Vier Lehren aus dem Afghanistan-Desaster

Schule in Kandahar, Afghanistan, 2014. Bild: Global Partnership for Education, CC BY-NC-ND 2.0

Während westliche Truppen aus Afghanistan fliehen, zieht die Bundeswehr in den nächsten umstrittenen Einsatz. Das ist möglich, weil eine Debatte über Fehler und Konsequenzen ausbleibt

Zwei Zitate haben hierzulande die Debatte über den gescheiterten Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan maßgeblich geprägt. Das eine stammt vom damaligen Verteidigungsminister Peter Struck aus dessen Regierungserklärung am 1. März 2004.

"Unsere Sicherheit", sagte der Sozialdemokrat damals, "wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt". Zu diesem Zeitpunkt waren deutsche Soldatinnen und Soldaten gut zwei Jahre in dem zentralasiatischen Land stationiert.

Knapp sechs Jahre später nahm sich die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, des Themas an – und kam zu einem radikal anderen Schluss:

Nichts ist gut in Afghanistan. (…) Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen.

Margot Käßmann

Der damalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz (CDU), konterte, Käßmann mache es sich zu einfach, wenn sie die Botschaft vermittelt, "man könne sich kurzfristig aus Afghanistan zurückziehen, ohne sich schuldig zu machen".

"Wenn die internationale Gemeinschaft in Afghanistan scheitert, würde das mit Sicherheit zu einer neuen Welle terroristischer Anschläge führen", konstatierte Hans-Ulrich Klose, der damals für die SPD-Fraktion für Außenpolitik zuständig war.

Nun ist die angebliche internationale Gemeinschaft, die zu Höchstzeiten noch nicht einmal ein Viertel der UNO-Mitgliedsstaaten ausmachte, regelrecht aus Afghanistan geflohen.

Ist man sich im politischen Berlin einer Schuld bewusst? Gesteht man gar Fehler ein? Mitnichten.

Bei einer der letzten Sitzungen des Verteidigungsausschusses erklärte man sich zwar mit der Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Bewertung des Einsatzes bereit.

Dieses Gremium sollte seine Arbeit aber nicht mit der Prämisse angehen, dass der Einsatz von vornherein falsch war", schränkte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) ihre eigene Anregung ein.

Kein Ziel wurde in Afghanistan erreicht

Rechte von Frauen und Mädchen wiederherstellen, Afghanistan Frieden bringen, Leid Unschuldiger vermeiden, Krieg und Bürgerkrieg dauerhaft beenden, die (Übergangs-)Regierung stabilisieren - keines der Ende 2001 von Gerhard Schröder und Joseph Fischer formulierten Ziele ist nachhaltig erreicht worden.

Als Friedensbringer werden die internationalen Truppen vielen Afghaninnen und Afghanen nicht in Erinnerung bleiben. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan dokumentierte 755 zivile Opfer (546 Tote und 209 Verletzte) bei Luftangriffen internationaler Streitkräfte im Jahr 2019, im Jahr 2018 waren es 644 zivile Opfern (381 Tote und 263 Verletzte).

Diese getöteten Zivilisten machen nur einen Teil der Bilanz des Einsatzes aus, der schließlich durch die Verhandlungs- und Abzugsentscheidung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ein Ende gefunden hat.

Auch dieser für viele unschöne Umstand gehört zur Geschichte des gescheiterten Afghanistan-Einsatzes von "ISAF" bis "Resolute Support".

Der in Europa beliebte Barack Obama hingegen hatte die bei seinem Amtsantritt in Afghanistan stationierten 68.000 US-Soldatinnen und Soldaten um weitere 33.000 Militärs verstärkt.

Er hat die international umstrittenen Drohnenangriffe zudem in einem solchen Maße ausgeweitet, dass es zum Bruch mit der damaligen Regierung von Hamid Karsai kam.

Liest man angesichts dieser Entwicklungen die Reden des damaligen deutschen Außenministers Joseph Fischer und Bundeskanzler Gerhard Schröder, müssen einem die Worte wie Hohn vorkommen. Afghanistan habe angesichts der westlichen Intervention "heute eine neue Chance", sagte er am 22. Dezember 2001 im Plenum des Bundestags.

Zuvor hatte er die Delegierten eines Sonderparteitags von Bündnis90/Die Grünen vor die vermeintliche Wahl gestellt, "ob wir uns hier verabschieden", oder ob verantwortliche Friedenspolitik gemacht werden könne.

Hätten sie sich mal verabschiedet; es wäre ein ehrlicher, friedlicher und würdevoller Abschied gewesen, als der, den "der Westen" dieser Tage in Afghanistan zu nehmen gezwungen ist.

Lehren aus Afghanistan ziehen

Die Lehren von Afghanistan werden an vielen Orten und von vielen Akteuren gezogen werden; daran ändert auch die halsstarrige Realitätsverweigerung von politischen Entscheidungsträgern und medialen Meinungsmachern nichts.

  1. Die Lehre etwa, dass das Versprechen "demokratisch legitimierter Gegengewalt" mehr als Drohung denn als Versprechen aufgefasst werden muss. Selbst, wenn es um den Kampf gegen menschenfeindliche Islamisten geht.
  2. Dass lokale Verbündete bei einem Scheitern der Militärmissionen damit rechnen müssen, von den westlichen Mächten ihrem Schicksal überlassen zu werden.
  3. Dass militärische Ausbildungsmissionen westlicher Armeen auf erschütternde Weise wirkungslos sind.
  4. Dass es Korrektivkräfte von der Opposition bis zu den Medien in den am Afghanistan-Krieg beteiligten Staaten binnen zwei Jahrzehnten nicht geschafft haben, auf diese und weitere Mängel effektiv hinzuweisen.

Eben das wäre nun aber angemessen. Denn während die Bundeswehr Afghanistan im Gefolge der US-Truppen aufgegeben hat, schickt die Bundesregierung bereits Soldaten in die nächste zum Scheitern verurteilte Mission: Minusma in Mali.

Auch hier ist das Ziel unscharf, die Lage unübersichtlich, der Gegner nicht greifbar und die Zustimmung vor Ort gering. Schlimmer noch: In Mali werden Truppen ausgebildet, die von einer demokratisch nicht legitimierten Putschregierung kontrolliert werden, während Islamisten ihren Einfluss ausdehnen. Ein afrikanisches Afghanistan ist absehbar.

Was fehlt, ist also eine Grundsatzdebatte über Militäreinsätze. Aber wer soll die führen? Die Linken dringen mit ihren antimilitaristischen Positionen nicht durch. Die Rechten interessiert am Thema nur die Eindämmung der Migration.

"Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen", sagte Käßmann 2010. Eine Debatte über eine zivile, soziale und wirtschaftliche Bewältigung globaler Konflikte – und ihre Ursachen – wäre ein Anfang.

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