Vergesellschaftet Twitter!

Seite 2: Big Brother und der freie Markt

Im Zentrum der Kritik an der Macht der Plattformen standen nicht die Arbeitsverhältnisse oder ihre marktbeherrschende Stellung, sondern die Angst vor Desinformation, politischer Polarisierung und Kontrollverlust.

Regierungen nahezu aller Länder bauten in den 2010er-Jahren ihre Kontrolle aus (wobei sich ihr Einfluss umso deutlicher geltend machte, je bedeutsamer der Markt für die Plattform-Betreiber war). Die Anbieter wurden einer gesetzlichen Regulierung unterworfen, die sie zu einer engeren Zusammenarbeit mit den Aufsichts- und Polizeibehörden und einer schärferen Inhaltskontrolle verpflichtet.

Im Gegensatz dazu fehlt der Zivilgesellschaft weiterhin die Möglichkeit, Entscheidungen der Plattformen zu beeinflussen. Zwar haben einige Unternehmen begonnen, Plattform-Räte einzurichten. Diese sind aber höchstens beratend tätig und letztlich rein symbolisch. Die Unternehmen optimieren mit ihren Inhalten wie bisher ihre (Werbe-)Einnahmen, während sie sich bei umstrittenen Themen an etablierten Institutionen orientiert.

So haben die widerstrebenden Interessen Kommerzialisierung und Staatssicherheit einen Ausgleich gefunden. Den Plattformen wäre zwar jeder Inhalt recht, der Aufmerksamkeit erzeugt, die sich wiederum in Werbeeinnahmen umsetzen ließe, aber sie kommen den Wünschen der jeweiligen Machthaber nach, wenn diese bestimmte Beiträge oder Debatten unterbinden wollen.

Das freie Unternehmertum hat die zunehmende staatliche Kontrolle nicht verhindert, was selbst Teile der netzpolitischen und bürgerrechtlichen Bewegung hofften. Kurz, die Alternative lautet nicht "Big Brother-Überwachung oder Kommerz", beides kann heute Hand in Hand gehen.

Mehr Stress für Mitarbeiter, schlechtere Infrastruktur für alle

Die nachlassende Nachfrage und die steigenden Zinsen machen den Plattformen zu schaffen. Auch Elon Musk braucht dringend Geld. Laut der Financial Times hat Twitter Schulden in Höhe von insgesamt 13 Milliarden US-Dollar und muss jährlich über eine Milliarde Zinsen zahlen.

Geradezu manisch sucht das Management nach Möglichkeiten, Einkünfte zu erzielen. Wer nicht kostenpflichtig abonniert, dessen Tweets werden anderen Nutzern nicht mehr empfohlen. Sogar Links zu anderen Internetseiten und Diensten wurden zeitweilig gesperrt, bis der Protest der Gemeinde zu laut wurde. Weil zusätzliche Leistungen wie die "Authentifizierung" kaum nachgefragt werden, bekommen die Nutzer noch mehr Werbung zu sehen. Auch die Regeln für politische Werbung in den USA wurden gelockert.

Seit Herbst 2022 wurden etwa drei Viertel der Twitter-Mitarbeiter entlassen (wobei diese Zahlen aufgrund der Auslagerung nicht alles sagen). Gekündigt wurde auch im Bereich Wartung und Sicherheit, weshalb das Risiko gestiegen ist, dass personenbezogene Daten abhandenkommen oder Schadsoftware auf das Endgerät gelangt.

Musk fordert Hardcore-Arbeitseinstellung

Viele Stellen wurden unmittelbar nach der Kündigung mit geringeren Gehältern neu besetzt. Von den verbliebenen Mitarbeitern forderte Musk eine "Hardcore-Arbeitseinstellung … lange Arbeitszeiten bei hoher Intensität" und warnte, dass "nur außergewöhnliche Leistungen" den Arbeitsplatz sichern könnten.

Ähnliche Entwicklungen finden sich bei allen Plattformen, nicht nur im Bereich Social Media, sondern auch bei Liefer- und Fahrdiensten und im E-Commerce.

Meta-Chef Mark Zuckerberg kündigte ein "Jahr der Effizienz" an: Die Kosten müssen runter! Mitarbeiter werden entlassen oder verdienen trotz härterer Arbeit weniger. Dennoch fließen weiterhin hohe Anteile des Umsatzes an die Aktionäre und das Management. Die digitale Infrastruktur wird teurer und damit auch undemokratischer, weil ärmere Nutzer ausgegrenzt werden.

Muss das eigentlich sein? Warum muss das so sein?

Wie kommen wir raus aus dem digitalen Kapitalismus?

Die Kritik an der Macht der Internetkonzerne teilte bisher die libertären Grundannahmen des Silicon Valley. Selbst die netzpolitische Bewegung bewegte sich oft im Rahmen der Kalifornischen Ideologie.

Ihr zufolge entstehen digitale Innovationen spontan, idealerweise in einer Garage. Herausragende Erfinderunternehmern treiben sie voran. Ihre Programme steigern die Produktivität enorm, aber sie lassen sich nicht planen, und der Staat soll sich um Himmels Willen aus diesem Bereich heraushalten. Neue Technik löst gesellschaftliche Probleme.

Auf dieser Grundlage lässt sich die Privatisierung allerdings nicht zurückdrängen. Alternativen zu Twitter und Google sind nur möglich, wenn die notwendige Arbeit organisiert und finanziert wird (wobei das Verhältnis zwischen bezahlter Lohnarbeit und unbezahlter Freiwilligenarbeit sicher unterschiedlich gewählt werden kann). Sie werden nicht spontan aus der Community entstehen. Ein brisantes Beispiel ist die Frage der Inhaltskontrolle.

Noch jede Gesellschaft hat die öffentliche Rede reglementiert. Die Auseinandersetzungen darüber, was gesagt werden darf und was nicht, gehört selbst zum politischen und kulturellen Prozess.

Die pauschale Ablehnung jeder Zensur umgeht, einigermaßen denkfaul, die entscheidende politische Frage: Welche Art von Plattformen nutzt einer demokratischen Öffentlichkeit und einer freiheitlichen Gesellschaft? Wie kann Selbstorganisation möglich werden? Innerhalb einer individualistische Auffassung von Gesellschaft, die sich aus Internet-Monaden zusammensetzt, ergibt die Frage freilich keinen Sinn.