Volksparteien: Selbsttötung per Fraktionszwang

Seite 3: Fraktionsdisziplin ist kein demokratisches Instrument

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Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist in jeder Legislaturperiode ausgiebig untersucht worden. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie folgen bei praktisch allen Entscheidungen der Fraktionsdisziplin. Ausnahmen gibt es so gut wie keine.

Wie so oft gibt es auch eine Reihe von nachvollziehbaren Argumenten, die für eine Fraktionsdisziplin sprechen. Das soll hier gar nicht en détail diskutiert werden.

Auf jeden Fall ist die Durchsetzung von Fraktionsdisziplin kein ur- und erzdemokratischer Prozess. Die Fraktionsdisziplin allein wäre kein Problem, fügte sie sich nicht in eine Vielzahl von undemokratischen Prozeduren ein, die einander in ihrer Fülle zur Degenerierung der entwickelten Demokratie ergänzen.

Fraktionsdisziplin ist ein hierarchisches Instrument, mit dem Entscheidungen jedenfalls nicht von unten nach oben stattfinden. Die Richtung ist umgekehrt: von oben nach unten. Und wenn Entscheidungen in Parlamenten von oben nach unten stattfinden, dann ist das jedenfalls nicht gerade das Muster gelebter Demokratie.

Tatsächlich treiben die Fraktionsführungen aller Parteien erheblichen Aufwand, um Fraktionsdisziplin zu erzwingen. Es versteht sich von selbst, dass sie von ihren Abgeordneten erwarten, dass sie grundsätzlich so abstimmen, wie sie es ihren Abgeordneten vorgeben. Sie sprechen zwar meist mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass sie das "erwarten". Aber sie meinen, dass sie das "verlangen" und in Zweifelsfall auch "erzwingen".

Einen Einblick darin, wie das praktisch abläuft, hat der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler der Internetplattform abgeordnetenwatch.de gegeben. "Jeder Abgeordnete muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: Sogar das freie Gewissen muss bei der Fraktionsführung angemeldet werden.

Inzwischen behalten sich die Fraktionsführungen im Bundestag sogar die Genehmigung vor, welche Papiere in den Postfächern der Volksvertreter landen. Abgeordnete müssen bis 17.00 Uhr am Vortag ihrer Fraktionsführung schriftlich mitteilen, wenn sie bei Abstimmungen von der Parteilinie abweichen wollen.

Wenn sie "abweichen", droht man ihnen, dass sie ihren Posten in der Fraktion verlieren könnten - spätesten, wenn sie das ein zweites Mal wagen. Noch verbreiteter ist, dass der Landesgruppen-Vorsitzende dem Volksvertreter zuraunt, die Kanzlerin halte doch viel von ihm und würde ihn am liebsten in der ersten Reihe sehen. Dazu müsste er aber "richtig" abstimmen.

Jede Fraktion hat ihren eigenen Stil bei der Durchsetzung des Fraktionszwangs. So gibt es bei der SPD-Fraktion einen "einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten." Die SPD-Fraktion hat also beschlossen, die Unabhängigkeit der Abgeordneten auf dem Wege der Beschlussfassung zu meucheln und dieses im Grundgesetz verankerte Verfassungsrecht außer Kraft zu setzen.

In der CDU werden Abweichler von der Fraktionslinie ganz unverblümt als "EDEKA-Club" bezeichnet. Edeka steht dabei für das "Ende der Karriere", also die Streichung von der Liste zur nächsten Wahl.

Die Fraktionsspitzen aller Parteien können den Fraktionszwang, den sie ausüben, so oft leugnen, wie sie mögen, sie konnten es nicht verhindern, dass "Abweichler" hinterher in den Medien ausgiebig darüber berichteten, wie sie kaltgestellt wurden.4

Im Parlament geht es für den einzelnen Abgeordneten nur noch darum, ebenso wie die Fraktionsspitze abzustimmen, ohne jede Entscheidung noch auf ihre sachliche Richtigkeit und politische Stimmigkeit zu prüfen. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus.

Es gibt in allen Parlamenten eine einzige Konstellation, in der die Parlamentarier den Aufstand wagen und aufhören könnten, alles abzunicken, was ihnen ihre Fraktionsführungen zum Fraß vorwerfen: Wenn Gefahr besteht, dass ihre Regierung die Mehrheit und damit die nächste Wahl verlieren könnte. Das ist das Ende aller Abnicktreue. Dann lassen die Abgeordneten auch ohne zu zögern ihren Kanzler oder ihre Kanzlerin fallen. Schließlich ist es der einzige Sinn und Zweck einer politischen Partei, Wahlen zu gewinnen und Mehrheiten zu sichern. Davon hängt die Zukunft der Partei und auch die Zukunft jedes einzelnen Mandats ab, und das ist noch wichtiger als alle Loyalität.

Im Kinderglauben an das Funktionieren der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus, das seine Abgeordneten in die Parlamente wählt. Und die Parlamente bestimmen die Zusammensetzung der Regierung und kontrollieren deren Tun. In Wahrheit laufen die Entscheidungen in umgekehrter Richtung: Alle Entscheidungsprozesse in Parlamenten finden von oben nach unten statt. Dafür sorgen die Fraktionsspitzen. Die gelebte Demokratie in den Parlamenten ist tot. Sie hat sich selbst gemeuchelt.

Die Parlamentarier haben sich selbst zum Stimmvieh degradiert

Ein System der Willensbildung und Entscheidungsfindung, in dem Parlamentarier sich permanent daran orientieren, wie die Fraktionsspitze oder der "Stimmführer" entscheidet, um sich ebenso zu verhalten, lädt geradezu zum Verzicht auf ein eigenes Urteil ein.

Es führt zur Diffusion von Verantwortung und dazu, dass Abgeordnete sich selbst zum Stimmvieh degradieren. Sie geben sich zufrieden damit, dass sie nichts zu sagen haben. Ihre Interessen liegen ganz woanders: ein kommoder Job, eine komfortable Ausstattung, die Illusion der eigenen Wichtigkeit, ein hohes Ansehen, gute Bezahlung und schöne kostenlose Reisen…

Vollends auf die grundgesetzwidrige Spitze hat es die große Koalition des Jahres 2013 getrieben. Sie hat den Fraktionszwang sogar zum Bestandteil des Koalitionsvertrags gemacht, und das obwohl sie doch sowieso schon eine satte Mehrheit kontrolliert: "Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen."5

Was für ein jämmerliches Schauspiel: Im Koalitionsvertrag lassen die Koalitionäre den Fraktionszwang in aller Form festschreiben, die SPD-Mitglieder über diese Festschreibung auch noch abstimmen und behaupten dann auch noch dreist: Einen Fraktionszwang gibt es bei uns nicht.

Die große Koalition hat ihre Abgeordneten dazu verdonnert, zu jeder Zeit und unter absolut gar allen Umständen in totaler Geschlossenheit abzustimmen - komme, was da wolle. Angesichts der ohnehin schon gewaltigen Mehrheit, die CDU/CSU und SPD in allen Gremien des Parlaments haben, ist das eine Konfiguration, die man nur noch mit dem Einstimmigkeitsgebot kommunistischer Parteien vergleichen kann: demokratischer Stalinismus.

So kommen immer wieder und in wachsender Zahl Entscheidungen zu Stande, bei denen man sich einige Jahre, Monate oder gar Wochen hinterher fragt, ob die Mehrheit im Bundestag denn vom Wahnsinn geritten gewesen sei. Oder noch wesentlich häufiger: Es kommt zu ausgesprochen schlampig und im Eiltempo durchgeboxten Gesetzen, in denen die Details nicht stimmen und die vom Bundesverfassungsgericht bei der nächsten Gelegenheit wieder gekippt werden müssen.

Wenn die Regierung Gesetze durch das Parlament peitscht, müssen die Abgeordneten über Dinge entscheiden, die sie nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, die aber die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnten.

Der Kreis der wahren Entscheidungsträger in den Fraktionen ist sehr klein. Zwar haben die Fraktionen je nach Größe Vorstände von zwischen 5 und 50 Personen. Doch die einzigen Entscheidungsträger in den Fraktionen sind der Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsgeschäftsführer. Es ist eine durch und durch hierarchische Veranstaltung und hat mit demokratischer Willensbildung so gut wie gar nichts zu tun.

Sie bereiten die Sitzungen der Fraktionsvorstände der Sache und den Themen nach vor, sodass sich eine Ausweitung der Meinungsbildung dieses Kreises über den Fraktionsvorstand bis hin zu den Fraktionen ergibt. Die Fraktionsvorstände übernehmen dabei meist die Abschirmung vorbereiteter Entscheidungskonzepte in und gegenüber der Fraktion. Selbst wenn es in den Fraktionsvorständen zu differenten Auffassungen gekommen ist, erfahren die Fraktionsmitglieder davon offiziell keineswegs immer etwas.

Ulrich Lohmar

Martin Hirsch, der mehrere Jahre Mitglied des Fraktionsvorstands der SPD war, betont das Übergewicht des Fraktionsvorsitzenden innerhalb der ohnehin schon oligarchischen Führungsspitze:

Ich würde meinen, der Unterschied zwischen dem Fraktionsvorsitzenden und seinen Stellvertretern ist größer als der zwischen den Stellvertretern und dem Vorstand und viel, viel größer als zwischen dem Vorstand und der Gesamtfaktion.

Martin Hirsch

Und Ulrich Lohmar unterstreicht: "Für diese Einschätzung der Machtverteilung spricht, dass die Amtsdauer der Fraktionsvorsitzenden im Bundestag nie durch einen Beschluss der Fraktion beendet wurde, sondern regelmäßig durch eigenen Entschluss oder durch den Tod begrenzt worden ist."6

Der eigentliche Partner der Bundesregierung auf Seiten des Parlaments ist also der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Bundestag. "Die Abgeordneten sehen sich den hierarchischen Spitzen der Regierung und eigenen Fraktion gegenüber. Sie betrachten, da sie die realen Machtverhältnisse zutreffend einschätzen lernen, ihre Fraktionsführer als ihre eigentlichen Auftraggeber innerhalb des Parlaments."7

Die Fraktionshierarchien verteilen die konkreten Chancen für die einzelnen Abgeordneten, an der Gesetzgebung, der Willensbildung und der Kontrolle der Regierung beteiligt zu werden - soweit diese Aufgaben tatsächlich von den Fraktionen wahrgenommen werden. Die eingrenzenden Wegmarkierungen durch die Nominierung und die Rückkoppelung der Abgeordneten mit der örtlichen beziehungsweise regionalen Parteibasis werden auf diese Weise ergänzt durch den ihnen eingeräumten Spielraum von Seiten der Fraktionshierarchie. Wollen sie die Beschränkung durch die Fraktionshierarchie überwinden, haben sie nur die Möglichkeit, selbst in diese Hierarchie aufzusteigen. Können oder wollen sie das nicht, bleibt ihnen lediglich die fachliche Mitarbeit in den Ausschüssen und die Beteiligung an den Debatten der eigenen Fraktion.

Ulrich Lohmar

Lohmar resümiert:

Die Nichttransparenz der Fraktionen und ihre hierarchische Strukturierung - bei den Regierungsfraktionen noch verstärkt durch die Funktion einer parlamentarischen Schutztruppe für den Bundeskanzler und das Kabinett - engen aufs Ganze der Meinungsbildung im Bundestag gesehen, den tatsächlichen Meinungs- und Entscheidungsspielraum für den einzelnen Abgeordneten beträchtlich ein. Neben den Parteipräsidien und dem Kabinett sind die engeren Fraktionsführungen die dritte oligarchische Spitze im Machtgefüge der Parteien, des Parlaments und der Regierung. Diese Oligarchien sind in begrenztem Maße für Aufsteiger von unten offen, aber durch die kollektive oder individuelle Einwirkung von Seiten der Abgeordneten normalerweise politisch nicht zu steuern.

Ulrich Lohmar

Zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen

Von der naiven Demokratietheorie - alle Macht geht vom Volk aus, das seine Repräsentanten wählt, die wiederum den Volkswillen repräsentieren, die Regierung bestimmen und sie laufend kontrollieren - ist in den real existierenden Demokratien nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Die von einer verschwindend kleinen Minderheit in den politischen Parteien erkorenen Abgeordneten wachsen in eine Oligarchie hinein, die ihnen ihre Entscheidungen vorgibt und abweichendes Verhalten bestraft.

Wollen sie politisch überleben, haben sie nur die Wahl, sich der Oligarchie zu unterwerfen. Von dem Idealbild des souveränen Parlaments mit Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen folgend verantwortungsvoll handeln und freie Entscheidungen treffen, ist die Realität meilenweit entfernt.

Der Bundestag ist längst zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen. Es ist seine Aufgabe, anderswo getroffene Entscheidungen abzunicken, vor allem Regierungsentscheidungen - so wie praktisch alle Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.

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