Vision des unfallfreien Fahrens

Gemeinsam mit der Automobilindustrie erforscht die Europäische Union in einer ambitionierten Feldstudie, wie Autofahrer neue Technologien nutzen

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"In zehn Jahren bringen wir das erste fahrerlose Auto auf den Markt", verkündete General Motors-Chef Rick Wagoner im Januar 2008. Mit der Insolvenz des Konzerns nur anderthalb Jahre später stürzten diese Fortschrittsträume zunächst einmal in sich zusammen. Nicht nur GM, die gesamte Automobilindustrie hatte an den Wünschen der Autofahrer vorbei produziert. Auch die Zukunftsvision vom automatischen Fahren kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gegenwärtig kaum einen Hersteller gibt, der bezahlbare, zuverlässige Fahrzeuge mit alternativen Antrieben im Angebot hat. Und der Erfolg der Abwrackprämie in Deutschland kaschiert dieses Defizit nur mit kurzfristiger Kosmetik. Der große Einbruch im Neuwagengeschäft wird nun für Anfang 2010 erwartet, die Krise wurde damit also nur noch verlängert.

Gibt es in Zukunft eine Elektronik-Krise?

In neue Antriebskonzepte - vor allem die Batterieentwicklung - pumpen die Hersteller nun sehr viel Geld. So hat die deutsche Automobilindustrie ihre Forschungsausgaben trotz Wirtschaftskrise und Absatzrückgang nicht gekürzt: 18,9 Milliarden Euro investierten die Autokonzerne 2008 in Forschung und Entwicklung. Und auch 2009 werden die Forschungsausgaben nicht heruntergefahren, versichert der Verband der Automobilindustrie (VDA).

Neben der Motorenentwicklung fließt ein großer Teil dieser Investitionen in die Entwicklung der Automobilelektronik. Ein ganzes Heer piepsender Warnsignale wacht heute über das korrekte Verhalten der Insassen - im Namen der Sicherheit. Denn es gilt, Unfälle so weit wie möglich zu vermeiden oder ihre Folgen abzumildern.

Bereits heute zeigt sich aber, dass der Industrie in Bereich der Elektronik einmal ein ähnliches Debakel drohen könnte wie derzeit bei den Antrieben. Denn schon heute haben Autofahrer oftmals Schwierigkeiten mit den zahlreichen elektronischen Assistenzsystemen, die in moderne Fahrzeuge eingebaut sind. Zum einen sind die Bedienungsinterfaces oft nicht ausgereift, zum anderen produzieren manche Systeme sogar jene Unfälle, die sie eigentlich zu vermeiden vorgeben.

Erinnert sei hier an die sogenannte Affaire voiture folle im September 2005 in Frankreich. Damals hatten verschiedene Autofahrer die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren, während der automatische Geschwindigkeitsregler (Tempomat) aktiviert war. Zunächst wurden die Verunglückten für Scharlatane gehalten, die nur ihre Schuld für Unfälle auf die Hersteller abwälzen wollten. Bald musste aber selbst die Industrie zugeben, dass sie Elektronik-Pannen als Unfallursache nicht ausschließen kann. Bis heute gibt es immer wieder schwere Unfälle mit dem Tempomaten, die es aber selten in die überregionalen Medien schaffen.

Die Feldstudie EuroFOT: Wie reagiert der Fahrer auf Schlafsensoren, Kollisionswarner, automatische Notbremsung?

Bisher hat sich die Industrie für solche Probleme eher wenig interessiert. So gibt es kaum Studien darüber, welche Systeme Autofahrer als störend oder sogar gefährlich empfinden. Es ist auch weitgehend unbekannt, wie und ob die vielen elektronischen Helfer von den Autofahrern überhaupt benutzt werden.

Dies soll sich nun ändern: Gemeinsam mit der EU versucht die Automobilindustrie in dem groß angelegten europäischen Forschungsprojekt EuroFOT (European Field Operational Test on Active Safety Systems) etwas mehr über dieses unbekannte Wesen - den Autofahrer - und seine Nutzung der neuen Technologien herauszubekommen. Mit 14 Millionen Euro finanziert die EU den größten Teil der insgesamt 22 Millionen Euro teuren Feldstudie, an der Volvo, Ford, Daimler, BMW, Volkswagen, Audi, Renault, Fiat und MAN beteiligt sind.

Ökonomischer Hintergrund der Studie ist, dass viele Technologien vom Markt bisher nicht angenommen wurden: Sie kommen entweder nur in Luxuslimousinen zum Einsatz oder sind nur gegen Aufpreis zu haben. Hinzu kommt die skeptische Haltung vieler Autofahrer gegenüber den Assistenzsystemen. Da die Automobilindustrie in Zukunft vor allem mit Elektronik ihr Geld verdienen wird, will sie die Profitabilität der neuen Technologien erhöhen: Ziel ist es, "größere Akzeptanz" zu erzeugen, schreiben die beteiligten Firmen auf der Projektwebsite.

Ab Dezember 2009 rollen deshalb ein Jahr lang 1.500 vollüberwachte Fahrzeuge unter realen Bedingungen über Europas Straßen, darunter 150 Lastwagen. Die Versuchsteilnehmer werden derzeit unter Autokäufern in Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden rekrutiert. Dabei legt die EuroFOT-Studie besonderen Wert darauf, dass alle Autofahrer ihre Fahrzeuge während des Experiments vollkommen ohne Einschränkungen oder Anweisungen benutzen.

Getestet wird ihr Umgang mit Systemen, die bereits in den Markt eingeführt wurden - wie etwa dem Kollisionswarner (Forward Collision Warning), der automatischen Notbremsung und den automatischen Geschwindigkeits- und Abstandsreglern (Adaptive Cruise Control). Außerdem wird das Zusammenspiel des Menschen mit Warnvorrichtungen geprüft, die Spurwechsel (Lane Departure Warning) und Kurvengeschwindigkeit überwachen. Auch die Reaktion der Fahrer auf Schlafsensoren, Detektoren von Toten Winkeln (Blind Spot Information System), Navigationssysteme und Head-Up Displays wird getestet. Je nach beteiligtem Land und Hersteller gibt es allerdings unterschiedliche Forschungsschwerpunkte: So wird in Frankreich vor allem der Umgang mit dem régulateur de vitesse (Tempomat) unter die Lupe genommen - eine Spätfolge der bereits erwähnten Affaire voiture folle.

Das Auto sendet die Daten per Mobilfunk an die Ingenieure

Um das Fahrerverhalten aufzuzeichnen, werden die Fahrzeuge mit Videokameras und Computern ausgerüstet. Wie in diesem Video von Volvo zu sehen ist, filmen die Kameras den Kopf des Fahrers, insbesondere die Bewegungen der Augen. Auch der Raum hinter und vor dem Fahrzeug wird aufgenommen. Neben den Lenk- und Pedalbewegungen werden verschiedene fahrdynamische Parameter wie Geschwindigkeit, Beschleunigung und Motormanagement aufgezeichnet. Auch die Reaktion des Fahrers auf Warnungen und seine mögliche Gewöhnung daran sowie Ablenkungsmomente werden überwacht und gespeichert. Zudem registriert eine GPS-Antenne während der gesamten Versuchsphase die Position des Autos. So kann das Verhalten der Fahrer erst richtig bewertet werden. Man könnte zum Beispiel sehen, ob ein Fahrer in einer Tempo 30-Zone zu schnell gefahren ist.

Die so gewonnenen fahrzeuginternen Rohdaten werden im Auto auf einer Festplatte (black box) gespeichert und per Mobilfunk direkt an eines der vier Auswertungszentren übertragen. Dort analysieren Ingenieure dann die Reaktionen der Autofahrer. Vervollständigt wird das Szenario durch Fragebögen, in denen die subjektiven Eindrücke der Fahrer protokolliert werden. Die so gesammelten Daten werden nach Auskunft von Ford nur innerhalb des EuroFOT-Projektes verwendet. Erst auf die verarbeiteten Daten sollen andere Forschungsorganisationen später in anonymisierter Form zugreifen können.

Neues Wissen durch Bewirtschaftung der Precrash-Phase generieren

Neugierig sind Forscher wie Christoph Kessler von Ford unter anderem darauf, ob die Systeme "wie vorgesehen eingesetzt" werden. Auf der EuroFOT-Homepage heißt es etwas schlicht, viele Autofahrer würden die Technologien eben nicht begreifen. Es geht aber nicht nur um falsche Bedienung: Denkbar wäre auch, dass Sicherheitssysteme zum Rasen verleiten, da sie die subjektive Wahrnehmung eines objektiv vorhandenen Risikos beeinflussen.

Von besonderem Interesse sind auch Situationen, in denen es fast zu einem Unfall gekommen wäre: Die EuroFOT-Forscher interessiert, wie Autofahrer in brenzligen Situationen reagieren, um Beinahe-Unfälle zu verhindern, erklärt Jonas Ekmark von Volvo. Denn bisher stützt sich die Unfallforschung vor allem auf die Auswertung von Crashtests und realen Unfällen, sie kommt also immer zu spät. Im EuroFOT-Versuch haben die Forscher aber die Chance, einen realen Unfall aufzuzeichnen, während er passiert. Mit dieser Methode soll neues Wissen erzeugt werden, um völlig neue präventive Systeme entwickeln zu können.

In dieser Forschungsperspektive wird der Fahrer also nicht als defizitäres Wesen angesehen, das elektronisch übersteuert werden muss: Denn zunächst soll die Maschine vom Fahrer lernen. Erst dann kann der Traum verwirklicht werden, das menschliche Verhalten elektronisch zu simulieren: "Natürlich heißt die Vision, ein völlig unfallfreies Fahren zu gestalten", betont Ford-Sprecherin Monika Wagener gegenüber Telepolis. Und dies soll mit dem massiven Einsatz von Elektronik verwirklicht werden - denn die meisten Unfälle passieren noch immer durch menschliche Fehler.

Wie weit die Elektronifizierung gehen darf und ob die Autofahrer mit der zunehmenden Automatisierung des Fahrens zurechtkommen, dafür könnte die EuroFOT-Studie einige interessante Erkenntnisse liefern. Der Traum vom selbstfahrenden Automobil in einem automatisierten, unfallfreien Verkehr bleibt aber in jedem Fall trotz Krise eine der Leitvisionen der Automobilindustrie.