimnis, und darauf kam es an." Die Familien wohnten dicht gedrängt:

Wir wohnten "alle uffnander", wie Otto Brunk, der Kneipier, bei jeder Gelegenheit bemerkte. Der Havelstraßenonkel, die Havelstraßentante, Oma Frieda, Opa Erwin und meine älteren Cousins - die ganze Familie in einem Haus. Wir teilten die Nachbarn, feierten gemeinsam Geburtstage, Hochzeiten, Todesfälle und trugen die gleichen Stricksocken aus Wollresten. In allen Küchenschränken lagen Kerzen bereit und Streichhölzer, für den Fall, dass der Strom ausfiele. Und wegen des dauernden Kochwettbewerbs der Frauen roch es überall im Haus nach Essen. Die Männer hielten Kaninchen, Hühner und Enten auf dem hinteren Teil des Hofes. Dort standen sie am Abend beieinander, schweigend. Schauten den Tieren beim Futtern zu und tranken Schnaps.

Mimi und Oliver waren Nachbarskinder und Angelfreunde in einer kleinen Stadt an der Havel. Sie spielen Fußball miteinander, leisten den Pionierschwur und berauschen sich auf Familienfesten heimlich mit den Schnapskirschen der Eltern. Mit dem Mauerfall zerbricht auch ihre Freundschaft. Mimi sieht sich als der letzte Pionier - Timur ohne Trupp. Oliver wird unter dem Kampfnamen Hitler zu einem der Anführer marodierender Jugendbanden. In Windeseile bringen seine Leute Straßen und Plätze unter ihre Kontrolle.

Mirja Präkels, Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Wie es im Leben so ist, trennten sich die Wege mal, dann führten diese sie wieder zusammen. Beide machten ihre eigenen Erfahrungen, gingen ihren eigenen Weg. Schließlich brach der Staat zusammen, und die Auswirkungen waren bald zu spüren, auch in dem verschlafenen Nest an der Havel:

Alle hatten die Bilder gesehen. Nicht alle mussten weinen. Pünktlich zum dritten Oktober, dem Tag der ersten Einheitsfeier, überfiel eine Meute das Wohnheim der Vertragsarbeiter draußen auf der Ziegelei. Ihre Brandsätze richteten keinen großen Schaden an. Sie zerschellten an der Außenwand des Hauses. Die in Flammen stehenden Sträucher im Eingangsbereich hatten rasch die benachbarte Brandwache alarmiert. Die rief Feuerwehr und Polizei. Ein paar von den Werfern wurden sogar erwischt. Es waren Kinder. Die Glatzen hatten ihre jüngeren Geschwister mitgenommen, angestachelt und zurückgelassen. Die waren noch so klein, dass sie nicht einmal verhaftet werden konnten. Die Wachtmeister Schäfer und Glubke fuhren von Wohnung zu Wohnung, führten Gespräche mit den Eltern. (…) Inzwischen jagten die großen Brüder uns wie Hasen durch die Havelstadt. Es gab keine Straße, keinen Platz, der nicht von ihnen beherrscht wurde. Manchmal hefteten sie sich an die Fersen eines Spaziergängers, der ihnen verdächtig erschien oder fremd oder einfach als leichte Beute. Es machte ihnen Spaß, das Saufen und das Jagen. Angst zu verbreiten.

Gegenübernachbar Flötenberg hatte einfach Pech, als Mike Lehmann ihn, den alten Blueser und Zopfträger, auf dem Rückweg von einem Saufgelage nicht erkannte und mit einem Messer anfiel. "Ick dachte, er wär eine von den Zecken", versuchte er sich später zu rechtfertigen. Flötenberg behielt eine prächtige Narbe zurück. Andi Domke, der im Ratskeller kellnerte, wurde auf dem Weg von der Spätschicht nach Hause hinterrücks überfallen. Mehrere Angreifer prügelten und traten auf ihn ein, bevor sie ihn, "die Scheißschwuchtel", mit ihren Bierflaschen vergewaltigten und anschließend zwangen, mit ihnen zu trinken. Andi Domke kannte seine Peiniger sehr gut, er hatte sie bedient, wenn sie am Ende langer Sommertage mit Vater und Mutter im Traditionslokal eingekehrt waren. Weil er fürchtete, seinen Job zu verlieren, verzichtete er auf eine Anzeige. Die verspottete "Schwuchtel" zu sein, daran hatte sich der Kellner schon lange gewöhnt. Den bekloppten Detlef und seine Mutter überfielen sie in der Nacht und zündeten das gemeinsame Bett an. Die beiden kamen mit dem Schrecken davon.

Es wurde zu einer Art Zeitvertreib für die Gorillas, Menschen von der alten Zugbrücke in die Havel zu werfen. Mattes Findig brach sich dabei die Hand. Er behauptete, von allein ins Wasser gefallen zu sein. Den angolanischen Vertragsarbeiter Miguel Fernando, der Asyl beantragt hatte, um bei seiner schwangeren Freundin bleiben zu können, erwischten sie auf dem Weg zur Apotheke. "Die Kohle" sei besser geflogen als alle anderen, brüsteten sich die Helden später vor der Eisdiele, wo die kleinen Mädchen ihre Muskeln bestaunten. Die Wachtmeister Glubke und Schäfer kümmerten sich derweil um eine Einbruchserie in den umliegenden Kleingartenanlagen, die die Gemüter erhitzte.

Mirja Präkels, Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Die Angriffe richteten sich zunächst primär gegen die Vertragsarbeiter, dann gegen die "Zecken", zu denen nun auch Mimi gehörte, und auch untereinander waren sich die "umherstreunenden Gorillas" nicht unbedingt grün: "Nachdem die Heime der Vertragsarbeiter und Asylanten geräumt worden waren, begannen die verschiedenen Nazigruppierungen, Diskotheken zu überfallen, in denen sie Zecken und Ausländer vermuteten. Die Oranienburger traten in schwarzen Lederjacken und BMWs auf, sie trugen keine Glatzen, sondern Scheitelfrisuren und hatten Äxte bei sich. Die Glatzenbanden benutzten Baseballschläger und Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Es gab schwer durchschaubare Fehden zwischen ihnen, Rangkämpfe und solche um Gebietsansprüche."

Eine Gruppierung machte durch besondere Brutalität von sich reden, "Hitler" nannte sich ihr Anführer. Mimi ahnte noch nicht, dass es sich dabei um Oliver, ihren alten Freund aus Kindertagen handelte.

Nach einer längeren Zeitspanne, zunächst in Singapur, dann in Berlin, schließlich in Görlitz, kehrte Mimi in das verschlafene Havelnest zurück: "Aus der Ausnahmesituation war inzwischen Alltag geworden. Glatzköpfe schlenderten mit ihren Freundinnen zur Eisdiele. Scheitelträger sonnten sich, ans Geländer der alten Zugbrücke gelehnt, und Uniformierte patrouillierten so selbstverständlich durch die Straßen wie einst die Wachtmeister Glubke und Schäfer. Die Leute schien das nicht zu stören. (… )"

Hitler blieb im Verborgenen. Es hieß, er pflege mittlerweile umfangreiche Beziehungen zu polnischen Gesinnungsgenossen. Gemeinsam beherrschten sie den örtlichen Drogenmarkt. Koks, Speed, Pillen, LSD- die Kids bekämpften ihre Langeweile nicht mehr nur mit Alkohol und Gras.

Mirja Präkels, Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Die sich ausbreitende Resignation trug dazu bei, dass die Glatzköpfe schalten und walten konnten, wie sie wollten: "In dem abgelegenen Dorf gab es keine Straßenbeleuchtung, dafür die unbeschäftigten Bauern, die um die Wette soffen, und die obligatorische Bande streitsüchtiger Glatzköpfe."

Kontakt zu Oliver nahm Mimi nur auf, als dieser ihren Bruder als Kurier für seine Drogengeschäfte einspannt. Auf vielen Seiten beschreibt die Autorin die Trostlosigkeit des Lebens der Menschen nach der Wende, den ständigen Überfällen der Glatzköpfe, nachdem es keine Vertragsarbeiter mehr gab, vorwiegend auf Linke, die Polizei, die überfordert, unfähig oder unwillig war, die Vorfälle aufzuklären und die Täter der Justiz zuzuführen. Und wenn doch, dann bekamen sie häufig lächerlich niedrige Strafen. Als Journalistin berichtet Mimi über diese Justizpossen.

Manja Präkels verfasste eine fiktive Geschichte, deren erfundene Personen und Handlungen sich aber stark an der Realität orientieren. Eine Realität, in der die Glatzköpfe sich nahezu ungestört breit machen konnten. Die damalige Familienministerin Angela Merkel (CDU) ersann im wahren Leben das Konzept der "akzeptierenden Jugendarbeit", mit der die Jugendlichen "dort abgeholt" werden sollten, "wo sie stehen".

Dazu wurden Jugendtreffs großzügig mit Personal und Fördermitteln ausgestattet. Mag sein, dass die eine oder der andere so vom rechten Weg abgebracht werden konnte, im Allgemeinen aber bildeten diese Jugendtreffs den Rahmen, wo die rechtsextremen Gruppierungen sich finden und sammeln konnten. So entstanden u.a. die "Skins Sächsische Schweiz" und auch der "Thüringer Heimatschutz".