Vielleicht doch keine neuen Nervenzellen im Gehirn - na und?!

Hippocampus einer jungen Maus, grün sind die neuronalen Stammzellen dargestellt. %22Forest_of_memory%22.jpg:Bild: RebecaCuesta/CC BY-SA-4.0

Über den wichtigsten Unterschied zwischen Psychologie und Neurowissenschaft

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Denken wir an Karl Popper (1902-1994), einen der berühmtesten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Ihm haben wir nicht nur die Idee zu verdanken, dass wissenschaftliche Hypothesen und Theorien falsifizierbar sein müssen - also so formuliert sein müssen, dass sie zumindest prinzipiell an Beobachtungen und Messungen scheitern können. Auch Poppers Hinweise auf die Fehlbarkeit (Fachsprache: Fallibilität) wissenschaftlichen Wissens waren ein bedeutender Beitrag zu unserer Ideengeschichte.

Einschlägige Studie zur Fehlbarkeit

Was Fehlbarkeit bedeuten kann, erfährt nun eine Reihe von Hirnforschern am eigenen Leib; und auch für das Verständnis von Falsifizierbarkeit ist der Fall interessant. Kürzlich veröffentlichte nämlich Nature die Arbeit von Arturo Alvarez-Buylla und Kollegen, Stammzellforscher an der University of California in San Francisco. Im Widerspruch zu einschlägigen Funden der letzten 20 Jahre, dass unter anderem im menschlichen Hippocampus ein Leben lang neue Nervenzellen entstehen, konnten die Forscher hierfür keine Belege finden.

Der Hippocampus - oder besser gesagt: beide Hippocampi, da wir davon zwei haben - ist als Struktur bekannt, die eine wichtige Aufgabe beim Lernen und Gedächtnis hat. Dass hier immer neue Zellen entstehen, in der Fachsprache spricht man von Neurogenese, schien also auch die Möglichkeit lebenslangen Lernens neurobiologisch zu untermauern.

Das wiederum passt hervorragend zu unserem Zeitgeist, demzufolge der Mensch sich permanent an neue Anforderungen anpassen muss. Schon 1998 sang Herbert Grönemeyer bekanntermaßen: "Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders." Inzwischen hat uns der Fortschritt in der Arbeitswelt gar schon eigene "Change Manager" beschert. Diese sollen uns weismachen, dass alles nicht nur ganz anders werden muss, sondern dass das auch toll ist!

Abnahme der Neurogenese schon im ersten Lebensjahr

Doch zurück zum Gehirn: Die kalifornischen Forscher suchten also nach den Regeln ihrer Kunst mit speziellen Färbetechniken nach Hinweisen auf die Neurogenese. Dafür hatten sie menschliche Zellproben eines großen Altersspektrums gesammelt: von der 14. Schwangerschaftswoche bis zum 78. Lebensjahr.

Dabei stellte sich heraus, dass schon im ersten Lebensjahr die Anzahl neuer Nervenzellen von rund 1600 auf 300 pro Quadratmillimeter des untersuchten Gewebes sank, also um den Faktor fünf. Bei den Dreizehnjährigen gab es nur noch vereinzelte Funde neuer Zellen und bei den 18-77-jährigen gar keine mehr. Folglich auch der Titel der Publikation, einmal auf deutsch: "Neurogenese im menschlichen Hippocampus fällt stark bei Kindern und auf nicht mehr nachweisbares Niveau bei Erwachsenen."

Wissenschaftlicher Streit

Interessanter wird dieser Befund dadurch, dass in etwa zeitgleich eine andere Forschergruppe um die Psychiaterin Maura Boldrini von der Columbia University in New York in der Zeitschrift Cell Stem Cell etwas ganz anderes berichtete: "Die Neurogenese im menschlichen Hippocampus besteht im Alter fort." Untersucht wurden hierfür Zellproben gesunder, doch gerade verstorbener Menschen im Alter von 14 bis 79 Jahren.

Die neurowissenschaftlichen Details hat Konrad Lehmann hier erst vor wenigen Tagen beschrieben (Braucht der menschliche Hippokampus neue Nervenzellen?). Hervorzuheben ist dabei auch der Streit zwischen den Forschergruppen, die einander nun methodische Fehler oder falsche Interpretationen der Funde vorwerfen. So viel zum Thema "harte" Wissenschaft.

Wichtig scheinen mir noch die Hinweise zu sein, die die Neurowissenschaftlerin Laura Andreae vom King's College in London in einem Kommentar machte: Die beiden Studien müssen einander nicht notwendig widersprechen. Das New Yorker Team zählte nämlich neue Neuronen in gesamten Teilbereichen des Hippocampus, etwa des sogenannten Gyrus dentatis. Die Anzahl der Nervenzellen in dieser Region schätzte Maura Boldrini mit Kollegen - also dasselbe Forscherteam - erst vor ein paar Jahren auf ca. 1,5 bis 3 Millionen.

Selbst wenn sich dort also im Erwachsenenleben noch ein paar Tausend neue Neuronen bilden sollten, wie das die neue Studie berichtet, fällt das wohl kaum ins Gewicht. Die Zellen sind dann für neuronale Verhältnisse eher selten und wahrscheinlich weit voneinander entfernt. Und das könnte dazu passen, dass das kalifornische Team berichtet, die Neurogenese sei mit ihrer Methode bei Erwachsenen nicht mehr nachweisbar gewesen.

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