Verurteilung als "nationale Geisel"

Ulrich Sieber, der Verteidiger von Felix Somm, zerlegt das CompuServe-Urteil des Münchner Gerichts

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Das CompuServe-Urteil des Amtsgerichts München vom 28. Mai hat wegen der Rechtsfragen und der Höhe der Strafzumessung weltweites Echo gefunden und ist weitgehend auf Ablehnung gestoßen. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München hatte Felix Somm als dem damaligen Geschäftsführer der deutschen CompuServe GmbH vorgeworfen, den Zugriff der deutschen Nutzer auf strafbare Inhalte (Kinderpornographie und indizierte Spiele) in Foren nicht durch den Einbau von Filtern zu verhindern. Nachdem der dazu befragte Sachverständige erläutert hatte, daß eine solche Filterung mit dem Netz der CompuServe Deutschland GmbH nicht möglich sei, und die Staatsanwaltschaft daraufhin den Freispruch beantragte hatte, kam dann für die meisten das Urteil des Gerichts sehr überraschend, den Angeklagten der Verbreitung pornographischer Schriften, begangen in Mittäterschaft, schuldig zu sprechen.

Plötzlich stand nicht mehr die technische Möglichkeit des Filterns im Vordergrund, sondern die Konstruktion der Mittäterschaft - "jeweils mit Täterwillen im eigenen Interesse" -, wobei CompuServe Deutschland, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der amerikanischen CompuServe, nicht der Status eines Zugangs- (Access-)Providers zugestanden wurde, der lediglich einen Zugang zur Nutzung fremder Inhalte bereithält.

Wenn jetzt Prof. Dr. Ulrich Sieber, der Verteidiger Somms, dem Gericht in einer vom Beck Verlag zusammen mit dem Urteilstext veröffentlichten ausführlichen Anmerkung eine ganze Reihe von Fehlern im technischen Verständnis der Netze und bei der Beurteilung des juristischen Sachverhalts vorwirft, dann steht neben der wackeligen Konstruktion der Begründung vor allem die Auslegung der Verantwortlichkeitsregelung von § 5 des Teledienstgesetzes und die Weigerung im Vordergrund, daß "eine Kontrolle oder Unterbrechung internationaler Telekommunikationsverbindungen Zugriffe auf ausländische Informationsangebote im Ergebnis nicht verhindern kann", weil man wegen der Natur des Internet auch über andere Wege zu diesen Inhalten gelangen kann.

Für Sieber ging es dem Gericht wohl vornehmlich darum, einen Präzendenzfall zu setzen, um einen Verantwortlichen auch dann zu finden, wenn derjenige, der in einem fremden Land Inhalte bereithält, die im eigenen Land verboten sind, strafrechtlich nicht zu belangen ist: "Die schriftlichen Urteilsgründe zeigen eine bemerkenswerte Addition von technischen, materiell-rechtlichen und prozeßrechtlichen Fehlern. Der trotz zahlreicher Bedenken erfolgte Schuldspruch belegt den Willen zu einer spektakulären Verurteilung, die durch die völlig unverhältnismäßige Verhängung einer zweijährigen Freiheitsstrafe für einen bisher nicht vorbestraften Angeklagten unterstrichen wird."

CompuServe Deutschland mag dafür ein gutes Demonstrationsobjekt gewesen sein, da das Gericht unterstellte, daß man wegen der mit CompuServe Inc bestehenden "Sonderverbindung" durch eine "Standleitung" der deutschen Tochter, die an sich lediglich den Zugang zu den Rechnern über lokale Einwählknoten vermittelt, alle dort verfügbar gemachten Daten zurechnen könne. Für Sieber hat CompuServe Deutschland aber lediglich den Zugang zur Nutzung vermittelt, wobei die vom Gericht festgestellten Kriterien einer "fehlenden Kundenbeziehung" und eines fehlenden "Zugangs zum Netz" ebenso wie eine etwaig bestehende "Sonderverbindung" irrelevant seien, weil die Tochter ganz klar als Access-Provider einzustufen und daher für die fremden Inhalte nicht verantwortlich zu machen sei. Überdies sei nach deutschem Recht die Konstruktion einer "Gesamtorganisation" nicht zulässig, die das "Bereithalten" von Daten von der Mutter unmittelbar auch der Tochter zurechnet, obgleich dieser im Sinne der Speicherung auf Computersystemen aber keine mit der Mutter vergleichbare "Beherrschung" von Einzeldaten möglich sei. Das Gericht habe auch nicht ausreichend zwischen positivem Tun und Unterlassen unterschieden.

Unbeantwortet sei etwa die Frage geblieben, "ob ein in 185 Staaten präsenter Online-Dienst mit einem zentralen Speichersystem ohne länderspezifische Sperrmöglichkeiten tatsächlich die rechtlichen Besonderheiten aller Staaten berücksichtigen kann, in denen seine Dienste abrufbar sind." Der Tatvorwurf werde ausführlich nur an der amerikanische Mutter CompuServe Inc begründet, aber hinsichtlich von deren Strafbarkeit, die dann auch den Geschäftsführer der deutschen Tochter gemäß der Konstruktion der Gesamtorganisation betrifft, sei noch "nicht einmal der Versuch unternommen (worden), die Straftat eines in den USA handelnden Mittäters festzustellen." Dadurch aber werde der Geschäftsführer der deutschen CompuServe GmbH "zur nationalen 'Geisel' für die nicht ermittelten Straftäter genommen, welche die verfahrensgegenständlichen Inhalte herstellten und in das Internet einspeisten."

Sieber meint, daß das Gericht mit seinem spektakulären Urteil nicht nur Felix Somm, sondern auch "dem Recht, dem Ansehen der Justiz, der Entwicklung der Informationstechnologie sowie dem Wirtschaftsstandort Deutschland" Schaden zugefügt und einer wirksamen Bekämpfung der Kinderpornographie einen "Bärendienst" habe. Die sollte sich verstärkt um die Zurückverfolgung und Ermittlung der Hersteller von inkriminierten Inhalten bemühen - und nicht, was Sieber freilich nicht direkt sagt, über eine nationale Geisel und mittels Kinderpornographie versuchen, deutsches Recht über juristisch bedenkliche Konstruktionen weltweit durchzusetzen.

Siehe dazu auch: Kein Bedarf an Präzisierungen. Ein Interview mit Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig.