Völkerrecht: Sittenregel für Gewalthaber
Seite 2: Gewaltverbot für Staaten? Alle unterschreiben es, aber keiner hält sich dran
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So viel scheint damit klar: Vom Völkerrecht lässt sich kein Staat der Welt, schon gar nicht die mächtigeren unter ihnen, davon abhalten, seine Interessen zu verfolgen. Und bei nicht auf "friedlichem" Wege zu erreichendem Erfolg versuchen sie, dies mit Waffen durchzusetzen.
Manchmal genügt nur die Androhung, manchmal die Anwendung. Es ist dennoch ein weitverbreitetes Anliegen von diesen Staaten, ihre Taten im Einklang mit dem Völkerrecht zu beschreiben – und den Gegner mit dem Verstoß gegen es ins Unrecht zu setzen.
Das Völkerrecht, wie es in der Charta der Vereinten Nationen (UNO) formuliert wird, fordert:
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Charta der Vereinten Nationen, Artikel 2 (4)
Wer den "Weltfrieden" stört, darf angegriffen werden
Ein langer Satz, ein großer Satz – der aber in der Realität seit Inkrafttreten der Charta 1945 permanent von ziemlich vielen gewalthabenden Staaten dieser Welt mit Füßen getreten wurde und wird. Recht besehen, müsste man die UNO-Charta daher nicht weiter beachten.
Und doch wird sie im Munde der Diplomaten von Staaten geführt, die anderen Staaten damit die Verfolgung illegitimer Interessen vorhalten. Stets ist dann die Rede vom "Weltfrieden" und der "internationalen Sicherheit", wie sie die UN-Charta als Zweck formuliert. An der sich die angeklagten Nationen vergingen.
So ganz pazifistisch und uneingeschränkt friedliebend ist das Völkerrecht aber auch nicht gemeint. Die Vereinten Nationen verfolgen zudem den Zweck, "Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird". Wenn eben "der Weltfrieden" als gefährdet gilt, darf die "Weltgemeinschaft" den friedensgefährdenden Staaten mit Gewalt Einhalt gebieten.
Kein Widerspruch: Staaten ächten und investieren in Gewalt
Dann erhalten einige Länder ein UN-Mandat, mit ihrem Militär gegen den Paria vorzugehen. Sie stellen Soldaten und Material für die "Blauhelme" ab oder rücken im UN-Auftrag gegen die betreffenden Staaten vor, mit einem "robusten Mandat", das sie zur Anwendung von Gewalt berechtigt.
Was soll das sein: "Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse"? Wenn alle Staaten dieses "gemeinsame Interesse" durch ihre Mitgliedschaft in der UNO doch bezeugen – gegen wen soll dann noch Gewalt nötig sein?
Es ist ein ziemlich merkwürdiger Umstand: Da ächten die Staaten Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung untereinander. Sie rechnen dennoch damit, dass Gewalt zwischen ihnen ein Mittel der Auseinandersetzung bleibt. Ihre ständigen Konflikte um Einflusssphären und wirtschaftliche Vorteile sind notorisch kriegsträchtig – und das wissen sie.
Entsprechend rüsten die Staaten ihr Militär auf und setzen es ein, wenn ihre Interessen anders nicht durchzusetzen sind. Zu studieren an den vielen Kriegen und Gemetzeln seit Gründung der Vereinten Nationen.
Das "Gemeinsame" in der UNO-Präambel bezieht sich auf die Nationen, die sich einig sind in der Verurteilung anderer Nationen, die sich am "Weltfrieden" vergehen. Und dem darf mit aller Gewalt begegnet werden. Stellt sich natürlich sofort die Frage: Wie sieht dieser "Weltfrieden" aus und wer erklärt ihn für bedroht?
Ein kriegsträchtiger Zustand namens Weltfrieden
Wer die Gefährdung des Weltfriedens erklärt und wer zu dessen Wiederherstellung in der Lage ist, zeigt die Besonderheit des Völker-"Rechts". Einen Antrag an die UNO stellen, um einen Konflikt zwischen Staaten als Anschlag auf den Frieden auf Erden zu verurteilen und dagegen vorzugehen, kann zwar jeder Mitgliedsstaat.
Es entscheidet aber nicht die Gesamtheit der in der UNO vertretenen Nationen oder ein von ihnen eingerichtetes und akzeptiertes Gericht, sondern der Sicherheitsrat. Der besteht aus 15 Staaten. Zehn wechseln alle zwei Jahre und werden nach einem Verteilungsschlüssel bezogen auf die Kontinente ausgewählt. Die übrigen fünf sind die Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA. Sie verfügen als einzige über ein Veto-Recht, um Entscheidungen blockieren zu können, die ihren Interessen zuwiderlaufen.
Die Staaten mit dem stärksten Militär und der alles entscheidenden Atom-Waffe, also die weltweit größten Kriegsherren, wachen über den Frieden in der Welt? Die sich untereinander seit dem Zweiten Weltkrieg und auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in zahllosen Konflikten befinden, sich überall einmischen, bedrohen, erpressen, sich mit Wirtschaftssanktionen und Stellvertreterkriegen bekämpfen.
Die mithin dafür maßgeblich verantwortlich sind, dass ein Zustand namens Weltfrieden eben sich gerade zuverlässig nicht einstellt. Genauer gesagt, die Kraft ihrer Gewalt bestimmen, wann für sie dieser Zustand existiert – und wann er durch den Einsatz ihrer Gewalt wieder herzustellen ist. Erst dann geben sie Frieden.
Wo Recht auf Recht trifft, entscheidet die Gewalt
Aktuell bedroht Russland den Weltfrieden mit seinem Angriff auf die Ukraine – nach Lesart der USA und seines Militärbündnisses NATO. Russland sieht das genau andersherum: Die militärische und politische Eingliederung der Ukraine in den Westen ist es, die den Weltfrieden bedroht. Denn damit setzt der Westen seinen Aufmarsch gegen Russland seit Ende der Sowjetunion 1990 fort.
Das Völkerrecht reklamieren beide Seiten für sich. Und wo Recht auf Recht trifft, entscheidet die Gewalt. Denn die maßgebenden Staaten bekriegen sich in der Ukraine. Folgerichtig kann es kein "gemeinsames Interesse" geben. Entsprechend scheitern diplomatische Vorstöße, auch von am Krieg unbeteiligten Staaten, am Widerstand einer der Kriegsparteien im Sicherheitsrat.
Was allerdings keines der beiden Lager davon abhält, dem Gegner einen Verstoß gegen das Völkerrecht bei jeder sich bietenden diplomatischen Gelegenheit vorzuwerfen. Einem um die Weltmacht konkurrierenden Staat einfach zu erklären, dass er nicht länger eine Weltmacht sei und als solcher eine Rückstufung als bloße Regionalmacht zu erdulden habe, trifft zwar das Ziel US-amerikanischer Politik.
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