Vom Wert, Mehrwert, Gebrauchswert – und einem Eimer voller Kohlen

Seite 3: Und was unterscheidet Wert und Mehrwert?

Einmal im Jahr begeht der "Bund der Steuerzahler" den "Steuerzahlergedenktag". So fragwürdig das Datum selbst ist (2020 war es der 9. Juli), so interessant ist der Anlass: Es ist der Tag im Jahr, bis zu dem (nach Angaben des Vereins) der durchschnittliche Steuerzahler nur für die Steuern und Abgaben gearbeitet hat.

"Ab jetzt arbeiten wir in die eigene Tasche", heißt es an diesem Tag. Wenn das korrekt wäre, würden wir Steuerzahler im Durchschnitt weniger als die Hälfte unseres Einkommens für uns behalten können. Empörend, nicht wahr?

Was uns der Steuerzahlerbund und auch der DGB, der dafür sicherlich zuständiger wäre, nicht mitteilt, ist das Datum des Tages, ab dem die durchschnittlichen Lohnabhängigen in ihre eigene Tasche arbeiten, und nicht in die Tasche des "Arbeitgebers". So ein "Ausbeutungsgedenktag" läge vermutlich deutlich später im Jahr.

Berechnen ließe er sich, indem man die Lohnsummen aller Arbeitskräfte ins Verhältnis zu den von diesen im Jahr geschaffenen Werten setzt (natürlich unter anteiligem Abzug der Fixkosten).

Der Steuerzahlerbund portioniert die Jahresarbeitszeit im Prinzip genauso, wie es Marx mit der Aufteilung in "notwendige Arbeitszeit" und "Mehrarbeitszeit" gemacht hat. In der ersteren erarbeitet die Arbeitskraft ihren eigenen Lohn (v), in der zweiten den Mehrwert (m). Das Verhältnis m/v heißt bei Marx Mehrwertrate und gibt praktisch die Ausbeutungsrate an.

Das Akkuschrauber-Beispiel zeigt, wie der Gebrauchswert eines (produktivitätserhöhenden) Werkzeugs flugs den Mehrwert erhöht, den eine Arbeitskraft schafft - und wie deren eigener Wert (ausgedrückt als der Anteil ihrer Arbeitszeit, in der sie ihren eigenen Lohn erwirtschaftet) dadurch sinkt. Produktivitätssteigerungen durch Automatisierung machen die (verbliebenen) Arbeitskräfte effizienter, wie ein verbesserter Ofen die verheizte Kohle besser ausnutzt. Es geht dann weniger Abwärme durch den Schornstein verloren.

Das Perpetuum mobile der Wertschöpfung

Was beim Ofen die Wärmeverluste, sind beim "Verheizen" der Arbeitskraft im Produktionsprozess deren Lohnkosten, sie sind für den Unternehmer reine Verluste. Jedoch Verluste mit Zauberkraft. Als würden die Wärmeverluste eines Ofens auf wundersame Weise neuen Brennstoff schaffen, dient der Lohn zur Regeneration der Arbeitskraft, die am nächsten Tag mit frischen Kräften bereitsteht, um diesen Kreislauf weiter in Gang zu halten.

Marx nennt die Arbeitskraft eine Ware, "deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit (besitzt), Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit (ist), daher Wertschöpfung". Die Arbeitskraft schafft mehr Wert, als sie selbst "wert ist", also Wert verbraucht. Die Physik nennt so ein seltsames Ding (das mehr Energie erzeugt als verbraucht) Perpetuum mobile. In Bezug auf die Größe "Wert" sind Lohnarbeitskräfte perfekte Perpetuum mobiles. Man kann sogar den Wirkungsgrad angeben, er ist (m + v)/v = m/v + 1, liegt also immer über 100%.

Selbst aus physikalischer Sicht scheinen alle Lebewesen, also auch der Mensch, so etwas wie Perpetuum mobiles zu sein. Allerdings nicht in punkto Energiebilanz, sondern in Bezug auf eine andere physikalische Größe: Entropie. Entropie ist (vereinfacht) ein Maß der Unordnung. Die wird in der Regel (in geschlossenen Systemen) nur größer, niemals kleiner. Jedoch sind alle Lebewesen in der Lage, ihre eigene Entropie zu verringern. Wachstum und Selbstorganisation sind nichts anderes als Erhöhung der Strukturiertheit, der Ordnung, also Verringerung der Entropie.

Eigentlich verstößt dies gegen den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, wonach in geschlossenen Systemen die Entropie nur anwachsen kann. Da Leben nachweislich existiert, wurde spekuliert, dass der 2. Hauptsatz für lebende Materie nicht gilt – und diese somit außerhalb der Physik steht.

Die Lösung des Rätsels: Lebewesen sind offene Systeme. Was sie "im Innern" notwendigerweise an Entropie erzeugen, transportieren sie mittels Energieeinsatz (Sonnenenergie, Nahrung) nach außen. Auf sehr einfacher Stufe tut eine Wärmepumpe das auch. Im übergeordneten System stimmt wieder alles, die Entropie bleibt gleich oder steigt sogar.

Der Mensch, als wohl einziges Lebewesen, hat über die Selbstorganisation hinaus die Potenz, mittels seiner Arbeitskraft seine Umwelt frei (d.h. jenseits instinkt-programmiertem Verhalten wie Nestbau) und nach beliebig wechselnden Bedürfnissen zu gestalten. Er kann Werkzeuge herstellen, Felder bewirtschaften und Städte bauen, also die Entropie seiner Umwelt lokal verringern. Er wirkt damit als "Entropiepumpe", da Entropie wie gesagt nicht verringert, sondern höchstens verschoben, von einem Teilsystem in ein anderes Teilsystem exportiert werden kann.

Die Kehrseite unserer entropiearmen, wohlgeordneten und glitzernden technischen Errungenschaften sind deshalb Müllhalden und Umweltverschmutzung.

Als Arbeitskraft im kapitalistischen Betrieb erzeugt der Mensch aus Rohmaterial Gebrauchsgüter, verringert so die Entropie und schöpft gleichzeitig Wert und Mehrwert, erschöpft sich aber dabei selbst, was seine eigene Entropie erhöht. "Verlorene Arbeitsfähigkeit" ist eine von vielen Interpretationsmöglichkeiten der Entropie, die hier gut ins Bild passt. Millionen von Arbeitenden tragen täglich Entropie aus den Werkhallen der Entrepreneurs, wie Ameisen den Abfall aus dem Bau tragen. Draußen, nach Feierabend dürfen sie sich erholen, essen, schlafen, also ihre Arbeitsfähigkeit wieder reproduzieren. Ohne diesen ständigen Entropie-Export gibt es keine Warenproduktion, keine Ausbeutung und keinen Mehrwert.

Alltägliches und ökonomisches Wertverständnis

Der alltägliche Gebrauch des Wörtchens Wert unterscheidet sich gar nicht so stark von der Definition in der Marx’schen Werttheorie: Beide bringen den Begriff in Zusammenhang mit dem Aufwand zur (Wieder-)Beschaffung eines Produkts, der sich letztendlich in (Arbeits-)Zeit ausdrücken lässt.

Der im anfangs gewählten Beispiel in den vierten Stock geschleppte Kohleeimer ist gefühlt wertvoller als der gleiche Eimer im Kohlenkeller. Gemäß der Werttheorie ist er das jedoch nicht, denn dort zählt nur der im Prozess der Warenproduktion eingebrachte Arbeitsaufwand als wertbildend, nicht jedoch Privatarbeit für die private Konsumtion (und, je nach Interpretation, auch kein Transportaufwand).

Wertkritiker wie Robert Kurz und Ernst Lohoff gehen noch weiter und beschlagnahmen quasi Begriffe wie Wert und Arbeit allein für die kapitalistische Warengesellschaft, reduzieren sie auf ihre negativen, zu überwindenden Aspekte. Gegen diese "Enteignung" des Alltagsverständnisses hat beispielsweise Annette Schlemm ausführlich aus sprachphilosophischer Sicht argumentiert.

Beides, sowohl die Vermischung als auch die rigorose Trennung der Sphären, in der solche Begriffe gelten sollen, ist fatal. Intuitiv wehrt sich der "gesunde Menschenverstand" gegen die Behauptung, ein "selbstgeschnitzter Holzlöffel" (ein Beispiel von Forist OberstMeyer) habe keinen Wert.

Vielleicht steckt in dem Teil außer Arbeitszeit sogar Kunstverstand, der Löffel wird von Familie und Freunden bewundert, vielleicht als Geschenk geschätzt - und der soll keinen Wert haben?

Und wenn er eines Tages bei ebay auf den Markt geworfen und dort (für einen Preis, der sich an den Angeboten der Konkurrenz einpegelt) auch verkauft wird, dann bekommt er plötzlich doch einen Wert eingehaucht, wie Adam von Gott der Odem des Lebens eingehaucht wurde? Vielleicht von ebay-CEO Jamie Iannone persönlich?

Dass die Wissenschaft ihre Begriffe schärfer fassen muss als die Alltagssprache, ist unbedingt notwendig. Doch wenn sie dabei die Alltagsbedeutung solcher Begriffe ausschließt, schließt sie sich in den sprichwörtlichen Elfenbeinturm ein und muss sich über Unverständnis nicht wundern. (Dieter Wolf kritisiert ja sogar Marx dafür, dass er versuchte, sich verständlich - nämlich mit Hilfe von Metaphern - auszudrücken.) Und auch für Fachleute ist das kontraproduktiv, denn in den meisten Köpfen spukt ja meist doch noch etwas vom Alltagsgebrauch des Begriffes herum.

Was hälfe, wäre eine konsequente begriffliche Abgrenzung, beispielsweise "Warenwert" für die Verwendung in der politischen Ökonomie (von Marx auch vielfach so benutzt), "Wert" für den alltäglichen Gebrauch. Dann darf der Warenwert eine Spezialform des Wertes sein, nämlich für den Spezialfall kapitalistischer Warenproduktion. Und ebenso kann die Marx’sche Werttheorie vielleicht einmal ein wichtiger Teil einer noch zu entwickelnden verallgemeinerten Werttheorie sein, welche alle Produktionsverhältnisse und auch das anschauliche Alltagsverständnis des Wertbegriffs mit einschließt.

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