Vom Wert, Mehrwert, Gebrauchswert – und einem Eimer voller Kohlen

Seite 2: Wert und Gebrauchswert – was ist der Unterschied?

Der Gebrauchswert von Kohle liegt in ihrem Vermögen, bei Verbrennung Wärme zu erzeugen, kurz ihrer Heizenergie. Mein mühsam hochgeschleppter Eimer enthielt davon zirka 50 Kilowattstunden, wovon der Kachelofen vielleicht 70 Prozent nutzen konnte, der Rest ging durch den Schornstein. Als meine Mutter, weil es modern war und Platz schuf, die Kachelöfen abreißen und durch Dauerbrandöfen ersetzen ließ, brauchten wir mehr Kohle, diese Öfen hatten offenbar einen schlechteren Wirkungsgrad.

Hatte die Kohle damit nun auch einen geringeren Gebrauchswert für uns? Und was ist mit den anderen Energieformen, die auch noch in dem Eimer stecken?

Sehen wir einmal von der schwachbrüstigen potenziellen Energie ab und schauen gleich auf die nach E=mc² maximal enthaltene Energie (Stichwort Annihilation): Danach entsprechen zehn Kilogramm Masse knapp 250 Terawattstunden, die Deutschlands Primärenergiebedarf etwa zehn Wochen lang (völlig CO2-frei) decken könnten. Jemand, der diese Energie auch nur teilweise nutzen könnte, zöge doch offensichtlich noch weit mehr Gebrauchswert aus dem gleichen Produkt?

Solche Mehrdeutigkeiten sind es, die den Gebrauchswert einer Ware - wenn er nicht gleich mit dem Arbeits- bzw. Tauschwert verwechselt wird - noch weitaus rätselhafter erscheinen lassen als diese, nicht fassbar oder gar messbar, weil völlig subjektiv.

Bei Marx ist zwar oft vom Gebrauchswert die Rede, doch meint er damit in der Regel keinen "Wert", sondern das Gebrauchsgut als "Ding", also für den Gebrauch hergestelltes Produkt. Interpreten wie Kritiker haben es ihm leider meist nachgemacht, was viel zu der Verwirrniss um den Gebrauchswert beigetragen haben mag. Wenn Marx wirklich den Gebrauchswert meint, spricht er von "Nutzen".

Und wirklich hängt der Nutzen ja wesentlich von den Zielen des Nutzers und seinen Nutzungsmöglichkeiten ab. Die eigentlich naheliegende Schlussfolgerung ist: Der Gebrauchswert ist - ganz wie Wert oder Gewicht - keine Eigenschaft eines Produkts selbst, sondern liegt in der Beziehung von Produkt und Nutzer.

Analog zur Marx‘schen Differenzierung der Arbeit in konkret-lebendige Arbeit (die individuell ein konkretes Produkt schafft) und abstrakt-gesellschaftliche Arbeit (die als durchschnittlich notwendige Arbeit den Warenwert schafft) lässt sich der Gebrauchswert unterteilen in:

  1. Konkreter (individueller) Gebrauchswert, den ein konkretes Produkt für einen konkreten Nutzer hat.
  2. Abstrakter gesellschaftlicher (Durchschnitts-)Gebrauchswert eines allgemeinen Produkts für einen durchschnittlichen Nutzer.

Das berühmte "Wasserglas in der Wüste" gehört eindeutig zur ersten Kategorie. Es ist als Argument gegen Gebrauchswert-Analysen ebenso untauglich wie die aus einem Stück gefeilte Lokomotive als Argument gegen die Marx’sche Werttheorie.

Und um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: (Arbeits-)Wert und Gebrauchswert haben exakt so viel miteinander zu tun wie das Gewicht und die Farbe eines Kohleeimers: Nichts, außer dass sie am selben Ding kleben.

Gebrauchswert ist gewonnene Zeit

Ganz allgemein und in den Kategorien des Alltagsverständnisses gesprochen, ist Wert die in ein Arbeitsprodukt investierte Lebenszeit, Gebrauchswert ist die mit Hilfe eines Produkts gewonnene Lebenszeit. Dabei kann der Gewinn auch in mit Genuss oder Sinn erfüllter Lebenszeit liegen (Lebensqualität). Die Ökonomen mögen’s genauer, deshalb könnte eine Definition für die Sphäre der Produktion so lauten: Der Gebrauchswert eines Produkts ist die Einsparung an Arbeitszeit, die sich durch den Gebrauch dieses Produkts erzielen lässt. In der kapitalistischen Warenproduktion ist es die Einsparung an notwendiger Arbeitszeit.

Dafür ein Beispiel:

Wenn ein Heimwerker sich einen Akkuschrauber anschafft, mit dem er 100 Schrauben in zehn Minuten statt in einer Stunde von Hand einschrauben kann, dann hat er 50 Minuten Lebenszeit gewonnen. Wenn ein selbstständiger Handwerker dasselbe tut, hat er die Wahl: entweder mehr Freizeit oder mehr Geld, wenn er nämlich die 50 Minuten für zusätzliche Arbeit nutzt. Wenn derselbe Handwerker in einem Unternehmen arbeitet, hat er diese Wahl nicht.

Stattdessen wechselt hinter seinem Rücken diese Zeit von seiner notwendigen Arbeitszeit (bezahlt) zur Mehrarbeitszeit (unbezahlt). Der Unternehmer bekommt 50 Minuten "geschenkt" und muss dafür nur den Akkuschrauber bezahlen. Dessen Gebrauchswert liegt, wie der von jedem Produktionsmittel, das die Produktivität erhöht, also in der gewonnenen Arbeitszeit. Gewonnen für den Unternehmer, sie wird damit fast komplett zu mehr Mehrwert. Nur fast, weil die Kosten des Akkuschraubers anteilig davon abgesetzt werden müssen.

Das Wunderbare an der Sache ist, dass der Lohn-Handwerker keinerlei Schaden hat - er bekommt nicht weniger Lohn, muss nicht länger oder schwerer arbeiten, vielleicht sogar leichter. Es geht eigentlich völlig gerecht zu (wie Marx öfter betont), dennoch vermehrt sich wie von Zauberhand der Mehrwert.

Für den Unternehmer haben, neben den Arbeitern selbst, nur die Produktionsmittel Gebrauchswert, nicht aber die Produkte, die er herstellt - die sollen ja nicht gebraucht, sondern verkauft werden.

Gebrauchswert haben sie für die Käufer. Sind diese Unternehmer und sind die Produkte Produktionsmittel (z.B. Akkuschrauber), gehen Kosten und Nutzen in die betriebswirtschaftliche Rechnung mit ein.

Der Großteil des Welthandels vollzieht sich zwischen Unternehmen, da werden vor allem Produktionsmittel, also Maschinen und Anlagen, gehandelt. Deren Gebrauchswerte werden von den Käufern sehr genau kalkuliert, da ist nichts zufällig oder unbestimmt. Lediglich bei Konsumgütern kann der Eindruck entstehen, dass "Gebrauchswert" von Gefühl und Geschmack abhängt.

Obige Unterscheidung von konkretem und abstraktem Gebrauchswert löst auch dieses Rätsel. In unserer Überflussgesellschaft hat es eben oft schon einen gewaltigen individuellen (Gebrauchs-)Wert, sich mit Hilfe von z.B. Markenklamotten in seiner gesellschaftlichen Stellung zu bestätigen, besser noch: die Leiter weiter hinaufzusteigen.

Ein Gewinn an Lebenszeit lässt sich hier zwar nur sehr abstrakt und versteckt finden (und öfters wohl gar nicht), im Beispiel vom Wasserglas in der Wüste jedoch dafür ganz direkt und buchstäblich.

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