Volksparteien: Selbsttötung per Fraktionszwang

Seite 2: Wer von der Fraktionslinie abweicht, ist ein Verräter

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Doch in Wahrheit sind die politischen Parteien und ihre Fraktionen überhaupt keine Gesinnungsgemeinschaften. Sie verhalten sich nur so. Sie tun so, als sei der Kitt, der sie alle zusammenhält, eine gemeinsame Gesinnung. Und weil sie das alle zu glauben vorgeben, halten sie in den Parlamentsfraktionen zusammen wie Pech und Schwefel.

Wer abweicht, gilt als Verräter. Und er ist es aus parteilicher Perspektive ja auch; denn wenn eine Regierung einmal bei einer wichtigen Abstimmung keine Mehrheit bekommt, bedeutet das in aller Regel ihr Ende. Der Fehler liegt in dem System, in dem die Zukunft einer Regierung so sehr von der Geschlossenheit ihrer Abgeordneten abhängt, dass der gnadenlose Fraktionszwang schier unvermeidlich erscheint.

Fälle von Abweichung sind außerordentlich selten, ja, sie kommen so gut wie gar nicht vor. Aber wenn sie vorkommen, enden alle ähnlich: Der Abweichler wird gemobbt und isoliert und gibt entweder selbst auf oder wird abgestraft - in der Regel dadurch, dass seine Wiederwahl unmöglich gemacht wird. Wer von der Mehrheit abweicht, darf alle Hoffnungen auf eine Karriere in Partei, Fraktion oder gar Regierung fahren lassen.

Eine freie und unabhängige Meinung kann sich ein Abgeordneter, der auch noch eine Karriere machen möchte, nicht leisten - schon gar nicht in Schicksalsfragen für die eigene Partei, Fraktion oder gar Regierung. Bei anderen Themen mag das anders sein: Wenn er sich den Luxus einer eigenen Meinung zur Lage der Landwirtschaft in der südlichen Mongolei leistet, nimmt ihm das wohl niemand krumm…

Fraktionsdisziplin ist sogar in einem gewissen Umfang durchaus vernünftig, wie Burkhard Hirsch schreibt: "In einer arbeitsteiligen Organisation ist man darauf angewiesen, den Spezialisten zu vertrauen und danach zu urteilen, was die jeweiligen Spezialisten für das betreffende Arbeitsgebiet in der Fraktion dazu vorgetragen haben. Politik ist nicht nur Einzelleistung, sondern Teamarbeit. Niemand ist Spezialist für alles. Es gibt in jeder Fraktion eine sorgfältige Arbeitsteilung, Sprecher für bestimmte Gebiete, deren Glaubwürdigkeit bei dem politischen Partner wie dem Gegner davon abhängt, dass die Fraktion ihren Verabredungen folgt."2

Das ist die eine Seite des Vorgangs. Die andere allerdings ist längst nicht so positiv:

"Schwierig und unter demokratischen Gesichtspunkten auch problematisch werden diese Prozeduren jedoch dann, wenn es um Verabredungen der Fraktionsführungen mit dem Koalitionspartner, um Herzensangelegenheiten der von der Fraktion gestützten Regierung oder der eigenen Minister handelt oder wenn es um politische Reizthemen geht, bei denen jeder Abgeordnete seine eigene Meinung haben kann und haben muss.

Es ist ganz offenkundig, dass bei solchen Grundfragen eine massive Hierarchisierung der Meinungsbildung eingetreten ist, also der Versuch der Führungsspitze einer Fraktion, Grundentscheidungen zu treffen, sie gegebenenfalls mit der Führung der anderen Koalitionsfraktion zu verabreden und dann in der Fraktion durchzusetzen.

Hat die Koalitionsrunde ein Projekt beschlossen, dann wird es vor und von den einschlägigen Medien verkündet: ‚Die Koalition hat beschlossen... und so weiter.‘ Die Sache soll entschieden sein, bevor sie das Parlament überhaupt erreicht hat, und meistens ist sie es auch. Wer dann noch Fragen hat, wird zum Bremsklotz am Siegeswagen der Koalition oder Fraktion.

Es wird peinlich genau darauf geachtet, dass die entsprechende Tischvorlage den Fraktionen in den Sitzungen zur gleichen Zeit vorgelegt wird. Es wird mit einem gewissen mahnenden Unterton sofort mitgeteilt, dass die andere Fraktion schon entsprechend beschlossen habe und gefragt, was denn die Öffentlichkeit wohl denken solle, wenn es ‚bei uns‘ so lange dauert. Da sei doch die Handlungsfähigkeit und die Geschlossenheit in Gefahr - und so weiter, man kennt das bis zum Überdruss.

Die notwendige Gruppensolidarität wird zum Instrument der Fraktionsführungen, um die Willensbildung unter Druck zu setzen, ja unter den moralischen Zwang, dass sonst der von allen gewünschte langfristige politische Erfolg von den kleinlichen oder individualistischen Bedenken der ‚gewissenspolitischen Sprecher‘ gefährdet wird. Es ist eine tatsächlich gebrauchte Bezeichnung für diejenigen, die ein erzieltes Verhandlungsergebnis problematisieren."3

Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne

Tatsächlich herrscht bei den meisten Parlamentsentscheidungen Fraktionszwang. Wenn ein Abgeordneter von der Fraktionssolidarität abweichen möchte, begründet er das in der Regel in der vorangehenden Fraktionssitzung. Wenn das die Mehrheitsverhältnisse nicht tangiert, gilt das meist als unproblematisch.

Wenn sein Abweichen allerdings die Mehrheitsverhältnisse bei der Abstimmung gefährden sollte, kann sich ein Abgeordneter das nicht leisten. Dann herrscht ein unerbittlicher Fraktionszwang. Und bei den Abgeordneten, die einer Regierungskoalition oder einer Regierungsfraktion angehören, ist der Fraktionszwang noch unerbittlicher als bei der Opposition. Schon der reine Selbsterhaltungstrieb gebietet es, dass sich die Mitglieder einer Regierungsfraktion dem Zwang zur einheitlichen Abstimmung ohne Wenn und Aber unterwerfen.

Soweit wir Mitglieder der Regierungsfraktion sind, sind wir im Grunde, was Kontrolle und Gesetzgebung anlangt, nicht mehr in der Rolle des Parlaments nach der klassischen Gewaltenteilungslehre.

Hansjörg Häfele

Mit anderen Worten: Das Parlament verzichtet in seiner Mehrheit freiwillig und ohne wirkliche Not auf seine vornehmste und angeblich wichtigste Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, und überlässt das lieber der Opposition. Doch die ist machtlos und kann eigentlich nur wirkungslos schimpfen. Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne, und die Opposition ist nur ein kleiner Rohrspatz …

Diese Erkenntnis übrigens ist in allen ernst zu nehmenden Analysen des Abstimmungsverhaltens von Abgeordneten seit langem wohl bekannt. So schrieb der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim 1994:

Parlamentsmehrheit und Regierung bilden heute in der Praxis eine parteipolitische Einheit, weil die Wiederwahl der Mitglieder der Mehrheitsfraktion wesentlich vom Erfolg der Regierung abhängt. Dieser parteipolitische Monismus bewirkt, dass regelmäßig nur die Opposition wirklich kontrolliert. Sie ist aber in der Minderheit und kann deshalb keine Sanktionen gegen die Regierung und ihre Mehrheit im Parlament beschließen. Es besteht also die missliche Situation, dass die Mehrheit des Parlaments die Regierung zwar kontrollieren könnte, dies aber nicht will, während die Opposition die Regierung kontrollieren will, dies aber - mangels der Mehrheit im Parlament - nicht wirksam tun kann. Ohne wirkliche Gewaltenteilung hängt die Kontrolle, die auf das Gegeneinander von Parlament und Regierung hin konzipiert ist und deshalb Mehrheitsbeschlüsse des Parlaments verlangt, weitgehend in der Luft.

Hans Herbert von Arnim

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