Verschwörungstheorien und die Arroganz der Macht

Libertäre Ideologie, Teil 6: Der Widerstand organisiert sich

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der technischen Entwicklung des Internet spielten Standardisierungskomitees wie die IETF, die Internet Engineering Task Force, eine wichtige Rolle. Sie war von Anfang an eine "informelle Organisation ohne rechtlichen Status." (Vgl.The Party is Over) Das Gremium setzte - anders als Regierungen - Standards, die freiwillig eingehalten wurden. Ihre Autorität war informeller Natur und gründete auf dem Ruf der Organisation, auf den Fähigkeiten der Mitglieder sowie auf der Offenheit der Entscheidungsvorgänge.

Die Guardian angels forderten 1995 von der Politik Schutz vor Pornographie und gerieten an den Richtigen

Rough Consensus und Running Code

Am Valentinstag 1969 trafen sich zum ersten Mal Mitglieder der Firma BBN, der NWG (Network Working Group) und der NAC (Network Analysis Corporation). Aus diesem Treffen entstand eine Reihe formloser Papiere, die Request For Comments (RFC) genannt wurden. Die Arbeit der Network Working Groups wurde über solche RFCs - die überall und von jedermann hergestellt werden konnten - dokumentiert. Dave Crocker, ehemaliger Area Director der IETF, schreibt über ihre Entstehung:

Die grundlegenden Richtlinien waren, dass jedermann alles sagen konnte und dass nichts amtlich war. Und den Punkt hervorzuheben, nannte ich die Papiere "Request for Comments.

RFC3 lud jeden, der Willens war, sich bei der Protokolldefinition nützlich zu machen, ein, dies einfach zu tun. Inhalt eines RFC konnte alles sein, was mit dem Netz zu tun hatte. Philosophische Positionen, konkrete Vorschläge, Implementationstechniken oder einfach nur Fragen - alles war erlaubt. Auf Schnelligkeit wurde größerer Wert gelegt, als auf die Form. Da Sanktionsmittel fehlten, musste die Organisation Entscheidungen per Konsens herbeiführen. Die Teilnehmer diskutierten so lange, bis sich ein "grober Konsens" ("rough consensus") ergab." Über die vorgebrachten Ideen sollte nicht durch eine Abstimmung entschieden werden, sondern durch "running code" - durch einen selbstorganisatorischen Prozess, bei dem nach RFC2026 mehrere unabhängige und funktionierende Installationen Voraussetzung sind. Der IETF Area Director Rob Coltun meinte zu diesem Modell:

[...] offen gesagt, Demokratie erzeugt nicht notwendigerweise die besten Ergebnisse [...] Eine weitaus bessere Herangehensweise ist es, die technischen Anträge im Detail erledigt zu bekommen und herauszufinden, was funktioniert.

Und so lautete das Glaubensbekenntnis der IETF, das Dave Clark, einer der "Väter" des Netzes formulierte: "Wir lehnen Präsidenten, Könige und Wahlen ab - wir glauben an rough consensus und running code."1

Das Internet entstand jedoch nicht allein aus dem staatlichem ARPANET/NSFNET und dem studentischen USENET, sondern auch aus vielen privaten Mailboxen, die sich vor allem in Amerika ausbreiteten.2 Das offene Protokoll Xmodem machte seit Ende der 1970er in den USA die Verbreitung von Mailboxen möglich. Mit die bedeutendsten dieser Mailboxen waren die des FidoNet, einem Netzwerk, das von Tom Jennings gegründet wurde - einem Homosexuellen-Aktivisten und Anarchisten, der sich vehement für Redefreiheit einsetzte. Aus der Kombination von freier Rede und einem Kommunikationsmodell, das potenziell jeden zum Empfänger und Sender von Nachrichten machte, entwickelte sich, so Howard Rheingold, eine neue Form sozialer Organisation:

Wenn eine Mailbox keine demokratisierende Technologie ist, dann gibt es so etwas überhaupt nicht. Für weniger als den Preis eines Gewehrs macht eine Mailbox einen gewöhnlichen Menschen überall auf der Welt zu einem Verleger, einem Vor-Ort-Reporter, einem Anwalt, einem Veranstalter, einem Schüler oder Lehrer und einem potentiellen Teilnehmer in einer weltweiten Konversation von Bürger zu Bürger

meinte er euphorisch über die Auswirkungen dieser Technologie - und vergaß dabei, dass z.B. in Westdeutschland die Post dieses Werkzeug verbieten konnte.

Auf diese Idylle aus freier Kommunikation unter Gleichen stürzte 1990 ein bürokratischer Tsunami3 herab. Der Zusammenbruch des Ferngesprächssystems von AT&T am 15. Januar 1990 war der Auslöser einer staatlichen Hacker-Hysterie. Dabei gingen die an der Operation Sundevil beteiligten Behörden derart wahllos vor, dass sogar Rick Andrews, Systemverwalter bei Jolnet, der AT&T (und damit die Behörden) auf die Aktivitäten von Datenreisenden aufmerksam gemacht hatte, Opfer der staatlichen Überreaktion wurde: Der US Secret Service beschlagnahmte seine komplette Computerausstattung als Beweismaterial, obwohl keine Anklage gegen ihn selbst vorlag oder geplant war. Am 8. Mai 1990 erreichte die Flutwelle über die Suche nach einem kleinen Stück Quellcode der Apple-Software Color QuickDraw, das von einer "New Prometheus League" u.a. über Mailboxen verbreitet worden war, Pinedale, Wyoming, wo unangemeldet ein Special Agent Richard Baxter, Jr. vom FBI bei John Perry Barlow erschien.4

Der Bart- und Cowboystiefelträger Barlow war in den 1960er Jahren Organisator für die Students for a Democratic Society (SDS). Für die Grateful Dead schrieb er seit 1970 unter anderem die Texte der Stücke Hell in a Bucket, Picasso Moon und I Need a Miracle. Zu dieser Zeit verkehrte er eng mit Timothy Leary, erkundete die innere Frontier mittels Halluzinogenen und bereiste Indien.5 Auf seine Visitenkarte schrieb er als Berufsbezeichnung "cognitive dissident." Nach dem Tod seines Vaters übernahm er die elterliche Ranch mit 1000 Mutterkühen und 7000 Morgen Land. Zwei Generationen von Barlows waren Volksvertreter im Senat von Wyoming. Auch Barlow stellte sich 1987 als Kandidat der Republikanischen Partei zur Wahl, unterlag aber knapp.6 Obwohl Republikaner, stand Barlow sowohl den Reagan/Bush- Administrationen als auch der christlichen Rechten mehr als ablehnend gegenüber. Er warf ihnen Einmischung in das Privatleben vor, ihre Vorstellungen parodierte er in einer Bill O ŽRights Lite, die eine zwar alle zehn Paragrafen enthaltende, aber durch Ausnahmen völlig verstümmelte Liste dieser Schutzrechte vor dem Staat ist. Einer der Gründe, warum Barlow der Regierung und speziell den Regierungsbehörden misstraute, lag für ihn in den Fragebögen für die Einstellung von Regierungsangestellten, die Fragen nach Drogenkonsum enthielten. Diese waren für Barlow der Grund, dass die Exekutive von völlig weltfremden Leuten besetzt war und der einfache Bürger deshalb allen Grund hatte, ihr zu misstrauen.7

Doch zurück zur Operation Sundevil: Barlow war eines von zahlreichen ahnungslosen Mitgliedern von Online-Communities, bei dem Ermittlungen durchgeführt wurden. Er lernte schnell, dass die mit der Untersuchung befassten Staatsorgane alles andere als die für eine angemessene Durchführung ihrer Aufgabe notwendigen Kenntnisse aufwiesen. Special Agent Baxter zeichnete sich u.a. dadurch aus, dass er statt "New Prometheus League" beständig von der "New Prosthesis League" sprach und zugab: "Meine achtjährige Tochter weiß mehr von diesen Dingen als ich."8 Laut Barlow konnte Baxter "Quellcode" nicht von "Dienstag" unterscheiden und erwies sich zudem als unfähig zum Verstehen des Konzepts virtueller Realität. Die Untersuchung selbst beschrieb Barlow als "Despotismus, abgemildert durch Inkompetenz" und verglich sie mit der Beschlagnahme eines Hauses durch die Regierung, "weil ein Gast einen gestohlenen Videorecorder im Gästezimmerschrank liegen ließ."9 Die Regierungsmaßnahmen der Operation Sundevil führten bei ihm zur Wiederbelebung eines Antietatismus, der seine Wurzeln in seiner Jugend hatte:

[...] als ich mehr und mehr über die abscheulichen Ungerechtigkeiten hörte, [...] schlitterte mein Ich zurück in eine Wahrnehmung der Regierung, wie ich sie in den 1960er Jahren hatte - ich dachte sie mir als einen Gegenstand von monolithischer und böser Effizienz [...]."

Doch nicht nur Barlow wurde im Frühjahr 1990 Opfer der staatlichen Hacker-Hysterie. Bereits am frühen Morgen des 1. März 1990 war der US-Geheindienst beim Rollenspielhersteller Steve Jackson Games erschienen. An diesem Tag erhielten Kunden auf der Firmenmailbox "Illuminati" folgende Nachricht:

Bis jetzt haben wir keine klare Erklärung erhalten, was der Geheimdienst suchte, was er erwartete zu finden, oder sonst irgendetwas. Wir sind ziemlich sicher, dass Steve Jackson Games nicht das Ziel ist - welche Untersuchung auch immer durchgeführt wird; in jedem Fall haben wir nichts Ungesetzliches getan und nichts zu verbergen. Jedoch wird die Ausrüstung, die mitgenommen wurde, anscheinend als Beweismittel - für welchen Fall auch immer - angesehen, so dass es uns nicht wahrscheinlich scheint, sie bald zurückzubekommen. Es könnte in einem Monat sein, es könnte aber auch niemals sein.

Während des Gerichtsprozesses kam ans Licht, dass der US Secret Service sich vor der Durchsuchung weder ausreichend über die Firma informiert hatte, noch auf Rückgabeforderungen der beschlagnahmten Geräte und Daten angemessen reagierte. Am 12. März 1993 wurde der Geheimdienst deshalb zu 42.259 $ Schadensersatz verurteilt.10

Wie sich später herausstellte, ging es um ein Rollenspiel namens "GURPS Cyberpunk." Steve Jackson wurde Opfer von Durchsuchung und Beschlagnahme, weil er ein Rollenspiel verkaufte, das auf einem Hacker-Szenario basierte. Der Umschlag beschrieb das Spiel als "eine Verbindung der dystopischen Visionen von George Orwell und Timothy Leary." "Eigentlich eine Zukunft, die ähnlich ist wie die Gegenwart, die der Verleger des Spiels in den Händen des Geheimdienstes erlebt"11 kommentierte Barlow das Spiel.

Verschwörungstheorien

Mit Maßnahmen wie den Steve Jackson Raids züchtete sich die US-Regierung Verschwörungstheorien geradezu heran. Der plötzliche Einbruch der Realität machte aus dem Spiel mit den Verschwörungstheorien für viele Ernst mit der Regierungsverschwörung. Schließlich bot die Verschwörung, wie Barlow beschreibt, eine Lösung für die Geschehnisse an:

Es liegt trotz allem eine seltsame Bequemlichkeit in politischer Paranoia. Es befriedigt den Sinn für Ordnung, zu denken, dass die Regierung weder verrückt noch dumm ist und dass ihre Komplotte, obwohl gemein, verständlich sind.

Oder, wie Frederic Jameson es ausdrückte: die Verschwörungstheorie ist "das Cognitive Mapping des armen Mannes in der Postmoderne."12

Häufig öffnete die Grauzone zwischen bürokratischer Ineffizienz und Geheimnistuerei auf staatlicher Seite den Raum für Verschwörungstheorien. Finanzielle Kürzungen und Kontrollmaßnahmen in den 1980er und 1990er Jahren verschlimmerten die Ineffizienz amerikanischer Bürokratien noch mehr und der Unwille gegen diese wuchs weiter. Ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Die IRS Abuse Reports etwa warfen der Steuerbehörde vor, dass sie willentlich veraltete Adressen der Steuerzahler benutze.13 Ein dem Telepolis-Leser vertrauteres Beispiel dieses Effekts dürfte die vom FBI eingesetzte Carnivore-Box sein - ein kleiner versiegelter Kasten, den das FBI bei Internetprovidern am Netzwerk installierte, um - nach eigenen Angaben - den Email-Verkehr von verdächtigen Personen - und zwar nur von solchen - zu kontrollieren. Carnivore sollte nach Auskunft des FBI nichts anderes machen als das, was jeder Router eines Providers sowieso tut: Sich ein Datenpaket ansehen, bestimmen, welcher Typ von Paket es ist, woher es kommt und wohin es geht. Also eigentlich ein überflüssiges Gerät. Beide möglichen Folgerungen aus der Existenz von Carnivore begünstigten damit libertäre Vorstellungen: Diejenige von Redundanz durch bürokratische Ineffizienz und Verschwendung von Steuergeldern, wie auch die von Verschwörungstheorien, die bis zur Vermutung der möglichen Abschaltung des Internets durch verborgene Carnivore-Features gingen.14 Eine unabhängige Untersuchung Ende 2000 brachte ans Licht, dass das FBI die Öffentlichkeit falsch unterrichtet hatte. Carnivore konnte nicht nur die E-Mails und Chats der verdächtigen Personen, sondern die aller Providerkunden durchsuchen und speichern.15

Auf Aufdeckungen von geheimen Kontrollmaßnahmen, wie etwa auf die von Echelon16 reagierten Regierungen in den 1990er Jahren bevorzugt mit Ignorieren und stellten sie damit auf eine Ebene mit Verschwörungstheorien (Vgl. Echelon oder wie sich Information (nicht) verbreitet). Ein Nebeneffekt dieses Umgangs mit Enthüllungen war das Aufblühen und die Aufwertung von Verschwörungstheorien: Wenn die Regierung zu Echelon schweigt, wer weiß, was für Geheimnisse sie dann noch hegt? Die Staatsverschwörungen aus der dystopischen Science Fiction (Vgl. Das Recht auf Unglück) schienen für viele Menschen Wirklichkeit zu werden, die Grenzen zwischen dem Narrativen und dem Realen verschwammen ebenso wie die zwischen unterstellten Regierungsverschwörungen und realer, aber geheim gehaltener Kontrolle. Das Misstrauen wurde noch dadurch verstärkt, dass Staatsmacht zunehmend an gesichtslose überstaatliche Akronyme ohne merkbare demokratische Kontrolle, an "WTO, NATO, EU, UN" übertragen und somit weniger greifbar wurde.17

Widerstand

Als Reaktion auf die Vorfälle im Zuge der Hacker-Hysterie gründeten John Perry Barlow und Mitch Kapor, der Erfinder des Software-Klassikers Lotus 1-2-3 (bei dem im Zuge der Operation Sundevil ebenfalls die Polizei erschienen war) im Juli 1990 die EFF. Die Abkürzung wird oft fälschlich Electronic Freedom Foundation ausgeschrieben18, steht jedoch eigentlich für Electronic Frontier Foundation. Barlow schreibt, dass für die Namensgebung der EFF die "natürliche Präferenz" einer Frontier für eine ungeschriebenen Ethik und für Konsenslösungen statt "starrer" Gesetze ausschlaggebend war.19 Die EFF sollte eine nichtkommerzielle Vereinigung sein, mit dem Ziel, die Rechte des Individuums zu schützen sowie für den Schutz der Privatsphäre und für das Recht auf freie Meinungsäußerung im elektronischen Datenverkehr einzutreten. Ihre ersten Projekte bestanden in juristischer Hilfe für die Anfang der 1990er während der Hacker-Hysterie festgenommenen und angeklagten jungen Datenreisenden.20

Heute befinden sich mit Pamela Samuelson oder Larry Lessig durchaus Personen im Vorstand der EFF, die libertärer Ideologie kritisch gegenüberstehen. Unter den Gründern waren libertäre Strömungen jedoch stärker präsent. Im ersten Vorstand der EFF saß unter anderem der Ziehvater Kevin Kellys, Stewart Brand, der in den 1960er Jahren mit Ken Keseys LSD-Bus durch Amerika gefahren war, das erste Trips-Festival veranstaltet und den Whole Earth Catalog21 sowie den WELL begründet hatte. Auch einem anderen EFF-Gründervater, John Gilmore, konnte man durch Kleidung, Nickelbrille und Haare die Prägung durch die 1960er Jahre ansehen. Gilmore las zudem eine Menge Science Fiction und machte ausgiebige Erfahrungen mit LSD, wobei er "einen echten Widerwillen gegen Autorität" entwickelte. Er sagte von sich selbst, dass es mehr als alles andere verbotene Genussmittel waren, die einen Libertären aus ihm machten. Am 10. Juni 1990 bot er Barlow Hilfe für dessen Initiative an und schlug vor: "Ich kann die Botschaft in Teilen der libertären Welt verbreiten, wenn dies gewünscht wird."22

In der Fortsetzung: Zensurversuche und Befreiungstechnologien und Kontrolle, Technologie und Privatsphäre