Volkes Stimme

CDU und CSU sind unterschiedlicher Meinung, ob die Bürger via Volksentscheid über eine EU-Verfassung abstimmen sollten

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Der EU-Konvent hat den Entwurf für eine europäische Verfassung inzwischen unterschrieben. Die Diskussionen gehen jedoch weiter, sowohl was die Inhalte, als auch was die Möglichkeit einer Volksabstimmung angeht. Edmund Stoiber und die CSU machen sich seit geraumer Zeit schon stark für ein Plebiszit. SPD und Grüne begrüßten die Vorstellungen des bayerischen Ministerpräsidenten im wesentlichen.Ganz im Gegensatz zu Angela Merkel und weiter Teile der CDU.

Mitte Juni hatten sich Angela Merkel und Edmund Stoiber der Presse gestellt, um gemeinsam die Standpunkte der Unionsparteien zur EU-Verfassung zu erläutern. Ihre bekannt unterschiedlichen Haltungen bezüglich eines Volksentscheids waren einer der Gründe, warum diese Aktion notwendig erschien. Stoiber blieb bei seiner Haltung, die er harmoniebeflissen mit der Feststellung umschrieb, es sei "noch keine angemessene politische Diskussion geführt worden".

Die Diskussionen in Deutschland um die EU-Verfassung und um den Prozess ihrer Autorisierung werden nur im historischen Kontext verständlich. Denn das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Verfassung ist ein schwieriges. Das ist schon an der üblichen Verwendung von Begriffen abzulesen, etwa daran, dass es hierzulande zwar einen "Verfassungsschutz" gibt, das zu schützende Gut aber "Grundgesetz" heißt. Der Begriff "Grundgesetz" dient, von "Tagesschau" bis "Spiegel", inzwischen als Synonym für "Verfassung". Wenn in irgendeinem Staat der Welt über eine neue Verfassung abgestimmt wird, so ist oft einfach vom "Grundgesetz" dieses Staates die Rede. Offenbar sind die Gründe für die merkwürdige Begriffswahl in Vergessenheit geraten.

Statt Verfassung provisorisches Grundgesetz

Nach dem Zweiten Weltkrieg und zu Beginn der Ost-West-Konfrontation sollte die sich abzeichnende Bundesrepublik nach dem Willen von Westalliierten und der Mehrzahl der deutschen Politiker eine im Westen integrierte Demokratie werden. Dazu schwebte den Alliierten die Schaffung einer Verfassung vor, die von der Bevölkerung der Westzonen ratifiziert werden sollte. Das hätte aus Sicht des Parlamentarischen Rates, in dem die neue Verfassung beraten wurde, und der die entstehende Bundesrepublik in der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches sah, die Teilung Deutschlands jedoch festgeschrieben. Die Westverfassung sollte daher zwar alle Elemente einer "richtigen" Verfassung aufweisen, jedoch deutlich ihren provisorischen Charakter artikulieren. Daher war fortan nur von einem "Grundgesetz" die Rede. Die Vorläufigkeit wurde in Artikel 146 GG genauer definiert:

Artikel 146: Geltungsdauer des Grundgesetzes
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Als Annahmekriterium wurde in Artikel 144 definiert, zwei Drittel der Volksvertretungen der Länder müssten zustimmen, "in denen es zunächst gelten soll". Zwar waren die Volksvertretungen direkt gewählt worden, die Westalliierten hatten jedoch zunächst Vorbehalte gegen diese Art der Legitimation, die ihnen für eine Verfassung zu indirekt war. Schließlich akzeptierten sie allerdings das deutsche Vorgehen.

Das Grundgesetz wurde übrigens nicht einstimmig angenommen: Bayern stimmte dagegen. Vor allem, weil aus Sicht Bayerns der Bund zu stark war, aber auch, weil einigen CSU-Abgeordneten der Gottesbezug in der Präambel christliche Traditionen nicht ausreichend reflektierte.

Das Problem indirekter Legitimation ist auf der Ebene der Europäischen Union nur zu gut bekannt (TELEPOLIS: "Die gescheiterte Verschärfung"). Die Forderung, die EU müsse "demokratischer" werden, gehört zum Meinungsspektrum sogar von konservativen Politikern wie Peter Hintze, europapolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag. Ein Plebiszit über die EU-Verfassung hält er jedoch, somit ganz auf der Linie Angela Merkels, für "einen schweren Fehler". Es sei zu befürchten, dass sich Unzufriedenheit über die Regierung in Berlin in einem Nein zu Europa entladen könne.

Die aus den Reihen der CDU zu vernehmenden Äußerungen folgen der Logik des Grundsatzes der Repräsentation des Grundgesetzes. Darin spiegeln sich die negativen Erfahrungen wieder, die in der Weimarer Republik durch den Missbrauch von Plebisziten durch radikale Parteien gemacht worden waren. Die Furcht, das Wahlvolk sei leicht durch radikale Forderungen zu manipulieren, scheint immer noch tief zu sitzen. Übersehen wird dabei jedoch erstens, dass der 1949 formulierte Artikel 146 GG zumindest für den Fall der Inkraftsetzung einer "echten" Verfassung von einer freien Entscheidung des deutschen Volkes ausgeht.

Bis zur Wende 1989 dominierte im Westen die - wenn auch rein hypothetische - Sichtweise, dass damit eine Verfassung gemeint war, die durch einen Volksentscheid legitimiert würde und deren Schaffung im Falle einer Wiedervereinigung anstünde. Nun, die Wiedervereinigung wurde als Beitritt der neuen Länder vollzogen, jedoch ist nicht einzusehen, wieso eine EU-Verfassung weniger Bedeutung haben sollte, als eine rein deutsche Verfassung. Es reicht somit nicht, die plebiszitkritische Position des Grundgesetzes im Rahmen des normalen politischen Willensbildungsprozesses gegen einen Volksentscheid anzuführen. Zweitens birgt eine Überstrapazierung des Repräsentationsprinzips die Gefahr gegenüber dem Wähler grundsätzlich misstrauisch eingestellt zu sein. In Zeiten, in denen viel von zunehmender Eigenverantwortung die Rede ist, kann dies nur zu widersprüchlicher Politik führen.

Die fehlende Revolution

In Deutschland hat es nie eine erfolgreiche Revolution gegeben, an deren Ende eine auf Dauer lebensfähige demokratische Struktur gestanden hätte. An diesem Mangel an politischen Grundsatzentscheidungen leiden die Deutschen, die sich doch so gerne als "Volk der Dichter und Denker" bezeichnen, offenbar immer noch. Vor allem die gescheiterte November-Revolution von 1918/19, die in der wackligen Weimarer Republik endete, strahlt bis in die politische Gegenwart aus, denn: "Es sind nicht die siegreichen, es sind die erstickten und unterdrückten, die verratenen und verleugneten Revolutionen, die ein Volk krank machen" (Sebastian Haffner). Der demokratische Neuanfang 1949 im Westteil Deutschlands war ein geschenkter, kein erkämpfter. Und das Ende der DDR war Teil und Folge der Entwicklungen im gesamten Ostblock, ausgehend von der Sowjetunion und der Gorbatschowschen Revolution von oben. Auch eine Art Geschenk.

Niemand redet heute von einer "November-Revolution 1989". Ganz schlicht ist von einer "Wende" die Rede. Das passt auch besser, da im wiedervereinigten Deutschland von revolutionärem Elan nichts zu spüren gewesen ist. Ende der 90er Jahre verglich DIE ZEIT die Seelenlage in West- und Ostdeutschland nach der Wende mit der in den Nord- und Südstaaten der USA nach dem Ende des Bürgerkriegs. In beiden Fällen herrschte auf der einen Seite ein arrogantes Siegesgefühl, auf der anderen dahingegen das Gefühl von Besiegten, die ihr politisches Wertesystem verloren hatten.

Die Chance, durch die gemeinsame Schaffung einer neuen Verfassung der mentalen Wiedervereinigung enormen Vorschub zu leisten, ist vertan worden. Erst allmählich werden Stimmen vernehmbar, die vermuten, dass die deutsche Wirtschaftsmisere wohl nicht nur eine Folge von zu viel Ferien und zu wenig Arbeitsflexibilität ist, sondern wohl auch durch strukturelle Gegebenheiten hervorgerufen wird, die ursächlich mit der Verfassung zusammen hängen. Beispielsweise der Tatsache, dass der Bundesrat, der zwar ein Organ des Bundes ist, in dem aber Vertreter der Landesregierungen sitzen, besonders leicht dazu geneigt ist, Initiativen der Bundesregierung zu blockieren. (Konrad Adenauer war ein erklärter Gegner dieses Systems, das die Alliierten wollten, um die deutsche Zentralgewalt einzuschränken. Adenauer wollte stattdessen auf Bundesebene einen "Senat", dessen Vertreter frei gewählt, also nicht von den Landesregierungen entsandt werden.) Eine EU-Verfassung wird ebenfalls nur dann tiefgreifend motivieren und inspirieren können, wenn diesmal die gesamte Bevölkerung via Plebiszit direkt mit einbezogen wird.

Eigenverantwortlichkeit auch politisch

Von unterschiedlichsten Seiten in der Politik ist derzeit immer wieder zu hören, die "Eigenverantwortlichkeit" der Bürger müsse gestärkt werden. Bisher scheint dies vor allem auf zusätzliche finanzielle Belastungen hinauszulaufen, wirkliche Eigenverantwortung, die sich ja auch in Entscheidungskompetenz niederschlagen muss, ist weniger gefragt.

Nehmen wir mal die Reform des Gesundheitswesen, Beispiel Zahnersatz. Eventuell werden zukünftig Erstattungen für Zahnersatz aus den Leistungen der Krankenkassen herausgenommen. Das klingt nach Eigenverantwortung für die Zahnpflege. Aber was soll dann die Forderung, dass stattdessen in eine private Zwangsversicherung eingezahlt werden solle? Offenbar trauen die Vertreter dieser Idee den Versicherten - ihren Wählerinnen und Wählern - nicht zu, selbstständig darüber zu entscheiden, wie sie sich beim Wegfall gesetzlicher Leistungen verhalten wollen. Dies illustriert nur zu deutlich, warum manche Politikerin und mancher Politiker Angst davor haben, das blöde Stimmvieh über eine Verfassung mit entscheiden zu lassen: Die Entscheidung ist zu wichtig, um sie den Wählern zu überlassen.

Dass der Preis für eine später einmal als unzureichend legitimiert empfundene Verfassung hoch sein kann, dieser Gedanke ist Politikern mit so einem Menschenbild sicherlich völlig fremd. Es ist daher zu hoffen, dass Stoibers Haltung nicht nur wahltaktischem Kalkül entspringt, sondern einer echten Überzeugung. Denn nur dann besteht die Möglichkeit, dass sie ansteckende Wirkung zeigt.