"Viele Bürger haben schlicht Angst vor weiteren Veränderungen"

Simone Peter und Silke Gajek gestern auf einer Wahlkampfveranstaltung. Bild: Bündnis 90/Die Grünen Mecklenburg-Vorpommern

Silke Gajek, Spitzenkandidatin der Grünen in Mecklenburg-Vorpommern, über getriebene Politiker, Wendeverlierer und die hohen Umfragewerte der AfD

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Frau Gajek, die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten in Mecklenburg-Vorpommern hat sich im vergangenen Jahr verdreifacht. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Silke Gajek: Die Gründe sind vielfältig. Ich gehöre zwar nicht zu denen, die alles auf die Politik schieben, aber bei diesem Thema hat eben jene viel zu lange geschlafen. Jahrelang war sie auf dem rechten Auge blind; Prävention und Bekämpfung von Rassismus spielten hierzulande nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch ist natürlich jeder Einzelne für seine Taten selbst verantwortlich.

Was genau werfen Sie der Landesregierung vor?

Silke Gajek: Dass sie immer wieder kategorisiert- gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge. Nach dem Motto: Für diejenigen, die wir gebrauchen können, tun wir was - die anderen müssen weg. Und zwar schnell. Meist fallen dann die Stichworte Arbeitsmarkt und Asylmissbrauch. Mit solch platten Botschaften heizen die Herren die Stimmung im Land unnötig an. Das ist gefährlich. Zumal wenn man weiß, dass die Skepsis gegenüber Fremden ohnehin stets präsent ist im Osten Deutschlands.

(überlegt) Ich habe den Eindruck, dass viele derer, die Geflüchtete angreifen oder deren Unterkünfte anzünden, der Ansicht sind, sie hätten einen Freibrief. Die denken allen Ernstes, sie täten etwas Gutes. Da fallen alle Hemmungen. Erst vor ein paar Tagen lief es mir wieder eiskalt den Rücken herunter.

Was war passiert?

Silke Gajek: Ich fuhr durch Waren (Müritz), vor mir ein Auto auf dessen Heckscheibe in altdeutscher Schrift zu lesen war: "Wir sind wieder da!" Das ist doch zum Heulen! Was sind das für Menschen? Hier im Land geht es längst nicht mehr nur um die NPD, nein, inzwischen ist der Rassismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Silke Galek ist Spitzenkandidatin von Bündnis90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern. Bild: gruene-mv.de

In Mecklenburg-Vorpommern leben derzeit etwa 11.000 anerkannte Flüchtlinge...

Silke Gajek: ...die für uns überhaupt kein Problem sind! Es ist eine Schande, dass sowohl unser Ministerpräsident (Erwin Sellering, SPD, d. Red.) als auch der Innenminister (Lorenz Caffier, CDU, d. Red.) stets das Gegenteil behaupten. Ein Blick auf die Zahlen sollte reichen: Über 1,6 Millionen Einwohner, Flüchtlingsanteil: unter einem Prozent. Das ist doch lächerlich, worüber reden wir eigentlich? Haben die Herren tatsächlich so große Angst vor der AfD, dass sie deren Sprache übernehmen? Das ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Geflüchteten, sondern auch all jener Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren.

Herr Sellering sagt, das Klima habe sich massiv verändert, unabhängig davon, wie viele Flüchtlinge es hier im Land gebe.

Silke Gajek: Wer sagt, unser Bundesland sei überfordert, wenn es 11.000 Menschen aufnimmt, zugleich aber im Wahlkampf keine Gelegenheit auslässt, zu betonen, wie stark Mecklenburg-Vorpommern sei, der macht sich unglaubwürdig. Das passt doch nicht zusammen. Sind wir wirklich so schwach, dass wir es noch nicht einmal schaffen, ein paar Tausend Menschen unterzubringen und zu integrieren? Diese Kleinmütigkeit nervt. Nicht wir sind die Opfer, sondern die Geflüchteten. Wann endlich kapieren das die Nörgler?

Was sagen Sie im Wahlkampf jenen Bürgern, die Angst haben vor Abstieg, Armut und Überfremdung?

Silke Gajek: In solchen Momenten versuche ich erst einmal, die Ruhe zu bewahren, was zugegebenermaßen nicht zu meinen Stärken zählt. Aber das muss sein. Es bringt ja nichts, gleich rumzupoltern. Meist stelle ich die Frage, wann die- oder derjenige zuletzt mit einem Geflüchteten in Kontakt gekommen ist. Häufig folgt eine kurze Denkpause. Dann höre ich Sätze wie: "Ach, keine Ahnung, aber darum geht's ja auch nicht." Wieder eine Pause, dann: "Aber ich habe im Fernsehen gesehen …", oder alternativ: "Ich habe im Internet gelesen ...". Wenn ich nachfrage: "Wo denn genau?", wird mit den Schultern gezuckt. Ein Trauerspiel.

Sollten Politiker derlei Sorgen - ob begründet oder nicht - nicht trotzdem ernst nehmen?

Silke Gajek: Na sicher. Es ist Aufgabe der Politik, den Bürgern ihre Abstiegsängste zu nehmen. Oder zumindest zu verdeutlichen, dass all das nichts mit dem Thema Flüchtlinge zu tun hat. Das wäre ein erster Schritt. Glauben Sie mir, viele derer, die gegen Geflüchtete wettern, wohnen in attraktiven Wohngegenden, sind wohlsituiert und haben noch nie einen Asylbewerber getroffen. Das Vorurteil, die Pöbler seien allesamt ungebildete Hartz-IV-Empfänger, kann ich nicht mehr hören. Das ist Quatsch.

"Es reicht, dagegen zu sein"

Sie wurden in Mecklenburg geboren, Sie sind hier aufgewachsen - woher, Frau Gajek, kommt der Frust bei vielen Bürgern, diese Wut und der Hass auf alles Fremde?

Silke Gajek: Die Leute mussten sich 1990 an ein neues Land anpassen. Einigen ist das nicht gelungen. All das, was für sie bis zur Wende normal war, der Alltag, die Gewohnheiten, die Traditionen, ja, das alles galt von einem Tag auf den anderen als falsch. Weg damit! Geblieben sind: Verletzungen. Die DDR war ja auch ein Land des Schweigens, man sprach nicht darüber, wie es einem geht. Vieles wurde gedeckelt und verdrängt.

Was wollen Sie damit sagen?

Silke Gajek: Dass sich bei vielen Frust aufgebaut hat; sie fühlen sich als Wendeverlierer. Sie glauben nicht, wie oft ich den Satz höre: Man hat uns vergessen. Die Geflüchteten sind ihr Ventil. Und das bereitet mir große Sorgen. Viele Bürger haben schlicht Angst vor weiteren Veränderungen. Sie fragen sich: Was kommt da noch?

Viele dieser Bürger fühlen sich offenbar bei der AfD, die derzeit bei 23 Prozent liegt, gut aufgehoben. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Silke Gajek: Dass Inhalte derzeit offensichtlich nicht zählen. Es reicht, dagegen zu sein.

Das heißt?

Silke Gajek: Auch wenn es abgedroschen klingt: Alle demokratischen Parteien müssen jetzt zusammenstehen. Es gilt, die AfD zu enttarnen. Bei der NPD ist uns das gelungen - warum nicht auch bei der AfD? Wir Bündnisgrüne stehen und streiten für eine offene und vielfältige Gesellschaft.

Die Mehrheit im Land sieht das offenbar anders.

Silke Gajek: Ja, manchmal habe ich das Gefühl, ich laufe gegen eine Wand. Den Standard-Vorwurf, wir Grüne seien naiv und würden die Probleme beiseiteschieben, ist Propaganda. Wir sehen Herausforderung und Chance zugleich. Wer allen Ernstes glaubt, es sei eine gute Lösung, ab sofort die Schotten dicht zu machen, also keine Geflüchteten mehr aufzunehmen, der sollte sich nur einen Moment in deren Lage versetzen.

Kommt da Frust auf im Wahlkampfendspurt?

Silke Gajek: Nein, ich lasse mich nicht beirren, wir sind 2011 erstmals in den Landtag eingezogen, der Zuspruch wächst stetig, gerade von jüngeren Leuten. Wir sind auf einem guten Weg, kein Grund für Frust.