Verschwörungsangst und Viruswahn
Über Paranoia in der Corona-Pandemie
In seinem Telepolis-Essay über die Sozialpsychologie der Impfgegnerschaft untersucht Götz Eisenberg die tiefenpsychologischen Mechanismen hinter der Impfgegnerschaft. Die "sozialpsychologische Dimension" sei bislang in "aufgeregten Debatten über die Motive der Impfverweigerer zu kurz gekommen", schreibt er.
Unter anderem führt er Impfgegnerschaft auf frühkindliche Ängste vor Penetration oder dem Fremden zurück. Es folgt eine Replik auf seine Thesen, die zeigt: Paranoia ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das gerade in der Corona-Krise sowohl Impfgegner wie Impfapologeten in einer kommunikativen Dynamik miteinander verstrickt.
Bevor auf einige Punkte näher eingegangen werden kann, soll festgehalten werden, dass bereits die Ausgangsbeschreibung des Essays nicht vollständig ist. Eine Psychologisierung der Impfgegnerschaft begleitet den Pandemie-Diskurs und die Impfkampagne schon seit Monaten.
Ein paar Beispiele: Am 9. Juli 2021 klärt RTL News mit einem Psychologen darüber auf, was zu tun sei, "wenn jemand aus meinem Umfeld Impfgegner ist", im SWR-Gespräch vom 11. August diessn Jahres weiß der klinische Psychologe Peter Kirsch: "Hartnäckige Impfgegner erreicht man nicht", ein anderer Psychologe und Experte für Gesundheitskommunikation spricht im September auf dem Nachrichtenportal Watson die nahezu gleiche Warnung aus.
Implizit vorausgesetzt wird bei den genannten und ähnlichen Behauptungen: Die Impfgegner sind mit ihrer Kritik, Skepsis oder Sorge im Unrecht oder falsch informiert - gleich wie Kinder. Auch Eisenberg geht in seinem Essay von dieser Annahme aus. Der Vorbehalt gegen eine Covid-19-Impfung wird dabei lediglich hinsichtlich eines vermeintlich defizitären "mindset" oder sozio-psychologischen Komplexes untersucht, das er zur Kategorie der "Impfgegnerschaft" verdichtet.
Schon diese Form des "Othering" ist hochgradig problematisch, erzeugt es doch in unseren Köpfen, wie die Philosophin Svenja Flaßpöhler jüngst nochmals auf den Punkt brachte, "ein unterschiedsloses Kollektiv an Dummköpfen, die gegen jede Vernunft handeln", während jene, die selbst psychologisieren, samt ihrer eigenen Interessen, Motive oder Komplexe, "unsichtbar" bleiben und ihre Kritik so rationalisieren.
Psychologie der Verschwörungsmentalität
Bleiben wir noch bei der vermeintlich zu kurz gekommenen Psychologisierung – die genau genommen eine Psycho-Pathologisierung darstellt. Mit Eisenberg könnte man nun anführen, dass die exemplarisch angeführte Psychologisierung der Impfgegner nur an der Oberfläche kratzt und insofern vor allem verhaltenspsychologische Dimensionen (des Umgangs mit diesem fiktiven Kollektiv) betrifft.
Wäre es dennoch zutreffend, wie Eisenberg versucht plausibel zu machen, dass wenigstens die tiefenpsychologischen (und psychoanalytischen) Deutungen im Diskurs um Maßnahmen- und Impfkritik bislang zu kurz kamen? Auch das trifft so nicht zu. Dazu genügt ein Blick in die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 oder die Thesen zu den sogenannten "regressiven Rebellen", die auch bei der soziologischen Beobachtung der Corona-Proteste zur Anwendung kamen.
Seit der Etablierung der Verschwörungstheorie-Forschung in der Nachkriegszeit, die vor allem durch die Kritische Theorie und Studien zum "autoritären Charakter" (Adorno), aber auch durch den einflussreichen Aufsatz zum sogenannten "Paranoid Style" (Hofstadter) geprägt war, werden Verschwörungstheorien immer wieder vornehmlich sozialpsychologisch analysiert.
Das Konstrukt der "Verschwörungsmentalität" steht dafür stellvertretend. Merkmale dieser Mentalität seien nach dem Sozialpsychologen Oliver Decker u. a. ein "autoritäres Syndrom" sowie der Mechanismus der "Projektivität".1 Auf die Spur komme man der Verschwörungsmentalität über Fragebögen durch Zustimmung zu Aussagen wie:
Ich kann mir vorstellen, dass die Pandemie von Eliten benutzt wird, um die Interessen von Reichen und Mächtigen durchzusetzen.
Vorstellungen wie diese waren und sind bei weltweiten Corona-Protesten vielfach verbreitet und oftmals mit Impfskepsis oder -ablehnung und in der Regel auch mit politischen Einstellungen und Feindbildern untrennbar verbunden. Ein bekanntes Beispiel ist das Anfang Mai 2020 viral gegangene und von Youtube später gelöschte Video "Gates kapert Deutschland" von Ken Jebsen (KenFM). In diesem 30-Minuten-Clip verbindet sich (Eliten-)Kritik an der Bill & Melinda Gates-Stiftung mit Aussagen, in denen die zu diesem Zeitpunkt noch anlaufende globale Impfkampagne kritisiert wird.
Der Videoclip lässt vielfach paranoide Züge in der Kommunikation des KenFM-Machers erkennen. Eisenberg schreibt, dass eine psychologische Funktion von Verschwörungstheorien sei, Wut zum Ausdruck zu bringen. "Die gesellschaftliche Funktion", schreibt er weiter, "besteht darin, dass die wahren Verursacher der Misere geschont werden und die aggressiven Energien auf Ersatzobjekte verschoben werden."
Es werde "massenhaft gerufen: Haltet den Dieb! - und der wahre Dieb kann entkommen." Hier thematisiert der Autor wesentliche Merkmale und Funktionen von Verschwörungstheorien - es sind jedoch nicht die einzigen und, viel wichtiger: sie treffen nicht allein auf Verschwörungstheorien zu.
Gerade der Diskurs um die Corona-Impfungen bzw. die aktuelle gesellschaftspolitische Debatte um Ungeimpfte zeigt, wie komplex und dynamisch-eskalatorisch paranoide Kommunikation zwischen jenen, die Angst vor Verschwörungen und jenen, die Angst vor Viren haben, verläuft. Nicht nur die Angst, dass "Bill Gates uns beim Impfen einen Chip einpflanzt", auch die Angst, dass jene, die den "kleinen Piks" ablehnen, gefährliche und unsichtbare (asymptomatische) Virenschleudern sind, weist paranoide Züge auf.
Was aber machen wir mit Eisenbergs, teils stimmigen, Beobachtungen über Verschwörungstheorien, wenn die psychosozialen Merkmale – z.B. Projektivität und autoritäres Verhalten – gerade auch auf jene zutreffen, die Verschwörungstheorien wie Viren erbittert bekämpfen und ausrotten wollen?
Angst als kommunikatives Phänomen
Der Punkt, der hier gemacht wird, ist, dass das "paranoiden Geraune" oder die Unfähigkeit "[mit] Ambivalenzen leben zu können", die nach Eisenberg zu der dualistischen Ansicht verleiten, "Irgendjemand steckt dahinter!" in der Pandemie kein Alleinstellungsmerkmal der Verschwörungstheoretiker oder Impfgegner sind.
Im Gegenteil: es sind gerade auch hartgesottene Impf-Apologeten in Politik, Medien und Wissenschaft, die mit rhetorischen Figuren wie einer vermeintlichen "Pandemie" oder "Tyrannei der Ungeimpften" Feindbilder reproduzieren. Damit einher geht die emotionale Übertragung von Angst, Wut bis hin zu Hass auf die entsprechende (fiktive) Gruppe der Impfgegner.
Das bringt uns zu der Einsicht, dass Angst ein weitaus komplexeres und dynamischeres kommunikatives Phänomen ist, als es Konstrukte wie "Verschwörungsmentalität" suggerieren und erfassen können. Der Soziologe Barry Glassner schrieb bereits 1999, "dass viele Ängste konstruiert werden, um vor anderen Ängsten zu schützen und auch vor Angst als solcher."2 Eisenberg versucht das für Chip-Implantat-Verschwörungstheorien sichtbar zu machen, wenn er mutmaßt, dass auch diese "eine Spur von Wahrheit" beinhalten würden, "nämlich die, dass wir alle mehr oder weniger fremdbestimmt leben und von anderen gesteuert werden."
An dieser Stelle unterlässt er es aber, den Hygienismus im Zusammenhang mit Kontrollwahn oder -zwang als weitere Verobjektivierung der kollektiven Angst- oder Ohnmachtserfahrung gegenüber dem grassierenden "unsichtbaren Feind" auf die Virusangst zu übertragen. Ist nicht die Virusangst das Komplement zur Verschwörungsangst?
Und "deponieren" wir nicht, wie Eisenberg selbst schreibt, in den Forderungen nach drastischeren Hygienemaßnahmen oder der Schuldzuweisung an die Impfgegner unsere "archaischen (Ab-)Spaltungen" in Viren bzw. ihre menschlichen Überträger als "böse Objekte"?
Und zuletzt: Dient nicht die aktuelle mediale Kampagne gegen Ungeimpfte, der Eisenberg mit seiner Psychologisierung indirekt Vorschub leistet, als Ablenkung von den, wie er selbst schreibt, "wahren Verursachern der Misere" (politisches Versagen, kapitalistische Ausbeutung im Medizin- und Pflegebereich) und der Verschiebung von "aggressiven Energien auf Ersatzobjekte" (Ungeimpfte)?
Angst als kommunikatives und soziales Phänomen zu begreifen, bedeutet auch zu sehen, wie sich Angst(-kommunikation) nicht nur intrapsychisch entwickelt, sondern vor allem auch, wie sie sich interaktiv zwischen Gruppen entfaltet und entsprechende Eskalations- oder Gewalt-Dynamiken entfesselt. Konkret könnte das für die Corona-Pandemie bedeuten, zu untersuchen, welche Angst-Diskurse in welchen Medien sich genealogisch wie entwickelten, welche (tieferen/latenten) Ängste mit ihnen verknüpft sein könnten und welche gesellschaftlichen Folgen ihre Kommunikation zeitigt.
"Gates kapert Deutschland"
In dem über drei Millionen mal geklickten Videoclip "Gates kapert Deutschland" stellt der erwähnte Medienmacher Ken Jebsen verschiedene Behauptungen auf. Unter anderem sagt er, dass die WHO von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) beherrscht würde, diese auch die Bundesregierung korrumpiert hätte und eine Impfpflicht vorbereiten würde, in der Menschen global mit einer Gesundheits-ID ausgestattet werden sollten, was zu einer totalen Überwachung führen würde. Das Video ist beispielhaft für die Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie ihre "infodemische" Bekämpfung durch Faktenchecks aus Angst vor ihrer (gesundheits-)schädigenden Wirkung.
Die Kritik an Bill Gates und seiner Stiftung wie auch andere Punkte in dem betreffenden Video ist hochgradig überspitzt, mit Fakten nimmt es der YouTuber nicht so genau. Die behauptete Zahl von 80 Prozent Spendenanteil der BMGF an der WHO ist unhaltbar, ebenso wie die Aussage, Gates und seine (Ex-)Ehefrau bestimmten den Corona-Kurs in Deutschland. Dennoch verweist diese Kritik auf blinde Flecken und Verwerfungen im Corona-Diskurs. So hat seit dem Frühjahr 2020 die kritische Berichterstattung über die "disruptiven" Praktiken der BMGF nahezu komplett ausgesetzt.
Während Faktenchecks vom WDR oder Focus behaupten, dass an dem KenFM-Video wesentliches oder gar "alles falsch" ist, kann man mit etwas Abstand auch zu einer anderen Einschätzung kommen.
Vor allem bei dem Punkt über die drohende "Impfpflicht durch die Hintertür", der vom Focus im Mai 2020 als "nicht den Tatsachen entsprechend" abgetan wurde. Über eineinhalb Jahre später ist diese De-facto-Impfpflicht Realität und sogar die offizielle "Impfpflicht durch die Vordertür" scheint derzeit nicht mehr ausgeschlossen.
Verschwörungstheorien haben nicht nur die Funktion, Emotionen zu kanalisieren oder Feindbilder zu reproduzieren, wie Eisenberg berechtigterweise schreibt. Sie können auch appellativ gelesen werden: als Hinweisgeber auf Probleme oder drohende Entwicklungen in der Zukunft. Die Angst, die sich in ihnen ausdrückt, ist insofern nicht notwendig regressiv, sie kann auch progressiv sein, wenn Verschwörungstheorien "ernst (…), aber nicht wörtlich"3 genommen werden.
Ohne Verschwörungstheorien gäbe es keine Erkenntnisfortschritte in Kriminalfällen wie dem Attentat auf John F. Kennedy, die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder den NSU-Komplex. Verschwörungstheorien können aber auch Desinformation oder Ideologien transportieren und in diesem Sinne sowohl Ursache wie Ausdruck von Besorgnis oder Ängsten sein. Angst wird unbewusst kommuniziert oder gezielt eingesetzt.
Angst als Schockstrategie
In der Pandemiepolitik und ihrer massenmedialen Verarbeitung waren sowohl Angstkommunikation durch Verschwörungstheorien und vor "Verschwörungstheorien" als auch gezielte Schock-Strategien ein ganz manifester Bestandteil, der sowohl das gesellschaftliche Klima wie ganz offenbar auch politische und medizinische Einstellungen und Entscheidungen (Impfskepsis bzw. Verschwörungsangst versus Impfapologie bzw. Virusangst) vieler Menschen beeinflusste.
Beispiele für solche Angst-Methoden bieten nicht nur Verschwörungstheorien über Bill Gates und Mikrochips. Auch offizielle politische Kommunikation nutzt diese in der Corona-Krise. So etwa das sogenannte "Panik-Papier" des deutschen Innenministeriums vom März 2020, in dem die Urangst vor dem Erstickungstod als wichtiges PR-Instrument empfohlen wurde oder die gezielte Angstmache der Bevölkerung, die im gleichen Zeitraum in der österreichischen Corona-Taskforce besprochen wurde.
Wie perfide Angst in der Pandemie politisch instrumentalisiert wurde, zeigt auch ein Bericht vom Mai 2021 im Telegraph. Darin kommt eine Reihe von wissenschaftlichen Mitgliedern zu Wort, die die britische Regierung im Frühjahr 2020 zu Fragen der Verhaltensbeeinflussung der Bevölkerung beraten hatte. Ein Insider des Beratungsgremiums berichtet rückblickend:
Im März (2020) war die Regierung sehr besorgt über die Folgebereitschaft in der Bevölkerung und sie dachten, die Bevölkerung wollte nicht (im Lockdown) eingesperrt werden. Es gab Diskussionen dazu, dass Angst benötigt werde um Zustimmung zu erzeugen. Und es wurden Entscheidungen darüber getroffen, wie die Angst gesteigert werden könnte. Die Art und Weise, wie wir Angst genutzt haben, ist dystopisch.
Weitere Mitglieder des Beratungsgremiums berichteten nachträglich gegenüber der Publizistin Laura Dodsworth, dass ihre Methoden der Angsterzeugung eine Art mind control und zutiefst "totalitär" gewesen seien. "Der Gebrauch von Angst war definitiv ethisch fragwürdig", heißt es von einer anderen beteiligten Person, die ebenfalls anonym bleibt: "Es war wie ein verrücktes Experiment. Letztlich ist es nach hinten losgegangen, weil die Menschen zu ängstlich wurden."
Paranoide Vernunft
Angst kann aber auch rational sein - nicht nur Virusangst, sondern auch Verschwörungsängste. In dem Sammelband Paranoia Within Reason. A Casebook on Conspiracy as Explanation von 1999 kommt der US-amerikanische Anthropologe George Marcus zu dem Schluss, dass paranoide Einstellungen in speziellen Kontexten Bestandteil der Vernunft bzw. sogar überlebenswichtig sind.
Paranoia wird dabei nicht klinisch-pathologisch verstanden, sondern als eine bestimmte Art von misstrauischer Subjektposition. Man könnte diese Einstellung auch "situational awareness" nennen, also einen Zustand der gesteigerten Wachsamkeit, in dem die Eindrücke der Umwelt aus pragmatischen Gründen genau und kritisch geprüft und möglichst lückenlos beobachtet werden.4
Im Schachspiel ist ein solches paranoides Setting strukturgebend, insofern nur diejenigen "überleben" (gewinnen), die möglichst misstrauisch sind - und das bedeutet hier: Entwicklungen, Pläne, Schachzüge des Gegners antizipieren, um nach Möglichkeit kontern zu können und gleichsam die eigenen Intentionen möglichst verbergen. Nur wer ein solches Verhalten kultiviert, die möglichen Täuschungsmanöver des Gegenübers antizipiert, kann in diesem Spiel bestehen.
In Kontexten, die von Unsicherheit, Krisen oder gar Krieg geprägt sind, meint Marcus, ist die paranoide Vernunft jedenfalls subjektbildend und insofern den Umständen angepasst und angemessen. Als Beispiel nennt er die Kultur des Kalten Krieges, vorwiegend in bestimmten Sicherheitsbereichen oder in Staaten, die durch imperiale Praktiken wie Interventionen oder Regime Changes geprägt waren. Die Post-9/11-Jahre haben diese Politik im War on Terror globalisiert. Die in dieser Zeit in bestimmten Bereichen sozialisierten Personen bildeten ein entsprechendes mindset aus5, das sie in Kontexten der Sicherheit überlebensfähig machte.
Während die Angst im Schach sich auf den Spielrahmen begrenzt, erfasst sie in Situationen existenzieller Unsicherheit die gesamte Persönlichkeit und prägt ihr Verhalten. Was in der erwähnten Forschung über Verschwörungstheorien oftmals als "Verschwörungsmentalität" konstruiert (und delegitimiert) wird, ist allgemeiner gesprochen eine paranoide Subjektposition6, die sich aus bestimmten Erfahrungen und Wissenshorizonten formt oder, um mit Michel Foucault zu sprechen, durch sie diszipliniert wird. Auch hierbei wird die Welt, in "gut" und "böse" bzw. Freund und Feind eingeteilt, wie Eisenberg zu Recht konstatiert - aber primär deshalb, weil diese "situational awareness" als zielführend bis überlebensnotwendig wahrgenommen wird.
"Wir sind im Krieg!"
In der Krisenkommunikation der Corona-Pandemie wurde ein solches paranoides Rahmenwerk ebenfalls geschaffen. Die Militarisierung des Gesundheitswesens (die sogenannte "Biosicherheit") spiegelte sich nicht nur durch die Berufung eines Bundeswehr-Generals an die Abteilung Gesundheitsschutz im Bundesgesundheitsministerium zu Beginn der Pandemie. Bundeswehrsoldaten in Uniform unterstützten Impfteams in Pflegeeinrichtungen, Impfzentren werden "Stützpunkte" genannt, ältere Menschen fühlten sich an den "Krieg" erinnert.
"Wir sind im Krieg", ließ auch der französische Staatspräsident im März 2020 verkünden und verhängte drakonische Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung. Auch Donald Trump und sein Nachfolger im Weißen Haus, Joe Biden, traten immer wieder martialisch im "Kampf" und "Krieg" gegen das Virus auf.
Der deutsche Bundesgesundheitsminister sprach vom "Impfen als patriotischer Akt", während auch in Österreich das Militär elementarer Teil der Pandemiebekämpfung wurde. Eine Studie aus dem Bereich der Friedenspsychologie zeigt die Verbindung von Militärjargon und Virusbekämpfung seit Beginn der Pandemie für verschiedene Industrienationen weltweit.
Der Sprachwissenschaftler Dennis Kaltwasser macht darauf aufmerksam, dass auch Begriffe wie "Impfverweigerer" an die militärische Terminologie angelehnt sind: "Wenn nun die Redeweise des 'Impfverweigerers' normalisiert wird - und das ist längst der Fall - wird auch der mitgedachte vorangegangene Befehl, sich impfen zu lassen, normalisiert." (Hervorhebung A.S.)
Als Vorzeigebeispiel für eine erfolgreiche Impfkampagne galt lange Zeit Portugal aufgrund hoher Impfquote und niedriger Inzidenz. Das scheint sich zwar gerade zu ändern, dennoch bleibt die Corona-Politik straff organisiert. "Jede Person besitzt eine sogenannte Gesundheits-ID, auf deren Daten die Behörden Zugriff haben", schreibt dazu die taz.
Aber nicht nur die Zentralisierung und Überwachung der Gesundheitsdaten, auch die Verbindung von medizinischer und militärischer Pandemiebekämpfung charakterisieren die portugiesische Corona-Politik. Ihr Erfolg wird vor allem der Personalie Henrique de Gouveia e Melo, dem Vizeadmiral der Marine zugeschrieben. Im Februar 2021 übernahm er die Taskforce zur Impfung. "Wir Portugiesen", sagt e Melo, "haben ein Gefühl der Gemeinschaft, wenn wir angegriffen werden. Wir sind von einem Virus angegriffen worden, das unser Leben zerstört hat, und wir reagieren auf die beste Art und Weise: vereint, um diese Pandemie gemeinsam zu besiegen."7
In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass die "Zivilgesellschaft in Portugal eher schwach entwickelt ist. Genau dieser Umstand", schreiben die taz-Autoren in Referenz auf einen portugiesischen Sozialwissenschaftler, habe der "Regierung in Sachen Covid-Impfung in die Hände gespielt. So seien Anti-Impf-Bewegungen oder Verschwörungsmythen weitestgehend irrelevant gewesen."
Wahrheiten und unterdrückte Ängste
Im Krieg stirbt die Wahrheit bekanntlich zuerst. Wenn aber die Corona-Pandemie wie ein Krieg geführt und dementsprechend medial inszeniert wird, dann liegt es nahe, dass es in einer demokratischen und liberalen (Zivil-)Gesellschaft abweichende und misstrauische Meinungen und Interessen gibt. Diese werden von offiziellen Einrichtungen regelmäßig als "Desinformation", "Fake News" oder eben "Verschwörungstheorien" bezeichnet.
Die Virusangst, als Angst vor dem mikrobiellen Agens, ist in der Pandemie die politisch legitimierte und massenmedial fokussierte Angst, während die Verschwörungsängste marginalisiert oder als irrational deklariert werden. Fredric Jameson nannte Verschwörungstheorien einst "a poor person's cognitive mapping" und meinte das eher abschätzig.8
Man könnte dies auch anders deuten: Im Weltkapitalismus ist das verschwörungstheoretische Verbinden von Knotenpunkten der Macht gleichsam eine "gegenkulturelle Taktik".9 Die Verschwörungsangst ist Ausdruck von Ängsten vor zunehmender Überwachung und Versicherheitlichung durch Digitalisierung oder Umverteilung von Reichtum (Hightech-kapitalistische Refeudalisierung10). Das Unterbinden der verschwörungstheoretischen Praxis, im Verbund mit anderen, mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, schafft im pandemischen Ausnahmezustand paradoxerweise das perfekte Milieu für die Entwicklung von (neuen) Verschwörungstheorien sowie ihrer Radikalisierung.
Neben Virus- und Verschwörungsangst zirkulieren in der Corona-Pandemie noch weitere Ängste. Meist bleiben dieses massenmedial unterrepräsentiert. Für Österreich ergab eine repräsentative Umfrage, die im Februar 2021 abgeschlossen wurde, folgende Befürchtungen in der Pandemie:
- Erkrankung eines Angehörigen (68,2 Prozent)
- Wirtschaftliche Schäden durch Maßnahmen (46,3 Prozent)
- Einschränkung der Meinungsfreiheit oder der Grundrechte (45,0 Prozent) sowie
- An Corona selbst zu sterben (15,2 Prozent)
Wie stark jeweiligen Ängste durch Medienverhalten geprägt sind, zeigt sich etwa daran, dass es eine signifikante Korrelation zwischen erhöhten Ängsten vor Einschränkungen von Grundrechten und Meinungsfreiheit und Konsum privater sowie zwischen der Virus-Angst und öffentlich-rechtlichem Medienkonsum gibt.11 Dass sich in digitalen und sogenannten Alternativmedien "Misstrauensgemeinschaften"12 bilden, die schließlich auch die Corona-Protestkultur und Impfgegnerschaft befördern, während klassische Leitmedien "regierungstreu" das Virus- und Krisen-Narrativ reproduzieren, zeigen andere Studien.
Viren und Verschwörungstheorien
Die Virusangst ist in der Sars-CoV-2-Krise die vorherrschende Angst. Sie ist für die paranoide Subjektposition in der Pandemie sinn- und strukturgebend. Gleichzeitig werden in der Pandemie Verschwörungstheorien bekämpft wie Viren. Denn das Virus ist, wie der Psychoneuroimmunologe Christian Schubert sagt, längst zum kollektiven Symbol geworden - ebenso wie die Maske oder die Impfung.
Und so definiert in der dritten und vierten Welle nicht nur das Virus die Verschwörungstheorie, sondern auch die Verschwörungstheorie das Virus. Mit den Worten des Spiegel-Kolumnisten Christian Stöcker:
Die vierte Welle ist politisch. Die vierte Coronawelle trifft Deutschland mit Wucht. Maßgeblich mitschuldig sind die Ungeimpften.
War die Gefahr, der beängstigende "Feind", zu Beginn der Pandemie noch eindeutig ein (unsichtbares) mikrobielles Agens, so ist es heute immer mehr sein humaner Träger, der Wirt. Der zu bekämpfende Feind ist medial manifest geworden in klischeehaften Abbildungen von Menschen mit Aluhut und Demonstrierenden mit Transparenten gegen die "Corona-Diktatur" – Querdenker und jene, denen Kontaktschuld zu ihnen nachgesagt wird, weil sie "gefährliche" Aussagen tätigen, wie die Akteure von #allesdichtmachten oder #allesaufdentisch, der Fußballer Joshua Kimmich oder zuletzt der Philosoph Richard David Precht müssen in dieser Logik bekämpft werden wie tödliche Viren.
Das "Infodemic Management" sieht vor, solchen Stimmen keinen öffentlichen Raum zu bieten. Im Zweifelsfall sind sie zu ächten: "Dr. Wirrkopf" wurde Precht im Spiegel genannt, weil er die Impfung für Kinder infrage stellte. "Weil viele Menschen ihn für klug halten", so der Spiegel-Journalist in Reaktion auf einen Podcast des Philosophen, "ist das eine Gefahr."
Begriffe wie "Todesengel" oder "Volksfeinde" für Ungeimpfte eskalieren diese kommunikative Gewaltspirale weiter und treiben die so Bezeichneten in eine politische Enge, befördern selbst jene Radikalisierung der Querdenker, die sie befürchten.
Eine ähnliche Dynamik ließ sich nach 9/11 und der Anthrax-Terror-Panik beobachten. Der Historiker Philipp Sarasin meint, "dass der 'Bioterror'-Diskurs, wie er sich zwischen dem 11. September 2001 und dem Irak-Krieg im März und April 2003 entwickelte, deshalb so gut funktionierte, weil er nicht auf empirische Belege angewiesen war. Gerade weil er bedrohliche Möglichkeiten beschwor, die umso angsteinflößender waren, je weniger sie sich überprüfen ließen, konnte dieser Diskurs sich so ungehindert entfalten. Es ging nicht um Fakten, sondern um äußerst wirkungsvolle Verbindungen von bestimmten Signifikanten."13
In einer solchen Situation sollte weniger in tiefenpsychologischen Ferndiagnosen darüber spekuliert werden, ob die Angst vor dem Implantat möglicherweise aus einem frühkindlichen Komplex herrührt, sondern vielmehr, welche aktuellen Umstände diesen triggern und existenzielle Ängste auslösen, die Menschen zu affektivem Denken und irrationalem bis gewalttätigem Handeln verleiten.
Nicht Verschwörungsängste stehen unbedingt am Anfang gesellschaftlicher Angstdynamiken und Irrationalismen - und nicht jedes Verschwörungsdenken ist unbegründet. Vielmehr lässt sich am Beispiel der Corona-Pandemie genealogisch aufzeigen, wie bestimmte Meinungen, Aussagen oder Einstellungen von Beginn an gezielt als Verschwörungstheorie markiert und stigmatisiert wurden.14 Wer "in Kontakt" mit ihnen kam, galt als sozial kontaminiert, als Paria. Einige dieser Verschwörungstheorien (wie etwa die Killervirus-Hypothese oder die Labor-Theorie) änderten dann jedoch innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten ihren Anerkennungsstatus und wurden zum legitimen oder Common-Sense-Wissen.15
In der Corona-Krise haben also nicht nur Populisten auf der Straße oder im Netz Ängste "für ihre Zwecke dienstbar gemacht", wie Eisenberg meint. Der "Verbotspopulismus", das nahezu durchgängige "Regieren durch Angst", seitens der Medien, Politik und offizieller Behörden und die Angst-Übertragung von Viren auf Verschwörungstheorien bzw. Verschwörungstheoretiker und Querdenker hat ihren Teil dazu beigetragen, Furcht und Hass gesellschaftsfähig zu machen.
Neben der Angst vor dem Virus ist heute die Verschwörungsangst definitiv ein wesentlicher Bestandteil der kollektiven Neurose. Nur schwer ist dabei jeweils zu klären, ob diese in der Angst vor bösartigen Verschwörungen, gefährlichen Verschwörungstheorien oder beidem zugleich besteht.